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Prof. Dr. Stefan Wengler, Prof. Dr. Ulrich Vossebein & Gabriele Hildmann 28. Mai 2019

Digitale Transformation im Mittelstand – Den richtigen Einstieg finden

Die Verunsicherung durch die Digitale Transformation ist im Mittelstand sowohl auf der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite groß, denn jeder weiß, dass sich unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aufgrund der unzähligen Fortschritte in den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) aktuell einem tiefgreifenden Wandel unterzieht.

Wie in unserem ersten Artikel zur Digitalen Transformation im Mittelstand bereits deutlich gemacht wurde, stellen Veränderungen an sich kein Problem dar. Vielmehr ist es die diffuse Skizzierung der Zukunft, wie das (Wirtschafts-)Leben in den kommenden 10 bis 15 Jahren aussehen könnte, die für Unruhe in den Unternehmen sorgt: Auch wenn Wirtschaftsvertreter in den Medien immer wieder von einem "goldenen digitalen Zeitalter" sprechen, so stellen sich doch viele Betroffene die Frage, wie sich diese Entwicklung auf die Zukunft der Unternehmen sowie ihre Arbeitsplätze auswirken wird.

Ob es letztlich zu einer massiven Entlassungswelle aufgrund der Digitalen Transformation bzw. der zunehmenden Nutzung Künstlicher Intelligenz kommen wird, muss sich erst noch zeigen. Bislang zumindest setzt sich der Eindruck durch, dass die Digitalisierung mehr Jobs geschaffen hat, als dass traditionelle Arbeitsplätze weggefallen sind.

Betrachtet man rückblickend die mehr als 40 Jahre, die die fortschreitende Digitalisierung nun bereits Zeit hatte, sich ihren Weg in die Unternehmen zu bahnen, so überrascht doch, dass sich die Unternehmen mit der Digitalen Transformation so schwer tun – und es ihnen vor allem an tragfähigen Ansätzen fehlt, um ihr Geschäftsmodell zukunftsfähig aufzustellen. In zahllosen Konferenzen, Symposien und Verbandstreffen werden immer wieder angeblich erfolgreiche Beispiele (meist auch immer nur die gleichen drei bis fünf Beispiele) aus der Praxis präsentiert, ohne dass letztlich deutlich wird, welche Faktoren maßgeblich für eine erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierungsstrategie waren. Auch wenn Fallstudien immer wieder gerne genutzt werden, um Ansätze und Entwicklungen zu verdeutlichen, so fällt es doch sehr schwer, aus einzelnen Fallstudien generalisierbare Aussagen abzuleiten.

Die Implementierung von Insellösungen verkennt den Kerngedanken der IKT – nämlich die Vernetzung.

Entsprechend verwundert es nicht, dass kaum ein Unternehmen einen ganzheitlichen Ansatz zur Digitalen Transformation verfolgt. Stattdessen werden punktuell Projekte aufgesetzt, Prozesse digitalisiert und Mitarbeiter geschult. Diese Projekte verursachen sehr hohe Kosten, führen aber meist nur zu sehr geringen Produktivitätssteigerungen. Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte die Wissenschaft auf dieses Phänomen hingewiesen – und noch heute wird in den meisten Unternehmen überwiegend ergebnislos nach den erwarteten Produktivitätssteigerungen gesucht. Dass diese Potenziale nicht gehoben werden, liegt in erster Linie daran, dass die Implementierung von INsellösungen den Kerngedanken der IKT verkennt – nämlich die Vernetzung. Produktivitätssteigerungen lassen sich nur generieren, wenn Systeme miteinander intelligent verbunden und Prozesse bzw. Analysen automatisiert durchgeführt werden können. Der dazu notwendige Aufwand im Vorfeld ist enorm und die Ressourcen der Unternehmen, insbesondere des Mittelstands, sind recht begrenzt. Es gibt aber keinen standardisierten Einstieg in die Digitale Transformation in Business-to-Business-Märkten, da verschiedene Geschäftsmodelle ganz unterschiedliche Vorgehensweisen erforderlich machen. Empirische Studien haben gezeigt, dass eine erste Klassifizierung anhand des Geschäftstyps erfolgen sollte, um schnell und effizient Anfangserfolge erzielen zu können. Nachfolgend wird die Idee der Geschäftstypen von den Autoren aufgegriffen und dargestellt, welche Auswirkungen der Geschäftstyp auf die richtige Digitalisierungsstrategie hat, wobei die Vertriebsprozesse im Fokus stehen.

Der Geschäftstypen-Ansatz und die Digitale Transformation

In der deutschen Betriebswirtschaftslehre haben Ansätze zur Beschreibung von Geschäftstypen eine lange Tradition: Um die Komplexität auf Business-to-Business-Märkten zu reduzieren und den Unternehmen relativ eindeutige Empfehlungen insbesondere für die Ausgestaltung ihrer Marketing- und Vertriebsprozesse zu geben, haben Wissenschaftler wie Engelhardt, Backhaus, Plinke, Kleinaltenkamp und viele weitere entsprechende Geschäftstypen-Ansätze entwickelt. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Forschungsrichtung ist Backhaus, der gemeinsam mit Mitarbeitern seinen Ansatz aus der Transaktionskostentheorie abgeleitet hat. Er unterscheidet – basierend auf der Höhe der für eine Transaktion spezifischen, d. h. für andere Transaktionen nicht weiter verwendbare, Investitionen – drei Geschäftstypen:

  • Produktgeschäft: Ein Produktgeschäft liegt vor, wenn eine Transaktion ohne spezifische Investitionen der beiden Transaktionsparteien erfolgt.
  • Projektgeschäft: Das Projektgeschäft wird als Transaktion definiert, in der spezifische Investitionen getätigt werden, diese sich aber innerhalb einer einzigen Transaktion amortisieren müssen.
  • Beziehungsgeschäft: Im Beziehungsgeschäft erfolgen auch spezifische Investitionen, wobei die Amortisation der Investitionen über mehrere Transaktionen geplant ist.

Eine der wichtigsten Aussagen dieses Geschäftstypen-Ansatzes ist es, dass je nach Geschäftstyp die Vertriebsprozesse inhaltlich anders gestaltet werden müssen, wobei eine einheitliche Grundstruktur beobachtet werden kann. Im weiteren Verlauf des Artikels werden folgende fünf Vertriebsprozessschritte unterschieden:

  • Markt- und Kundenanalyse
  • Auswahl von Zielkunden & Kundengewinnung (Lead Generation)
  • Verhandlungsvorbereitung & Verhandlungsphase
  • Transaktionsabwicklung
  • After-Sales

Ausgehend von der Richtigkeit der Annahme, dass die drei Geschäftstypen jeweils unterschiedlich gestaltete Vertriebsprozesse benötigen und damit auch die Digitale Transformation je nach Geschäftstyp anders umgesetzt werden muss, wurde eine wissenschaftliche Untersuchung aufgesetzt, um tiefere Einblicke in den Status-Quo der Digitalisierung des Vertriebs im deutschen Mittelstand zu erhalten.

Studie zum Status-Quo der Digitalen Transformation im Vertrieb

Im Rahmen der Studie 2017/18 wurden 30 deutsche mittelständische Unternehmen mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von über € 270 Mio. und ca. 1.400 Mitarbeiter aus diversen Branchen mit einer Wertschöpfungstiefe von um die 60 Prozent befragt (vgl. auch unseren 1. Artikel vom 09. April 2019). Die drei zentralen Forschungsfragen lauteten:

  • Wie stark beeinflusst der Geschäftstyp die Struktur des Vertriebsprozesses und damit die auszuwählenden Tools zur weiteren Digitalen Transformation?
  • Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich auf der operativen Ebene in den verschiedenen Vertriebsphasen, die die weitere Digitale Transformation behindern?
  • Wie wird von unterschiedlichen Hierarchiestufen die Digitale Transformation wahrgenommen? Welche Chancen und Risiken ergeben sich aus den unterschiedlichen Perspektiven?

Während bereits im ersten Artikel näher auf die Wahrnehmung der Digitalen Transformation aus Sicht der unterschiedlichen Hierarchiestufen eingegangen worden ist, soll im Folgenden der Einfluss des Geschäftstyps auf die Struktur des Vertriebsprozesses und damit auf die Digitale Transformation untersucht werden. Dazu wurden in persönlichen Einzelgesprächen insgesamt 90 Personen bzw. 3 Personen in jedem Unternehmen befragt. Darunter waren jeweils ein Mitglied der Geschäftsführung, ein Vertriebsleiter sowie ein Vertriebsaußendienstmitarbeiter. Die Gespräche dauerten zwischen 60 und 180 Minuten.

Zentrale Ergebnisse der Studie

In der Untersuchung hinsichtlich des Einflusses des Geschäftstyps auf die Digitale Transformation wurden die Beteiligten folgendes gefragt:

  • In welchem Geschäftstyp befinden Sie sich?
  • Welche Relevanz hat welcher Vertriebsprozessschritt in diesem Geschäftstyp?
  • Wie hoch ist das maximale Digitalisierungspotenzial des jeweiligen Prozessschritts?
  • Wie hoch ist der aktuelle Digitalisierungsgrad in diesem Prozessschritt?

Auch wenn viele Befragte noch nicht mit dem Konzept des Geschäftstyps vertraut waren, so fiel den Teilnehmern die Beantwortung der Fragen relativ leicht, nachdem man ihnen die Idee der Geschäftstypologie kurz erläutert hatte.

Die Frage nach der Relevanz der einzelnen Vertriebsprozesse bezogen auf den jeweiligen Geschäftstyp findet sich bislang nicht in der wissenschaftlichen Literatur, ist aber aus Sicht der Geschäftsführung eines Unternehmens äußerst wichtig: Aufgrund eingeschränkter personeller und finanzieller Ressourcen muss es eine Logik hinter der Priorisierung von Projekten zur Digitalen Transformation geben. Dies kann nur aus Sicht der Bedeutung der einzelnen Prozessschritte für eine erfolgreiche Durchführung des Wertschöpfungsprozesses abgeleitet werden. Interessanterweise ergeben sich je nach Geschäftstyp unterschiedliche Schwerpunktsetzungen (s. graue Balken in Abb. 1):

  • Im Produktgeschäft nehmen insbesondere die Markt- und Kundenanalyse (20 Prozent) sowie die Auswahl von Zielkunden und die Kundengewinnung (30 Prozent) mit insgesamt 50 Prozent eine sehr hohe Bedeutung ein. Dies liegt vor allem an recht komplexen Marktstrukturen, da eine sehr große Zahl von potenziellen Kunden meist über ein zwei- oder dreistufiges Vertriebssystem bedient werden. Hingegen nehmen die Verhandlungsvorbereitung & Verhandlungsphase (10 Prozent) sowie die Transaktionsabwicklung (20 Prozent) im Produktgeschäft insgesamt eine geringere Bedeutung ein. Angesichts der zunehmenden Abwicklung von Transaktionen über so genannte Webshops sowie die Versendung der Ware aus zentralen Lagerbeständen erscheinen Verhandlungen kaum noch existent und Produkte bereits vorproduziert worden zu sein. Die gesamte Thematik des After-Sales (20 Prozent) wiederum erfährt die gleiche Bedeutung wie die Markt- und Kundenanalyse, da der Aufwand für eine flexible und schnelle Bereitstellung von Ersatzteilen und/oder von Reparatur-Services von den Kunden außerordentlich geschätzt werden.
  • Die Situation stellt sich ganz anders im Projektgeschäft dar: Die Markt- und Kundenanalyse (5 Prozent) ist ein kontinuierlicher Screening-Prozess, der zwar notwendig, aber aus Sicht der Befragten nicht entscheidend ist. Ähnliches gilt für die Auswahl von Zielkunden & Kundengewinnung (10 Prozent). Hingegen nehmen die Verhandlungsvorbereitung & die Verhandlungsphase (30 Prozent) sowie die Transaktionsabwicklung (40 Prozent) eine herausragende Bedeutung in diesem Geschäftsprozess ein. After-Sales ist auch in diesem Geschäftstyp wichtig, da die Nutzungsdauer vieler Produkte des Projektgeschäfts teilweise 20 oder mehr Jahre aufweisen. Die Ersatzteile entsprechend vorzuhalten, stellt für viele Unternehmen des Projektgeschäfts eine erhebliche Herausforderung dar.
  • Eine ähnlich geringe Bedeutung wie im Projektgeschäft kommt der Markt- und Kundenanalyse (5 Prozent) und der Auswahl von Zielkunden & Kundengewinnung (5 Prozent) auch im Beziehungsgeschäft zu. Ein Teilnehmer der Studie antwortete verständnislos auf die Frage nach der Bedeutung der beiden ersten Vertriebsprozessschritte: "We got them all!", was so viel heißen sollte wie: Es gibt weltweit keinen Kunden in dieser Branche, der nicht mit unserem Unternehmen Geschäfte macht. Aufgrund der direkten Kundenbeziehungen sowie der meist überschaubaren Anzahl an Unternehmen liegt der Vertriebsfokus daher eher auf der Verhandlungsvorbereitung & der Verhandlungsphase (35 Prozent). In vielen Fällen wird noch vor Abschluss eines Vertrages kundenindividuell entwickelt, es werden notwendige Produktanpassungen durchgeführt – und nur dann, wenn der Preis passt, erfolgt auch der Zuschlag. Durch die mittlerweile enge Taktung der Produktionen zwischen OEM und seinen Zulieferunternehmen wird die Transaktionsabwicklung mit 50 Prozent als wichtigster Prozess angesehen. Als Stichworte seien in diesem Zusammenhang Just-in-Time- und Just-in-Sequence-Liefervereinbarungen genannt. Hingegen spielt After-Sales im Gesamtkontext nur eine geringe Rolle (5 Prozent), auch wenn beim Thema Ersatzteilgeschäft mittlerweile eine Lieferfähigkeit von bis zu 15 Jahren nach Produktionsende erwartet wird.

Nach der grundlegenden Einschätzung der Unternehmen, welchem Vertriebsprozess in welchem Geschäftstyp welche Bedeutung zur erfolgreichen Umsetzung des gesamten Vertriebsprozesses zukommt, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, wie viele der in einem Vertriebsprozess durchzuführenden Aktivitäten tatsächlich auch digitalisiert (im Sinne einer Automatisierung) werden können. Auch in diesem Fall ergeben sich je Geschäftstyp und Prozessschritt unterschiedliche Aussagen (s. blaue Balken in Abb. 1):

  • Im Produktgeschäft schwanken die Digitalisierungspotenziale der Vertriebsprozessschritte zwischen 40 und 90 Prozent (vom jeweiligen Einzelprozess). Während in Webshops Verhandlungsprozesse mehr oder weniger vollautomatisiert abgewickelt werden können (90 Prozent oder mehr digitalisiert), bedarf die Transaktionsabwicklung nach wie vor vieler manueller Lager- und Logistikprozesse (um die 40 Prozent digitalisierbar). Hingegen bewegen sich die Potenziale für die übrigen drei Prozessschritte um die 60 bis 70 Prozent.
  • Die Digitalisierungspotenziale im Projektgeschäft schwanken aus Sicht der Teilnehmer der Studie nur zwischen 35 und 60 Prozent. Aufgrund der hohen Individualisierung sowie der Einmaligkeit der Leistungserstellung fällt es ihnen schwer, sich ein noch höheres Digitalisierungspotenzial vorstellen zu können. Während in den ersten drei Prozessschritten nach wie vor der Mensch dominiert, können in der Transaktionsabwicklung sowie im After-Sales-Prozess sehr viel eher standardisiert – und damit auch automatisiert – werden.
  • Das Beziehungsgeschäft weist mit Digitalisierungspotenzialen zwischen 20 und 85 Prozent die größte Bandbreite auf: Während die Markt- und Kundenanalyse, die Verhandlungsvorbereitung & -phase sowie die Transaktionsabwicklung nach wie vor einen sehr hohen manuellen Aufwand aufweisen, können Kundenanalysen aufgrund der langjährigen Geschäftsbeziehungen sowie die After-Sales-Abwicklung mittels EDI-verknüpfter Systeme mehr oder weniger vollautomatisiert durchgeführt werden.

Die spannende Frage ist natürlich, wie es um den aktuellen Digitalisierungsgrad in den unterschiedlichen Prozessen steht (s. grüne Balken in Abb. 1). Eine Betrachtung der Ergebnisse über alle drei Geschäftstypen hinweg macht deutlich, dass nach Auskunft der Befragten in den meisten Fällen der aktuelle Digitalisierungsgrad unter 50 Prozent liegt. Lediglich in einigen wenigen Prozessen wie z. B. im Beziehungsgeschäft in der Verhandlungsvorbereitungs- und Verhandlungsphase, der Transaktionsabwicklung oder im After-Sales sowie im Produktgeschäft in der Transaktionsabwicklung kommen wir auf Werte über 50 Prozent. Diese Werte überraschen keineswegs, da im Beziehungsgeschäft mittlerweile unternehmensübergreifend eine immer höhere Prozesstransparenz (u. a. Angebote, Lieferstatus etc.) von den OEM gefordert wird. Aus Sicht der Unternehmen im Produktgeschäft macht es wiederum Sinn, die internen Logistikprozesse im Rahmen der Transaktionsabwicklung zu monitoren und kontinuierlich zu verbessern.

Jeder Geschäftstyp benötigt sein eigenes Geschäftsprozess-Template – und evtl. sogar spezielle IT-Programme.

Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen eindrücklich die Bedeutung des Geschäftstyps und die Notwendigkeit, je nach Geschäftstyp auch die Vertriebsprozesse unterschiedlich auszugestalten – und zu digitalisieren. Was nun klar und einleuchtend aus wissenschaftlicher Sicht ist, stellt sich in der Unternehmenspraxis jedoch vollkommen anders dar: Während der Befragung wurde deutlich, dass die meisten Unternehmen nicht nur in einem, sondern in zwei oder teilweise sogar in allen drei Geschäftstypen parallel unterwegs sind. Dies führte zu so interessanten Aussagen wie: "Den Vertriebsprozessschritt Transaktionsabwicklung haben wir zwischen 20-80 Prozent digitalisiert." Auf die Rückfrage, wie dies sein könne, wurde unter dem Hinweis, dass alle das Produktgeschäft betreffenden Transaktionen, auf die das CRM-System angepasst wurde, zu 80 Prozent automatisiert abgewickelt werden können; alle das Projektgeschäft betreffenden Transaktionen müssten seit Einführung des CRM-Systems nun wieder mit Handzetteln dokumentiert und anschließend in das System eingepflegt werden.

Dass der Ansatz standardisierter IT-Systeme somit nur auf einen kleinen Teil der Unternehmen passen kann, zeigt die nachfolgende Auswertung der Daten: Nur 20 Prozent der befragten Unternehmen sind in lediglich einem einzigen Geschäftstyp aktiv. Bei 47 Prozent der Unternehmen wurden zwei Geschäftstypen parallel bedient. In allen drei Geschäftstypen waren 33 Prozent der Unternehmen tätig. Angesichts der Vielfalt der Geschäftstypen kann ein standardisiertes Softwareprogramm nicht ansatzweise helfen, die Prozesse sinnvoll zu verknüpfen und die Prozessschritte automatisiert durchzuführen. Ganz im Gegenteil: Jeder Geschäftstyp benötigt im Grunde sein eigenes Geschäftsprozess-Template – und evtl. sogar spezielle IT-Programme. In der Nachbesprechung der Studienergebnisse mit den Unternehmen bestätigten sich diese Ergebnisse, da die IT-Leiter genau mit dieser Problematik zu kämpfen haben. Schließlich müssen nicht nur die Prozesse der Geschäftstypen relativ unterschiedlich ausgestaltet werden. Selbst innerhalb eines jeden Geschäftstyps gibt es noch 5-10 Varianten, um den Bedürfnissen der Kundensegmente auch adäquat nachkommen zu können.

Diese Komplexitätssteigerung führt zu geradezu absurden Entwicklungen: In einigen Unternehmen hat die Konzernleitung beschlossen, dass es nur ein einziges Standard-IT-System geben soll, um die Kosten für die IT-Infrastruktur unter Kontrolle halten zu können. Dass Kennzahlen und Prozesse damit nur einen Teil der Geschäftstätigkeit korrekt abbilden, wird einfach ausgeblendet. Stattdessen wird bereits darüber nachgedacht, ob die übrigen Geschäftseinheiten, die der Logik eines anderen Geschäftstypen folgen, zukünftig nicht sogar abgespaltet werden sollen, da diese nicht IT-kompatibel sind. Dies ist eine Entwicklung, der entschieden entgegengetreten werden muss: Trotz aller (zukünftiger) Bedeutung von IT-Systemen kann und darf die IT-Infrastruktur nicht die Geschäftsmodell-Logik eines Unternehmens aushebeln.

Das Thema Prozesse & Prozesshoheit muss stärker in das Bewusstsein des Managements und der Mitarbeiter gerückt werden.

Stattdessen muss der Ansatz ein anderer sein: Das Thema "Prozesse" und "Prozesshoheit" muss in der Diskussion um die Digitale Transformation wieder sehr viel stärker in das Bewusstsein des Managements und der Mitarbeiter gerückt werden. Auch wenn bei der Identifikation von Barrieren (s. unseren ersten Artikel) lediglich die Vertriebsleiter auf unzureichende Prozessdefinitionen hingewiesen haben, so scheint dies in vielen Unternehmen nach wie vor eine große Herausforderung darzustellen. Ohne eindeutig definierte Prozesse kann die Digitale Transformation nicht erfolgen, da die IT nur das abbilden kann, was vorher festgelegt wurde. Die Hoheit über die Gestaltung von Geschäftsprozessen kann einzig und allein bei den spezifischen Abteilungen und nie bei der IT-Abteilung liegen. Dass sich in den vergangenen Jahrzehnten durchaus die unterschiedlichen Abteilungen aufgrund ihres mangelnden Interesses an der Digitalen Transformation z. T. die Prozesshoheit durch die IT haben streitig machen lassen, muss anerkannt werden. Die Ergebnisse sind hinreichend bekannt: Wenn überhaupt sind die Abteilungsleiter und ihre Mitarbeiter bei der überwiegenden Zahl von IT-Projekten erst nach umfangreichen (kosten- und zeitintensiven) Nacharbeiten wirklich zufrieden. Andererseits haben sie aber auch zu Beginn kaum etwas für ein besseres Ergebnis getan, sondern sich voll und ganz auf den Key-User-Ansatz verlassen.

Dass die entwickelten IT-Systeme anschließend von kaum einem akzeptiert werden, darf nicht weiter verwundern.

Der Key-User-Ansatz ist vom Grundgedanken her sehr überzeugend: Es wird ein Mitarbeiter ausgewählt, der die IT-Abteilung bzw. den IT-Dienstleister bei der Prozessdefinition unterstützt. Fragt man die Unternehmen, wer sich am besten als Key-User eignen würde, gibt es eine eindeutige Antwort: Key-User kann nur der erfahrenste Mitarbeiter einer Abteilung sein. Die Realität sieht meist anders aus: Der erfahrenste Mitarbeiter hat meist keine Lust, sich in solche Projekte einzubringen und seine Zeit zu "vergeuden". Stattdessen werden junge, dynamisch und vor allem IT-affine Mitarbeiter ausgewählt, die jedoch die Prozesslandschaft nur zu 60-70 Prozent kennen. In der Diskussion mit dem IT-Dienstleister wird dieser Mitarbeiter dann noch gebeten, die ihm bekannten Prozesse weiter zu vereinfachen, so dass er selbst auch nur 60-70 Prozent seines Wissens in die neue Prozesslandschaft einfließen lässt. Dass die entwickelten IT-Systeme anschließend von kaum jemandem akzeptiert werden (können), darf nicht weiter verwundern. Abgesehen davon muss zudem stark bezweifelt werden, dass in einem solchen Szenario die Prozesslandschaft des neuen IT-Systems, die ausschließlich auf bestehenden und bekannten Prozessen aufbaut, auch nur ansatzweise zukunftsfähig ausgestaltet sein wird. Stattdessen müssen die meisten Prozesse nämlich neu gedacht werden, um das Unternehmen effizienter und effektiver aufzustellen!

Handlungsempfehlungen

Angesichts dieser vielen Erkenntnisse lassen sich einige Handlungsempfehlungen ableiten, um Unternehmen einen erfolgreichen Einstieg in die Digitale Transformation zu ermöglichen:

  1. Der Geschäftstyp setzt den Rahmen:
    Wie die Untersuchung eindeutig gezeigt hat, ist es beim Einstieg in die Digitale Transformation von grundsätzlicher Bedeutung, sich seines Geschäftstyps bzw. seiner Geschäftstypen bewusst zu sein. Nur dann kann eine sinnvolle Transformation angegangen werden, da deren Rahmenbedingungen eindeutig definiert sind.
  2. Die drei Ebenen der Digitalisierung:
    Die Digitale Transformation ist eine Herkulesaufgabe, die jedes Unternehmen in kleinere Teilprojekte aufspalten sollte: In einem ersten Schritt sollte jede Abteilung für sich digitalisieren (erste Ebene) und in einem zweiten Schritt sollten sich die Abteilungen übergreifend vernetzen (zweite Ebene). Erst dann ist das Unternehmen bereit, in einem dritten und letzten Schritt eine unternehmensübergreifende Vernetzung mit Lieferanten, Partnern und Kunden zu vollziehen (dritte Ebene). Auch wenn in den meisten Unternehmen bereits auf allen drei Ebenen angesetzt worden ist, so sollte diese Reihenfolge bei der Priorisierung zukünftiger Projekte auf jeden Fall Berücksichtigung finden.
  3. Die Digitale Transformation ist kein Projekt, sondern ein Dauerzustand:
    Die Unternehmen müssen sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass die Digitale Transformation kein Projekt ist, sondern sich sehr viel mehr zu einem Dauerzustand entwickeln wird. Bislang haben Geschäftsführungen und Abteilungsleiter bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der Digitalisierung versucht, die Störungen des eigenen Geschäftsprozesses möglichst gering zu halten. Diese Einstellung muss sich radikal ändern: Ohne Digitale Transformation wird es für die meisten Unternehmen keine Zukunft geben. Entsprechend müssen umfangreiche Ressourcen nicht nur im Projektstatus, sondern dauerhaft aufgebaut und bereitgestellt werden.
  4. Individuelle Geschäftsprozesse dienen der Wettbewerbsdifferenzierung:
    Wie die Ausführungen bereits deutlich gemacht haben, müssen Unternehmen eine Überstandardisierung ihrer Prozesse unbedingt vermeiden. Dies kostet viel Geld und Zeit, bedeutet gleichzeitig aber auch den Aufbau von individuellen Kompetenzen und Wettbewerbsvorteilen. Von vielen Managern scheint noch nicht verstanden worden zu sein, dass sie sich zukünftig zur Wettbewerbsdifferenzierung nicht mehr ausschließlich auf ihre Produktion verlassen dürfen, sondern sehr viel mehr auf den gesamten Geschäftsprozess achten müssen. Eine kompromisslose Standardisierung, wie sie Unternehmen wie Salesforce.com u. v. a. vorschlagen, würde somit einer Differenzierung vollkommen entgegenstehen. Kein Unternehmer würde auf die Idee kommen, seinen Produktionsprozess in einem ersten Schritt vollkommen offen zu legen, diesen an einen Standard-Produktionsprozess anzupassen und anschließend gegen Unternehmen mit vollkommen identischen Produktionsprozessen zu konkurrieren. Es ist gerade die individuelle, über Jahrzehnte gewachsene und damit schwer zu imitierende (Produktions-)Prozessgestaltung, die dem deutschen Mittelstand seine nach wie vor hohe, internationale Wettbewerbsfähigkeit beschert. Ähnlich wie die von mittelständischen Unternehmen weiterentwickelten bzw. z. T. auch vollkommen selbst entwickelten Produktionsmaschinen werden zukünftig die individuell gestalteten bzw. z. T. auch eigenentwickelten Softwareprogramme zur Prozessunterstützung als wettbewerbsdifferenzierendes Element fungieren.
  5. Die Prozesshoheit liegt bei den Abteilungsleitern – und die Mitarbeiter denken mit:
    Der wesentliche Wettbewerbsfaktor von Unternehmen wird somit in eindeutig definierten Prozessen liegen. Diese Prozessdefinition kann einzig und allein von den Betroffenen selbst vorgenommen werden. Wer sonst kennt die Prozesse besser als der Abteilungsleiter und seine Mitarbeiter. Die Einbeziehung von externen Beratern sollte gut überlegt werden und an klare Aufgaben gebunden sein. Schließlich geht es um den Aufbau eigener Kompetenzen und Ressourcen. In diesem Fall führen Kooperationen mit Hochschulen oftmals zu sehr viel nachhaltigeren Ergebnissen für die Unternehmen, da diese nicht nur einen gezielten Know-how-Transfer, sondern auch noch die Rekrutierung kompetenter und junger Mitarbeiter umfassen können.
    Die Abteilungsleiter müssen gemeinsam mit ihren Mitarbeitern permanent an ihrem Geschäftsprozess arbeiten und diesen Stück für Stück effizienter und effektiver gestalten. Auch wenn diese Vorgehensweise mit erheblichem Aufwand verbunden sein wird, so bringt sie zwei entscheidende Vorteile: Alle Mitarbeiter fühlen sich angesprochen und beteiligen sich an der Verbesserung ihres Prozesses. Gleichzeitig kommt diese Form der aktiven Einbeziehung dem neuen Mitarbeitertypus sehr entgegen, der gut ausgebildet ist, sich einbringen und mitreden möchte.
    Die bewusste Nutzung der Mitarbeiter zur kontinuierlichen Verbesserung des eigenen Geschäftsprozesses wird auch zu einem weiteren Vorteil führen: Statt wie bisher IT-Systeme auszuwählen und diese dann aufwändig – und z. T. gegen den expliziten Wunsch der Mitarbeiter – zu implementieren, werden die Mitarbeiter im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses von alleine erkennen, welche Systeme sinnvoll sein werden – oder nicht. Wichtig dabei ist, deutlich zu machen, bei welchen Prozessen es sich um wettbewerbsdifferenzierende Kernprozesse handelt und bei welchen Prozessen Standardsysteme durchaus Sinn machen. Angesichts der stark wachsenden Zahl an spezialisierten Marketing/Vertriebs-IT-Tools (es wird von mittlerweile über 5.000 Systemen gesprochen), machen zentrale Screening-Prozesse kaum noch Sinn. Eine bedarfsorientierte Vorgehensweise wie hier beschrieben scheint sehr viel sinnvoller zu sein.
    Bei der Kritik des Key-User-Ansatzes ist bereits angeklungen, dass eine einfache Darstellung bestehender Geschäftsprozesse im Rahmen der Digitalen Transformation nicht ausreichen wird. Um sich zukunftsfähig aufzustellen, müssen stattdessen alle Prozesse neu gedacht werden und die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, das Human-Machine-Interface, an vielen Stellen vollkommen neu definiert werden. Aufgrund des technischen Fortschritts wird es an dieser Schnittstelle eine permanente Verschiebung geben, so dass alleine schon deshalb die Digitale Transformation als dauerhafter Veränderungsprozess akzeptiert werden sollte. Eine wissenschaftliche Begleitung dieses Prozesses bringt Sicherheit und Vertrauen in die eigene Arbeit und kann die Zukunftsfähigkeit der neugestalteten Prozesse sicherstellen.

Fazit

Angesichts dieser Erkenntnisse wird den Unternehmen für ihren ganzheitlichen Einstieg in die Digitale Transformation ein dreistufiger Prozess vorgeschlagen:

  1. Die Unternehmen müssen sich ihres Geschäftstyps bewusst sein, um die richtigen Akzente bei der Digitalen Transformation zu setzen.
  2. Die Abteilungen müssen intensive Prozessanalysen und -definitionen vornehmen. Die Prozesshoheit muss jedoch in den jeweiligen Abteilungen bleiben und alle Mitarbeiter sollten aktiv in diesen Definitionsprozess involviert werden. Ein Key-User-Ansatz, wie bislang von vielen Unternehmen verfolgt, erscheint nicht mehr zeitgemäß.
  3. Erst im dritten Schritt wird über die passende IT-Lösung nachgedacht. Auf diese Weise wird verhindert, dass das IT-System vor dem Geschäftsprozess steht, Geschäftsprozesse in Standard-IT-Systeme hineingepresst werden und Unternehmen auf diese Weise ihr wettbewerbsdifferenzierendes Momentum verlieren.

Eine erfolgreiche Digitale Transformation kostet Geld und Zeit. Unternehmen sollten sich insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen sie noch von etablierten und erfolgreichen Geschäftsmodellen getragen werden, ausreichend Zeit nehmen und die notwendigen Ressourcen bereitstellen, um Geschäftsmodelle und Prozesse neu zu denken und nun die richtigen Weichen zu stellen. Die Manager brauchen keine Angst zu haben, dass sie diesen Transformationsprozess alleine stemmen müssen. Die meisten Mitarbeiter sind hoch motiviert, diesen Wandel anzugehen und bewusst mit zu gestalten.

Das Prozessdesign, vor allem aber die Ausgestaltung des eigenen Produktportfolios eines Unternehmens hängt letztlich jedoch von den Märkten, den Wettbewerbern, Kunden sowie der Marktposition des eigenen Unternehmens ab. Diese wettbewerbliche Konstellation muss intensiv analysiert werden, um effektive und effiziente Lösungen für die eigenen Kunden identifizieren zu können. Hierzu ist ein leistungsfähiges Market-Intelligence-System absolut notwendig, das im besten Fall sogar noch das bestehende Business-Intelligence-System integriert. Hierauf gehen die Autoren im 3. Teil dieser Artikelserie ein.

Autoren

Prof. Dr. Stefan Wengler

Prof. Dr. Stefan Wengler ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Hof. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf der Ausgestaltung und dem Management von Geschäftsbeziehungen auf Business-to-Business-Märkten
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Prof. Dr. Ulrich Vossebein

Ulrich Vossebein ist Professor für Marketing an der Technischen Hochschule Mittelhessen und leitet das Institut für Marktanalysen und Umfrageforschung.
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Gabriele Hildmann

Gabriele Hildmann führt Beratungsprojekte in den Bereichen strategisches Marketing, Innovationsmanagement sowie Vertrieb durch, wobei sie Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen betreut.
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