Über unsMediaKontaktImpressum
Prof. Dr. Regula Hänggli & Prof. Dr. Dirk Helbing 30. Oktober 2018

Digitale Revolution und Ökonomie 4.0: Quo Vadis?

Aktuell leben wir in einer Gesellschaft, die auf der Kombination zweier erfolgreicher Systeme aufbaut: Kapitalismus und Demokratie. Der Kapitalismus versucht, den Profit zu maximieren, während die Demokratie pluralistische Ziele wie den Schutz der Menschenwürde, Lebensqualität, Mitbestimmung, Freiheit und Chancengleichheit anstrebt. Da die Ziele dieser beiden Systeme nicht aufeinander abgestimmt sind, besteht die Gefahr, dass ein System früher oder später das andere zerstören wird. Dank ihrer dezentralen Organisation und aus weiteren Gründen nutzt die Wirtschaft die Chancen technologischer Veränderungen jedoch schneller als die Politik.

Die technologische Veränderung hat dazu geführt, dass die Digitalisierung sich in immer mehr Lebensbereiche einmischt, die bisher anderen Zielen als der Gewinnmaximierung verpflichtet waren – etwa Gesundheitswesen, Bildung, Recht und Gesellschaft. Immer mehr gilt das Prinzip "Code ist Gesetz", d. h. Algorithmen bestimmen mehr, was möglich ist und was nicht, und gestalten so unsere gesellschaftliche Wirklichkeit an den demokratischen Institutionen wie Parlament, Rechtspflege und Bürgern vorbei. Die gesellschaftlichen Wirkungen der neuen digitalen Geschäftsmodelle sind dabei oft nicht im Einklang mit demokratischen Zielen, d. h. sie sind eine akute Gefahr für die Demokratie [1]. Überdies gibt es viele Probleme, die mit Geschäftsmodellen nicht adäquat zu lösen sind. So bleiben viele soziale und Umweltprobleme ungelöst und werden zu einer politisch-gesellschaftlichen Zeitbombe.

Die folgenden Beispiele illustrieren diesen potentiellen Interessenkonflikt: Wir wissen nicht genau, wie der Suchalgorithmus bei Google wirkt. Bis auf ein paar wählbare Optionen gibt es kein Mitspracherecht beim Algorithmus oder eine Art von journalistischem Kodex bei der Informationsweitergabe. Es gibt auch keinen Presserat oder eine Ombudsstelle, die wir aufsuchen könnten, falls wir Probleme adressieren wollen. Auch bei Videoplattformen wie Youtube, die für die Informationsgewinnung bei deutschen und schweizer Jugendlichen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, ist das so. Hier bestimmen Popularitätsmechanismen statt Qualitätsmechanismen die Verbreitung von Informationen.

Auf die Selbstkontrolle des Marktes kann man sich also keineswegs verlassen. Die Netzwerkeffekte der Plattformökonomie haben vielfach zu Monopolbildungen geführt. Unternehmen wie Apple, Google, Facebook, Amazon, Microsoft und IBM kaufen zahlreiche innovative Unternehmen auf, oftmals um sich mögliche Konkurrenz vom Hals zu halten. So sind WhatsApp und Instagram beispielsweise Teil des Facebook-Imperiums, während Google in den letzten 10 Jahren mehr als 120 Übernahmen getätigt hat [2].

Maßnahmen sind daher dringend erforderlich. Wir plädieren hier für einen demokratischen Kapitalismus. Das bedeutet, dass wir den Kapitalismus demokratisch upgraden müssen. Um das zu erreichen, brauchen wir u.a. Informationsplattformen und Technologien, die unsere gesellschaftlichen, kulturellen und ökologischen Werte respektieren, schützen, umsetzen und stärken. Dieser Ansatz wird "Design for values" genannt [3]. Das IEEE, der grösste internationale Verband von Ingenieuren, arbeitet bereits an Standards für ethisch ausgerichtetes Design. Das Entwerfen nach Werten verlangt von uns, dass die in der Verfassung und in den Menschenrechten verankerten Grundrechte in unsere Technologien eingebaut werden. Dazu gehören die Menschenwürde, Rechtsgleichheit, Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben, Recht auf Leben und persönliche Freiheit, Selbstbestimmung, Schutz der Privatsphäre (im Sinne des Schutzes vor Missbrauch und Entblössung eines Rechts, in Ruhe gelassen zu werden), Minderheitenschutz, Meinungs- und Informationsfreiheit, Pluralismus, Gewaltenteilung, Kontrolle, Checks and Balances, Beteiligungsmöglichkeiten, Transparenz, Fairness, Gerechtigkeit, Legitimität und gleiches Stimmrecht bzw. Mitbestimmungsrecht.  

Jeder von uns sollte eine Mailbox für die persönlichen Daten haben.

Zweitens brauchen wir informationelle Selbstbestimmung. Jeder von uns sollte eine Mailbox für die persönlichen Daten haben. Dorthin müssten alle Daten gesandt werden, die über uns anfallen. Die Mailbox würde dazu dienen, (mit-)zubestimmen, was mit unseren Daten passiert: wer auf welche Daten für welche Verwendungszwecke, Zeitperiode und Bezahlung zugreifen darf. Ein KI-basierter digitaler Assistent könnte uns helfen, unsere Daten nach unseren Präferenzen bequem zu verwalten. Die Verwendung personenbezogener Daten – auch Statistiken – die für Wissenschaft und Politik erstellt werden, müsste transparent an die Datenmailbox gemeldet werden. Mit diesem Ansatz wären alle personalisierten Produkte und Dienstleistungen möglich, aber Unternehmen müssten im voraus fragen und das Vertrauen der Menschen gewinnen. Dieser Vertrauenswettbewerb würde schliesslich eine vertrauensbasierte digitale Gesellschaft schaffen. Das grundlegende Ziel einer solchen Mailbox wäre, dass das Individuum die ihm mit der Menschenwürde zustehenden Hoheit über die eigenen Daten zurückerhält. Das Recht auf "own your own data" ist auch im new deal on data (WEF) festgehalten [4]. Es ist auch für die Wirtschaft von zentraler Bedeutung. KMUs, Spinoffs und Forschungseinrichtungen erhielten Zugang zu Big Data. Damit entstünde ein level playing field und die Chance für kombinatorische Innovation wäre eröffnet – aus unserer Sicht die einzige Möglichkeit für Europa, im digitalen Bereich mit den USA und China aufzuschließen und ein "digitales Ökosystem" aufzubauen.

Insbesondere geht es darum, gesellschaftliche Resilienz zu erhöhen.

Drittens muss bei Infrastruktur und Daten für Gewaltenteilung und Partizipation gesorgt werden. Das betrifft unter anderem digitale Infrastrukturen und wichtige Plattformen, etwa Glasfaserkabel, Energie- und Transportsysteme. Hier geht es nicht nur darum, die kritischen Infrastrukturen und Services gegen Störungen, Sabotage, Fehler und Manipulation abzusichern, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Versorgung selbst in schwierigen Zeiten demokratischen Prinzipen genügt. Insbesondere geht es darum, die gesellschaftliche Resilienz zu erhöhen. Wir sind heutzutage abhängig von einer guten Netzinfrastruktur und einem jederzeit funktionsfähigen, sicheren Internet. Die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern stellt ein Klumpenrisiko dar. Bei Daten und Algorithmen gilt es, Prinzipien wie "Open Source" und "Open Data" zu fördern. Gegebenenfalls könnte man an eine Öffnung nach einer 24-monatigen kommerziellen Periode denken. Der Prioritätsschutz würde also wie bei Patenten nach einer gewissen Zeit erlöschen. Dies würde Transparenz und kombinatorische Innovation, also die wirtschaftliche Entwicklung fördern. Öffentliche Förderung verdienen auch moderne Ansätze wie "Open Innovation" (die Öffnung des Innovationsprozesses von Organisationen für externes und internes Wissen zur Vergrösserung des Innovationspotenzials), "Living Labs" (wo potenzielle NutzerInnen möglichst früh in den Entwicklungsprozess von neuen mobilen Anwendungen und Produkten bspw. Apps eingebunden werden) und "FabLabs" (offene Entwicklungswerkstätten, wo Interessierte Zugang zu High-Tech-Werkzeugen wie 3D-Druckern, Lasercuttern, CNC-Fräsen, Mikrocontrollern, CAD-Software, aber auch Handwerkzeug und Holzbearbeitungsmaschinen und fast allen anderen Tools, die man zum Erfinden braucht, finden). Etwas Ähnliches gibt es beispielsweise in Amsterdam mit "De Waag" [5], in Fribourg mit der Bluefactory [6], in Lausanne mit der Octanis-Initiative [7], oder in Genf mit "Open Geneva" [8].

Der vierte Lösungsansatz betrifft das Geld- und Finanzsystem. Es sollte zu einem Geld- und Finanzsystem 4.0 – einem sozio-ökologischen Koordinationssystem – weiterentwickelt werden. Dabei soll Geld bottum-up erzeugt und Externalitäten wie Lärm, CO2, Abfallstoffe usw., aber auch soziale Kooperation, umweltfreundliches Verhalten und Recycling lokal und partizipativ bewertet werden. Mit einem multi-dimensionalen Geld- und Finanzsystem lassen sich in einem komplexen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem differenzierte Anreize setzen und die Steuerungs- und Selbstorganisationsfähigkeit erhöhen. Erwartungsgemäß ist ein solches multidimensionales Anreiz- und Koordinationssystem dem aktuellen Finanzsystem überlegen. Das Geld- und Finanzsystem 4.0 könnte man so gestalten, dass automatisch Steuern abgeführt und Innovationen gefördert werden, indem Geld umgehend dort hinfließt, wo es gute Ideen, Initiativen und Projekte gibt. Mit dem Internet der Dinge und der Blockchain- Technologie lassen sich geeignete Plattformen und Rahmenbedingungen schaffen, um ein solches sozio-ökologisches Finanzsystem zu schaffen und Innovationen zu steigern, die Lösungen zu den Zukunftsproblemen liefern. Man könnte dabei auch eine Investitionsprämie realisieren [9]. Das ist Geld, das jede(r) für Crowdfunding bekäme. Jede(r) könnte also wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Projekte fördern, die überzeugen.

Im digitalen Zeitalter ist auf die Chancengleichheit hinzuwirken!

Angesichts wachsender Ungleichheit und des "digitalen Grabens" ("digital Divides") ist im digitalen Zeitalter auch auf die Chancengleichheit hinzuwirken. Möglichst viele Bürgerinnen und Bürger sollten von den Chancen der Digitalisierung fair profitieren. Angesichts dessen, dass digitale Möglichkeiten und Ressourcen im Unterschied zu materiellen Ressourcen nicht grundsätzlich beschränkt sind, ist die Gelegenheit für eine breite Prosperität tatsächlich gegeben und besser denn je. In diesem Zusammenhang wird sicher auch die Idee eines Grundeinkommens erneut zu diskutieren sein. Diese Idee könnte existenzielle Ängste beseitigen und damit die Grundlage für die anstehende digitale und Nachhaltigkeits-Transformation unserer Gesellschaft legen. Vor uns liegt der grösste Strukturwandel aller Zeiten!

Um dafür alle Kräfte der Gesellschaft zu mobilisieren, könnte man regelmäßig Städteolympiaden durchführen [10]. Diese freundschaftlichen Wettbewerbe, die sich über mehrere Monate erstrecken, würden dazu dienen, unter Beteiligung aller Stakeholders und der Zivilgesellschaft neue Lösungen für Probleme wie Klimawandel, Energieeffizienz, Nachhaltigkeit, Resilienz und Frieden zu finden. Diese steuerfinanzierten Lösungen wären dann "Open Source" und "Creative Commons" – sie würden also allen gehören. Jede Stadt könnte dann die Lösung umsetzen, die zu ihrem Budget, ihrer Strategie und ihrem kulturellen Umfeld passt. Städte und Unternehmen könnten die Lösungen überdies miteinander kombinieren und weiterentwickeln. So würden Städtenetzwerke zur dritten Säule globaler Problemlösung, neben Nationalstaaten (und UNO) einerseits und globalen Unternehmen andererseits. Mit anderen Worten, Städte würden zu Innovationsmotoren, die mit digitalen Mitteln auch das Potenzial der Zivilgesellschaft zur vollen Entfaltung bringen. 

Quellen
  1. D. Helbing: Facebook & Co.: How to Stop Surveillance Capitalism, The Globalist
  2. T. M. Lenton, B. Latour: Gaia 2.0, Science
  3. S. Johnston: Largest companies 2008 vs. 2018, a lot has changed, Milford
    D. Helbing; 2016: How to make democracy work in the digital age. Working paper. ETH Zurich.
  4. World Economic Forum: The Global Information Technology Report 2008-2009
  5. Waag
  6. Bluefactory
  7. Octanis-Initiative
  8. Open Geneva
  9. S. Berg, D. Helbing: Nerds retten die Welt, Republik
  10. CSH-ETH Workshop: 1st City Olympics

Autorin und Autor

Prof. Dr. Regula Hänggli

Regula Hänggli ist Professorin an der Universität Fribourg (Schweiz). Sie beschäftigt sich mit öffentlichen Debatten, Meinungsbildungsprozessen, Digitalisierung oder Mediatisierung als Herausforderungen der westlichen Demokratien.…
>> Weiterlesen

Prof. Dr. Dirk Helbing

Dirk Helbing ist Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Mitglied des Informatikdepartments der ETH Zürich.
>> Weiterlesen
Das könnte Sie auch interessieren
Kommentare (0)

Neuen Kommentar schreiben