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Prof. Dr. Reinhard Kahle 15. Februar 2022

Künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit

In der Informatik ist die Künstliche Intelligenz (KI) zu einem Maßstab der Dinge geworden. Machine Learning, Big Data, Deep Learning sind nur einige Schlagwörter für eine Technologie, die den Anschein erwecken könnte, sämtliche Probleme dieser Welt zu lösen. Gleichzeitig ist der Welt klar geworden, dass es Umweltprobleme gibt, die man nicht länger auf die lange Bank schieben kann. Vom Müllnotstand über Artensterben bis zum Klimawandel stehen wir vor Herausforderungen, die zu einem Umdenken führen müssen. Nachhaltigkeit ist dabei eine Maxime, die eine Lösung in Aussicht stellt.

In dieser Situation ist es naheliegend, KI zur Förderung von Nachhaltigkeit einzusetzen. Aber man kann den Spieß auch umdrehen und fragen, ob KI, wie sie zurzeit implementiert wird, den Anforderungen von Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Ressourcenanforderungen gerecht wird. Schließlich stellt sich noch allgemeiner die Frage, ob KI nachhaltig in dem Sinne ist, dass ihre augenblicklichen Leitmotive für die Zukunft gültig bleiben sollten.

Wenn man KI und Nachhaltigkeit in Beziehung setzt, lassen sich also drei Fragestellungen unterscheiden: Die erste ist die, welche Form von Anwendungen die KI erlaubt, mit denen sich Nachhaltigkeit im Umgang mit den Ressourcen unserer Welt unterstützen lässt. Man wird allerdings auch nicht umhinkommen, umgekehrt zu fragen, ob KI, wenn sie mit großem Rechenaufwand betrieben wird, dem Ziel der Nachhaltigkeit nicht selbst zuwiderläuft. Und schließlich kann man den Begriff der Nachhaltigkeit noch in seinem allgemeinen Sinne auffassen und vom Bezug auf unsere Umwelt lösen. Dann läuft die Frage, ob KI nachhaltig sei, darauf hinaus, zu überprüfen, ob diese Technologie eventuell nur eine Mode ist und ob sie in einer langfristigen ("nachhaltigen") Perspektive ihre Wirkungskraft zu verlieren droht.

Der KI-Begriff, den wir hier zugrunde legen, konzentriert sich auf die moderne, statistik-basierte Künstliche Intelligenz. Tatsächlich hat die KI eine lange Geschichte hinter sich, die zu Beginn aber nicht gerade von Erfolg gekrönt war. Als in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die technische Realisierung von Computern in Gang kam, waren sofort die gewaltigen Rechenleistungen absehbar, die diese Technologie langfristig erbringen kann. Damit keimte die Idee auf, dass der Computer auch in der Lage sein könnte, das menschliche Denken zu simulieren und es aufgrund der Rechenleistung sogar in wichtigen Bereichen überbieten könnte. Die in der Anfangszeit entwickelten Formen symbolischer KI, wie sie z. B. in Expertensystemen implementiert wurden, stießen schnell an ihre Grenzen. Das menschliche Expertenwissen erwies sich als viel zu komplex, um durch logische Regeln, die sich in diesen Expertensystemen ausdrücken ließen, erfasst zu werden. Zudem zeigten formale Ergebnisse der Komplexitätstheorie, dass regelbasierte Systeme bei vielen Anwendungen keine "schnellen Resultate" zu liefern in der Lage sind. Damals wurden aber auch schon neuronale Netze betrachtet, die von der Idee geleitet sind, die neuronale Arbeitsweise des menschlichen Gehirns nachzubilden. Als diese Netze noch in ihren Kinderschuhen steckten, waren ihre Anwendungen sehr beschränkt. Diese Situation hat sich inzwischen drastisch geändert und die Möglichkeit, neuronale Netze in einer ganz anderen Größenordnung implementieren zu können, hat zum Siegeszug der "neuen KI" geführt. Große Datenmengen ("Big Data") lassen sich heute in einer Weise verarbeiten, die zu ungeahnten Erfolgen, z. B. in der Bilderkennung, geführt haben. In vielen Bereichen, wie zum Beispiel der Medizin, sind Anwendungen möglich geworden, die ohne Zweifel zum Wohl der Menschheit beitragen. Das Potential dieser neuen KI ist noch lange nicht ausgeschöpft, und das selbstfahrende Auto ist ein in greifbare Nähe gerücktes Ziel, dessen Programmierung eben erst durch KI möglich wird.

Anwendungen der KI zur Unterstützung von Nachhaltigkeit

Für die Anwendung der KI im Bereich der Nachhaltigkeit wollen wir kurz drei Beispiele vorstellen.

Das Unternehmen everwave [1] aus Aachen sammelt mit eigenen Cleanup-Technologien Plastikmüll aus Flüssen, bevor er ins Meer gelangt. Neben dem wichtigen Schutz von Ökosystem und Meereslebewesen vor den weitreichenden Folgen der Plastikverschmutzung wird dadurch auch die Rückführung des Plastikmülls in Recyclingprozesse und eine Kreislaufwirtschaft gefördert. Über Kameras und Sensoren an Müllsammelboot, Brücken oder via Drohnen wird Bild- und Videomaterial des Plastikmülls im Flusswasser aufgenommen. Dieses werden dann mittels KI-Methoden ausgewertet, die vom Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Oldenburg entwickelt wurden. Durch den Einsatz der KI werden so Informationen über die Art, Menge und Zusammensetzung des Plastikmülls gewonnen. In dieser Initiative kann von der Leistungsfähigkeit der KI in der Bildanalyse Gebrauch gemacht werden, um den Müll in einer Form zu klassifizieren, die von Menschenhand praktisch nicht möglich ist. Hier liegt auch ein geradezu idealtypisches Szenarium für die KI vor: Bilddaten, große Datenmengen, Klassifikationsaufgabe, geringes Risiko bei Fehlklassifikationen und keine Theorieabhängigkeit.

Einer anderen Situation steht man bei dem groß angelegten Nachhaltigkeitsvorhaben Bauhütte 4.0 gegenüber [2]. In diesem Projekt wird ein neues Wohnquartier in Berlin mit dem Ziel geplant, konsequent auf den nachwachsenden Rohstoff Holz zu setzen und vom Bau bis zur Nutzung eine möglichst neutrale Klimabilanz, vor allem bezüglich des CO2-Ausstoßes, zu erzielen. Dabei kann die architektonische Umsetzung unter dem Aspekt der Ressourcenschonung und Umweltbilanz zwar noch mit klassischen Algorithmen gelöst werden, das Potential der KI ist aber in zwei Bereichen gefragt. Einerseits würde eine "digitalisierte Stadt" ermöglichen, Entscheidungen über Abriss und Neubau oder spezifische Renovierung, auch im Kontext der umstehenden Gebäude, unter optimalen Nachhaltigkeitskriterien zu fällen. Hier besteht tatsächlich noch die Herausforderung, die digitalen Daten zu erheben und mit passender KI aufzubereiten. Andererseits würde die optimale Holzbeschaffung von einer "Digitalisierung des Waldes" profitieren. Würden für jeden einzelnen Baum nicht nur die Informationen zu Größe, Qualität, u. ä. zur Verfügung stehen, sondern auch sein Verhältnis zum umstehenden Baumbestand, könnte man durch "zielgenaues" Fällen dem Ziel der Nachhaltigkeit am besten gerecht werden.

Ist es realistisch anzunehmen, dass wir den Wald mit jedem seiner Bäume digitalisieren können? Ja!

Das österreichische Start-Up Beetle ForTech entwickelt seit zwei Jahren ein globales Netzwerk zur digitalen Rückverfolgung von Rundholz [3]. Der Name leitet sich von "Beetle Forest Technology" ab und macht als Zielvision des Unternehmens innovative Nutzungsweisen aktueller digitaler Möglichkeiten für den Lebens- und Wirtschaftsraum Wald deutlich: Die Nutzung cyber-physischer Technologien nicht für die Fabrik, sondern für unsere Umwelt. Eine regenerative Forstwirtschaft, die Gesundheit der Wälder, Biodiversität, aber auch die wirtschaftliche Nutzung des Rohstoffes Holz stehen im Zentrum. Das beinhaltet auch den Missbrauch: Holz ist einer der am meisten illegal gehandelten Rohstoffe global. Interpol schätzt, dass jeder dritte Baum aus illegalen Quellen stammt. Gleichzeitig regeln internationale Holzhandelsverordnungen den Handel sehr genau, deren Durchsetzung aufgrund komplexer Marktstrukturen und teils fehlender Digitalisierung schwer umsetzbar ist. Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich das Start-up, um diesem Problem durch den Einsatz moderner Technologie und gesamtheitlichem Denken, sowohl von einer regulatorischen, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Richtung zu begegnen.

Bei der Digitalisierung des Waldes geht es tatsächlich um den einzelnen Baum: Durch ein völlig neuartiges Markierungsverfahren werden geerntete Baumstämme am Fällort mit einer ortstreuen und unwiederbringlichen Markierung versehen. Anschließend überträgt das intelligente Handgerät diese stammspezifischen Informationen an ein Blockchain-System. Die geernteten Holzstämme beginnen ihre Reise durch komplexe Strukturen innerhalb der Lieferkette, um schlussendlich in einer Holzverarbeitungsanlage (z. B. einem Sägewerk) veredelt zu werden. Dort erkennt ein KI-gestütztes System (Maschinelles Lernen mit Supervised-Learning-Verfahren) alle geernteten Baumstämme und schließt den Informationskreislauf bis zum genauen Wuchsort.

Damit die zum Einsatz kommende KI mit ausreichender Genauigkeit arbeitet, muss diese für die jeweilige Einsatzregion mit Informationen der regional vorherrschenden Holzarten trainiert werden. Für den asiatischen Raum muss die eingesetzte KI also mit anderen Daten trainiert werden, als für den mitteleuropäischen oder den nordamerikanischen Raum. Eine große Herausforderung, wenn man bedenkt, dass mehr als 50 gängig gehandelte Holzarten im Verkehr sind und es nur wenig brauchbare Daten für das Training der KI gibt. In den drei genannten Weltregionen hat Beetle ForTech bereits aktuelle Prototypen im Einsatz. Die Anpassung der KI auf eine weitere Region würde nach Auskunft des Unternehmens in einigen Monaten realisiert werden können.

Doch das "Beetle-Universum" ist noch größer angelegt: Um weltweit Wälder und Holzernten, aber auch illegale Aktivitäten überwachen zu können, werden Satellitenbilder mit den stammspezifischen Daten der Markierungsgeräte abgeglichen. Durch die Kombination von Satellitenaufnahmen und "Ground Truth" entsteht eine einzigartige Präzision im Datensatz. Auch in diesem Bereich kommen KI-Ansätze zur Analyse der Satellitenbilder zum Einsatz. Das satellitengestützte Waldüberwachungssystem nutzt die Daten von Sentinel-1, Sentinel-2 und anderen Datenanbietern, um laufende Aktivitäten in Wäldern zu überwachen und festzustellen, ob diese legitim sind oder nicht. Ereignisse wie Stamm-Entnahme, Biomasse-Entnahme und Aufwuchs können so an definierten Waldstandorten überwacht werden, um Informationen über die Herkunft, den rechtlichen Status und die Menge des Holzes zu erheben. Neben der automatisierten Informationsaufbereitung für Entscheidungsträger wird auch eine nachhaltige Waldbewirtschaftung abgesichert.

Für diesen innovativen Brückenschlag zwischen bodennahen Daten aus den Wäldern und Satellitenaufnahmen hat Beetle ForTech letztes Jahr (2021) zwei wichtige Auszeichnungen gewonnen: Den Copernicus-Masters-Preis des europäischen Erdbeobachtungsprogramms und den Galileo-Masters-Preis des europäischen Navigationssatelliten- und Zeitgebungssystems. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Kontext von Geodaten ist noch ein sehr neues Feld. Beetle ForTech kann hier durch die neuartige Kombination von Geodaten, Sensordaten, den mehrfachen Einsatz von KI in Form von neuronalen Netzen und Maschinellem Lernen sowie Cloud- und Blockchain-Technologie Maßstäbe setzten. Das Ziel ist der Aufbau eines digitalen Zwillings von einzelnen Waldgebieten, wie man es sonst aus der Industrie 4.0 kennt. Dafür werden mit dem Sensorgerät am Boden Daten für jeden einzelnen geernteten Baum gesammelt, die dann verschlüsselt und in ein Cloud-System hochgeladen werden. Ein digitaler Zwilling von Waldgebieten eröffnet viele neue Optionen zur Förderung einer weltweiten regenerativen Forstwirtschaft sowie zur Stärkung von Biodiversität und Klimaanpassungsstrategien.

Diese Beispiele illustrieren das Potential der KI, das für den gesamten Bereich der herausfordernden Kreislaufwirtschaft besteht – einer nachhaltigen Wirtschaftsform, bei der unsere wirtschaftlichen Abläufe auf eine neue ressourcenneutrale Basis zu stellen sind.

Die ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Balance von digitalen Tools und Infrastrukturen ist entscheidend.

Von der Technischen Universität München wurden für die digitale Kreislaufwirtschaft konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet, deren Stichpunkte wir hier wiedergeben wollen [4,5]:

  1. Als Grundlage und Voraussetzung für eine nachhaltige Anwendung von KI-Tools benötigt Deutschland zunächst eine mächtige digitale Infrastruktur und Digitalisierung, die stärker ausgebaut und gefördert werden muss, besonders im öffentlichen Sektor und in der mittelständischen Industrie.
  2. Neben konkreten Technologien und Infrastrukturen muss die Bedeutung von Standards und Normen berücksichtigt werden.
  3. Vor neuen kostspieligen Investitionen sollten die bereits existierenden digitalen Tools darauf getestet werden, wie weit sie bereits Ressourcenmanagement in der Kreislaufwirtschaft unterstützen und verbessern können.
  4. Kosten und Nutzen in Unternehmen und öffentlicher Verwaltung sollten klar und deutlich genannt werden.
  5. Multilateraler Datenaustausch entlang den Versorgungs- und Lieferungsketten und den Lebenszyklen von Produkten ist notwendig.
  6. Neben etablierten IT-Tools sollten neue vielversprechende Technologien wie KI und Blockchain angewendet, getestet und entwickelt werden.
  7. Eine Schlüsselforderung ist die Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle, die auf digitaler zirkulärer Ökonomie beruhen.
  8. Die ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Balance von digitalen Tools und Infrastrukturen, d. h. ihre ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Gesamtbilanz in der Kreislaufwirtschaft ist entscheidend.

Auch wenn die KI hier nur im ersten und siebten Punkt explizit genannt wird, ist sie tatsächlich in allen genannten Bereichen entweder implizit ein Gegenstand der Diskussion oder kann in der ein oder anderen Form zum Einsatz gebracht werden.

Die Nachhaltigkeitsbilanz der KI selbst

Die eigene Nachhaltigkeitsbilanz der KI in Bezug auf Umweltressourcen lässt sich nur schwer bemessen. Natürlich gäbe es schon keinen Wald mehr, wenn alle Daten, die irgendwo im Internet gespeichert sind, auf Papier notiert worden wären. Doch der immense Energieverbrauch der Serverfarmen der Internetkonzerne lässt die Frage zu, ob digitale Datenverarbeitung – gerade, wenn es um "Big Data" geht – unter Nachhaltigkeitsaspekten unbesehen toleriert werden darf. Die Sensibilität für dieses Thema ist geweckt und es gilt, dies im Auge zu behalten. Ein warnendes Beispiel, bei dem eine neuartige Form von "Digitalgläubigkeit" fatale Folgen nach sich zieht, ist die Anwendung der Blockchain-Technologie für Kryptowährungen. Hier werden sichere Transaktionen durch digitale Protokolle abgesichert, die keiner staatlichen Stelle zur "Notarisierung" bedürfen.

Das zum Beispiel für die Produktion von Bitcoins angewendete Verfahren "Proof of Work Chains" ist äußerst energieintensiv. Das Lösen von kryptographischen Problemen, um mit diesem Verfahren einen Block zu schürfen, ist eine künstlich erschwerte und sehr ressourcenraubende Methode. Der Preis ist absurd: die Sicherheit wird durch "Rechenaufwand" gewonnen, der durch an und für sich völlig nutzlose Rechnungen entsteht, die exorbitante Energie- und Computer-Ressourcen verschlingen. "Proof of Work Chains" sollten deshalb nur in seltensten Fällen eingesetzt werden und sich auf keinen Fall als Standardverfahren etablieren.

Damit darf man natürlich noch nicht Blockchain-Technologie als solches verteufeln – es gibt durchaus sinnvolle Anwendungen dieser Technologie, die nicht unmittelbar zur Ressourcenverschwendung führen: Das Prinzip "Proof of Stake" in der Blockchain-Technologie ist per Design sehr performant und die Durchlauf- und Schürfzeiten sind um ein Vielfaches geringer als die von Bitcoin oder Ethereum. Dieses Verfahren wird zum Beispiel von Beetle ForTech in dem oben beschriebenen Kontext eingesetzt, um baumstammspezifische Informationen in einem transparenten Verfahren zu sichern. Auch diese Methode hat einen ökologischen Fußabdruck, aber es ist eben sehr wohl möglich, bei der Technologiewahl darauf zu achten, diesen so gering wie möglich zu halten.

Man sollte gewarnt sein, Hypetechnologien nicht blind zu vertrauen, sondern tiefer in die Materie einzusteigen, um sinnvolle von nutzlosen oder sehr schädigenden Anwendungsfällen unterscheiden zu können.

Und das gilt auch für die KI als solche. Sie ist nicht intrinsisch mit Ressourcenverschwendung verbunden, doch es wäre eine Illusion zu glauben, dass sich beliebige Datenmengen automatisch umweltneutral verarbeiten ließen [7].

Nachhaltigkeit der KI im weiten Sinne

Historisch kam der Begriff der Nachhaltigkeit im Mittelalter auf, als sich die Forstwirtschaft bewusst wurde, dass man nur so viel Holz schlagen darf, dass auch nachfolgende Generationen immer wieder genug Bäume vorfinden – eine Einsicht, die nicht nur in den antiken Kulturen rund um das Mittelmeer sträflich missachtet wurde, sondern deren Nichtbeachtung wohl auch zur Degeneration der auf die Osterinseln verschlagenen Bevölkerung geführt hatte. Die Bedeutung von Nachhaltigkeit ist in dieser Hinsicht auch nicht auf Ressourcenschonung beschränkt, sondern beinhaltet eine allgemeine Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen. Dann kann man auch fragen, ob wir mit der KI "immer so weitermachen" dürfen, ohne spätere Generationen in der ein oder anderen Form zu konditionieren. Die Frage "Wann übernehmen die Maschinen?" ist vielleicht zu provokant gestellt [8]. Aber ist die KI überhaupt die "informationstechnologische Wunderwaffe" der Zukunft, die die ganze Informatik beherrschen sollte? Hier sind durchaus skeptische Überlegungen angebracht.

Zum ersten kann eine KI-Monokultur in der Informatik nicht intendiert sein. Das ist schon alleine dem Umstand geschuldet, dass die der KI zugrundeliegende Software selber in C++ (oder anderen "konventionellen" Programmiersprachen) programmiert wird. Und auch ein C++-Compiler wird sich ganz bestimmt nicht mit Hilfe von statistischer KI implementieren lassen.

Die Grenzen der KI werden aber auch zunehmend in spezifischen Anwendungsfeldern deutlich [9]. Ein Beispiel bietet die Übersetzung von fremdsprachlichen Texten: Ein Feld, in dem die neue KI hervorragende Ergebnisse vorzuweisen hat. Die moderne Technologie versagt aber, wenn es stattdessen um Sprachen geht, für die nur sehr wenig Text- bzw. Sprachmaterial vorliegt – wie bei gefährdeten Sprachen, die nur noch von sehr wenigen Menschen gesprochen wird oder auch toten Sprachen, bei denen wir auf spärliche archäologische Funde angewiesen sind. Auch scheinen diskrete Fragestellungen, bei denen es um exakte zahlentheoretische Unterscheidungen geht, der inhärent mit stetigen Funktionen arbeitenden KI unzugänglich [10]. Das betrifft z. B. das ganze Gebiet moderner Kryptographie.

Nun muss sich die KI in ihrer Bedeutung nicht dadurch geschmälert fühlen, dass es noch andere Informatikzweige neben ihr gibt. Aber es gibt auch Gründe innerhalb der neuen KI, die die Frage aufwerfen, ob diese Technologie nicht doch schon an ihre Grenzen stößt.

Ein intrinsisches Problem ist die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse einer KI-Software. Das Blackbox-Verfahren von KI bringt begrifflich zum Ausdruck, dass die Entscheidungsabläufe innerhalb eines neuronalen Netzes nicht transparent nachvollziehbar sind. Das liegt gerade an dem Umstand, der die KI so stark macht: die Möglichkeit, gigantische Datenmengen mit höchster Geschwindigkeit zu verarbeiten. Dabei muss jeder Versuch einer konkreten Nachverfolgung der Datenflüsse scheitern. Dieses Problem ist erkannt und es gibt Ansätze, um Rückschlüsse auf eine konkrete Arbeitsweise der KI zu gewinnen, die Gegenstand der Explainable AI (abgekürzt XAI) [11] sind. Die Einschätzung, in welchem Maße diese Ansätze es mittelfristig erlauben werden, die Black Box "zu öffnen", ist wohl mehr eine Sache von Optimismus oder Pessimismus (s. Abb. 3). Das Problem hat aber Verwandtschaft mit einem zweiten. Können wir der KI spezifische Verhaltensweise fest vorgeben, also sie so "verdrahten", dass sie das Richtige lernt und auch nicht wieder "verlernt". Denn solange das Verhalten von KI nur durch Testdaten erlernt wird, und wir nicht einmal wissen, wie das Gelernte intern in dem neuronalen Netz gespeichert ist, kann man nicht ausschließen, dass zusätzliche Lernschritte eine KI hinter einen bereits erreichten Stand wieder zurückwerfen – wenn nicht sogar etwas ganz anderes gelernt wurde, als man der KI eigentlich beibringen wollte. Eine bekannte Illustration ist eine "Kamelerkennung" durch KI, die in Wirklichkeit den – bei Kamelen statistisch tatsächlich in der Regel vorliegenden – Wüstenhintergrund erkennt, statt das Kamel selbst. Diese Problematik wird besonders im Hinblick auf die Gefahren diskriminierender Entscheidungen von KI-Software breit diskutiert. Doch eine allgemein akzeptierte Lösung ist noch nicht in Sicht. So unbedenklich die KI-Datenverarbeitung im Fall von Holzqualitäten zu sein scheint, so problematisch ist sie bei personenbezogenen Daten. Ob hier ein reiner Zweckoptimismus, der eine Lösung der Diskriminierungsproblematik in der weiteren Entwicklung sieht, nachhaltig ist, darf bezweifelt werden.

Schließlich bleibt die Frage, wer die Nachhaltigkeit von KI prüft. Eine KI, die in der Informatik nachhaltig wirken soll, muss nicht zuletzt daran gemessen werden, inwieweit der Mensch in der Lage ist, sowohl die "richtigen Daten" zu liefern als auch die Ergebnisse "richtig zu verstehen". Diese Aufgaben werden uns nicht von der KI abgenommen werden. 

Quellen
  1. Everwave: Innovation: Daten und Künstliche Intelligenz
  2. Bauhütte 4.0: Sustainably Building with Wood
  3. Beetle forTech: Beetle Forest Technology
  4. TUM Senior Excellence Faculty (Hrsg.), TUM Forum Sustainability: Circular Economy, TUM (Technische Universität München) University Press: München 2021.
  5. K. Mainzer: Künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit
  6. Blockgeeks
  7. Informatik Aktuell – A. Guldner, E. Kern, S. Kreten & S. Naumann: Software und Nachhaltigkeit – Wie passt das zusammen?
  8. K. Mainzer: Künstliche Intelligenz - Wann übernehmen die Maschinen?
  9. K. Mainzer und R. Kahle: Grenzen der KI – theoretisch, praktisch, ethisch. Springer 2022.
  10. R. Kahle: Primzahlen als Herausforderung
  11. Xu F., Uszkoreit H., Du Y., Fan W., Zhao D., Zhu J. (2019) Explainable AI: A Brief Survey on History, Research Areas, Approaches and Challenges. In: Tang J., Kan MY., Zhao D., Li S., Zan H. (eds) Natural Language Processing and Chinese Computing. NLPCC 2019. Lecture Notes in Computer Science, vol 11839. Springer, Cham.

Autor

Prof. Dr. Reinhard Kahle

Prof. Dr. Reinhard Kahle ist Leiter des Carl Friedrich von Weizsäcker-Zentrums an der Universität Tübingen.
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