Digitale Transformation – Jenseits des Hypes

Galt die Informationstechnik lange Zeit als hilfreiches Werkzeug, so scheint sich ihre Rolle nun verändert zu haben. Digitale Kompetenz wird zunehmend zu einem Schlüsselfaktor für Unternehmen aller Branchen. Geschäftsvorgänge werden in diesem Sinne nicht nur digital, sondern ganze Geschäftsmodelle ändern sich. Die digitale Transformation findet überall statt und die IT wird zunehmend zu einem Wettbewerbsinstrument. Auch IT-Dienstleister müssen sich neu ausrichten. Statt Werkzeuge sind nun umfassende Lösungen gefragt.
Folgt man der Berichterstattung in den Medien, dann scheint die gesamte Wirtschaft vor einem fundamentalen Umbruch zu stehen. Dieser Umbruch wird beispielsweise von den Stichwörtern "Digitaler Wandel", "Digitalisierung", "Künstliche Intelligenz" und "Digitale Transformation" begleitet. Der Umbruch scheint allerorten so gewaltig zu sein, dass man den Vergleich mit einer erneuten industriellen Revolution nicht scheut.
Ob man dieser Argumentation folgt oder nicht kann offenbleiben. Offensichtlich ist dagegen der Umstand, dass die Entwicklung neuer IT-gestützter und insbesondere vernetzter Technologien nunmehr das Potenzial hat, zu gravierenden Veränderungen der Produktions- und Geschäftsabläufe zu führen. Interessant ist dabei besonders, dass digitale Technologien nun auch in Branchen Einzug halten, welche bisher Informationstechnologie mehr als bloßes Werkzeug zu Unterstützung traditioneller Geschäftsprozesse gesehen haben. In diesem Artikel wollen wir die neue Rolle der Informationstechnik und der IT-Dienstleiter beleuchten. Statt einzelner Werkzeuge sind heute Komplettlösungen gefragt, welche das Potenzial haben, die Schnittstelle zwischen Business und Technik aufzuheben.
Digitale Geschäftsmodelle
Nicht immer ist klar, was gemeint ist, wenn man von "Digitalisierung" spricht. Zwei grundlegende Aspekte, welche die Rolle der IT widerspiegeln, muss man dabei unterscheiden. Ausgangspunkt sind die Geschäftsabläufe eines Unternehmens, auch als Geschäftsprozesse bezeichnet. Das Ziel von IT bestand schon von Beginn an darin, die Lösung unternehmerischer Aufgaben zu vereinfachen und damit für eine effizientere Produktion zu sorgen. Beispielsweise hat die Einführung der computergestützten Datenverwaltung umfassende Papierarchive abgelöst und dafür gesorgt, dass die notwendigen Informationen stets aktuell und im Augenblick der Anforderung zur Verfügung stehen. Am Kern der Aufgabe – der Verwaltung von Daten – hat sich jedoch nichts geändert.
Diese Form der Digitalisierung basiert auf einer stetigen Weiterentwicklung der Technologie. Es handelt sich um inkrementelle bzw. evolutionäre Innovationen. Wenn von Digitaler Transformation die Rede ist, dann ist jedoch etwas anderes gemeint. Statt einer stetigen Weiterentwicklung geht es um eine sprunghafte Veränderung der Technologie, welche bisherige Lösungsansätze in Frage stellt und eine vollständig andere Herangehensweise zur Lösung von Problemen bietet. Innovationen, die dieses Potenzial in sich tragen, haben disruptiven Charakter, d. h. sie können zu einer (fast) vollständigen Verdrängung etablierter Technologien führen. Ein oft zitiertes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der digitalen Fotografie. Trotz anfänglicher "Kinderkrankheiten" bot sie die Möglichkeit, das Fotografieren auf ein ganz neues Level und Erlebnis zu heben und hat binnen kürzester Zeit dafür gesorgt, dass die ausgereifte Analogfotografie verdrängt wurde. Hersteller, welche den technologischen Wandel nicht nachvollziehen konnten, sind unweigerlich aus dem Markt der Fotografie ausgeschieden. Auch in anderen Bereichen deuten sich Transformationen ähnlichen Ausmaßes an.
Spricht man von digitaler Transformation ist mehr gemeint, als eine Weiterentwicklung eines Geschäftsprozesses.
Selbstverständlich sind die Übergänge zwischen einer inkrementellen und disruptiven Innovation nicht immer trennscharf zu ziehen. So genannte Zwischentechnologien können notwendig sein um Brücken in ein neues Zeitalter bauen. Ein aktuelles Beispiel ist die Entwicklung der Antriebstechnik im Bereich der Automobiltechnologie. Benzin- und Dieselantriebe scheinen trotz stetiger Weiterentwicklung in der vorläufigen Endphase ihres Produktlebenszyklusses angekommen zu sein. Künftige Antriebstechnologien setzen nach heutigem Kenntnisstand auf Elektro und Wasserstoff. Von einer vollständigen Marktdurchdringung sind diese jedoch aus unterschiedlichen Gründen noch ein stückweit entfernt. In der Folge könnten zum Beispiel Formen des Hybrid-Antriebs geeignete Zwischentechnologien darstellen.
Fassen wir zusammen: Spricht man von digitaler Transformation, dann ist damit i. d. R. mehr gemeint, als eine stetige Weiterentwicklung eines bestehenden Geschäftsprozesses. Es geht vielmehr um eine vollständig veränderte Herangehensweise. Das impliziert meist die Notwendigkeit, umfassende Anpassungen auf allen Ebenen des Unternehmens aktiv anzugehen. Das Ziel ist es, durch digitale Innovationen langfristig Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz zu erzielen.
Ebenen der Digitalisierung
Die Digitale Transformation in einem Unternehmen ist ein langwieriger Prozess, welcher sich üblicherweise über immer weitere Teile der unternehmerischen Wertschöpfungskette erstreckt. Die Elemente eines digitalen Unternehmens gehen über die Unternehmensgrenzen hinaus und erfassen beispielsweise auch Lieferanten, Geschäftspartner und Kunden, d. h. im Idealfall werden sukzessive alle Prozesse entlang der Wertschöpfungskette angebunden. Dazu einige Beispiele: Mit Lieferanten kann der gesamte Bestellprozess digital abgewickelt werden. Das beginnt bei der automatischen Anforderung benötigter Vorprodukte bis hin zum Austausch der begleitenden administrativen Dokumente, wie Lieferscheine und Rechnungen über definierte Schnittstellen. Auch die Kunden können an der anderen Seite der Wertschöpfungskette digital an das produzierende bzw. die Dienstleistung erbringende Unternehmen angebunden werden. Beginnend beim automatischen Versand von Auftragsbestätigungen und Rechnungen, können Kunden über Applikationen alle Schritte der Services digital begleiten, verfolgen und steuern. In einzelnen Fällen kann sich sogar das Produkt hin zu einem digitalen Produkt weiterentwickeln. Das klassische Beispiel ist der oft zitierte Wandel des Trägermediums Musik. Über die Stufen: Schallplatte, CD, MP3-Player bis hin zum Streaming hat das Trägermedium einen stets größeren Anteil an Digitalisierung erfahren, bis es nur noch als nicht physisches Produkt in Form eines Datenstroms vorhanden ist. Nicht in allen Bereichen werden die Entwicklungen ähnlich gravierend ausfallen, aber eine zunehmende Digitalisierung der Produkte ist eine wichtige Ebene der Digitalen Transformation. Weitere Ebenen betreffen die Mitarbeiter, welche zunehmend mit digitalen Werkzeugen ausgestattet werden und Maschinen, welche durch Techniken der Künstlichen Intelligenz vermehrt selbststeuernd agieren.
In einigen Branchen wird die Digitalisierung schneller als in anderen vorankommen. Festzustellen ist aber, dass zunehmend auch Branchen von der Digitalen Transformation erfasst werden, welche IT bisher nur verhalten oder als Insellösungen zur Unterstützung einzelner Prozesse eingesetzt haben.
Die neue Rolle der IT und deren Dienstleister
Folgt man dem beschriebenen Pfad des digitalen Wandels, so wird auch schnell deutlich, dass sich die Rolle der Informationstechnik und ihrer Dienstleister verschiebt. Historisch hat sich IT lediglich als Dienstleister im Sinne eines "Werkzeuges" verstanden. Der Fokus war primär technikgetrieben. Über eine Vielzahl von Zwischenstufen (s. Abb. 2) verschiebt sich dieser Fokus und die Bedeutung der IT hin bis zu einem Business Innovator. IT liefert in diesem Stadium wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung des Geschäftsmodells oder verändert dieses sogar dauerhaft. Unternehmen, welche auf diesen Weg erfolgreich sind, haben gegenüber der Konkurrenz die Chance auf echte Wettbewerbsvorteile.
Mit anderen Worten kann man die Rolle der heutigen und künftigen IT auch wie folgt zusammenfassen. "Eine moderne IT-Abteilung ist adaptive, d. h. sie…
- versteht die Geschäftsprozesse und entwickelt für die Fachbereiche proaktiv innovative und flexible Lösungen,
- treibt die digitale Transformation im Sinne der Unternehmensstrategie voran,
- managet alle vom Unternehmen benötigten IT-Services zuverlässig und kundenorientiert und
- ist agil und entwickelt neue Vorgehens- und Partnermodelle" [3].
Natürlich sind von diesem Ziel als Innovationstreiber viele IT-Abteilungen noch weit entfernt. Für modern agierende IT-Dienstleister ergibt dieses neue Bild der IT auch vielfältige neue Möglichkeiten. Aktiv werden mit den Kunden in dessen Fachdomäne neue Lösungen und Geschäftsabläufe unter bestmöglicher Einbeziehung digitaler Services erarbeitet. Wie dieses aussehen kann, beschreibt der kommende Textabschnitt anhand eines konkreten Beispiels aus dem Gesundheitswesen.
Digitaler Wandel im Gesundheitswesen
Konkret geht es um den sehr aufwändigen Prozess der so genannten "Familienbestandspflege". Die gesetzlichen Krankenversicherungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts sind nach den Vorgaben des Sozialgesetzbuches dazu verpflichtet, die Zugangsvoraussetzungen und Berechtigungen zur Durchführung der kostenfreien Familienversicherung jährlich zu überprüfen. Von den betreffenden Personen müssen persönliche Daten, insbesondere Alter, Einkommen und Familienverhältnisse erfragt und geprüft werden.
Bei der BKK Linde, als Träger des Projektes, verursacht diese Prüfung jedes Jahr einen Aufwand zum Erstellen und Versenden von ca. 20 Tausend Briefen an die Mitglieder. Nach dem Rücklauf der Fragebögen wurden diese gescannt und bearbeitet. Durch notwendige Erinnerungen und durch möglicherweise entstehende Überschneidungen entstand bei jedem Durchlauf ein erheblicher Aufwand. Die Ergebnisse des Prüfverfahrens werden durch das Bundesversicherungsamt kontrolliert. Fehler, welche in einer Stichprobe festgestellt werden, werden hochgerechnet und können in diesem Fall zu einem großen finanziellen Schaden in Höhe von mehreren Millionen Euro führen. Auch aus Sicht der Mitglieder war das bisherige Verfahren wenig kundenorientiert. Die Bearbeitungszeit eines Antrages war lang und auch auf Seiten der Mitarbeiter führten die aufwändigen Prüfungen oft zu Unzufriedenheit.
Die vorrangigen Ziele des Digitalisierungsprojektes bestanden in einer Verkürzung der Bearbeitungsdauer, einer maßgeblichen Senkung des Verwaltungsaufwands und letztendlich das Prüfverfahren weitgehend zu einem vorgegebenen Stichtag abzuschließen, um finanzielle Nachteile zu vermeiden. Die BKK Linde hat dazu mit dem Dienstleister ApiOmat intensiv zusammengearbeitet und die Multi Experience Plattform ApiOmat eingesetzt. Als digitaler Service wurde eine responsive Web App bereitgestellt. Über diese App konnten die Mitglieder der BKK Linde alle notwendigen Angaben vollständig digital in kürzester Zeit zur Prüfung und weiteren Antragsbearbeitung zur Verfügung stellen.
Die Zusammenarbeit zwischen der BKK Linde und ApiOmat war sehr erfolgreich [4]. Technisch wurde das Projekt in nur drei Monaten umgesetzt. Der Geschäftsprozess "Familienbestandspflege" konnte erfolgreich vollständig digitalisiert werden und umfasst nunmehr beispielsweise die folgenden Funktionen: Authentifizierung, Laden der Daten, Umsetzung eines spezifischen Regelwerkes, Erstellen der Dokumente, Erzeugen der Aufgaben, Berechnen der Prüfdaten, Anbinden an das bestehende Kernsystem, Archivierung und die Interaktion mit weiteren Datenbanken. Darüber hinaus ist es gelungen, die Benutzeroberfläche der App (s. Abb. 3) sehr nutzerorientiert zu gestalten und damit auch für eine Erhöhung der Kundenzufriedenheit gegenüber dem bisherigen papiergebundenen Geschäftsablauf zu sorgen.
Wichtig ist es, dass der gesamte Prüfvorgang nun ausschließlich digital durchgeführt wird. Etwa 67 Prozent aller Fälle werden dabei komplett durch das digitale Regelwerk der App verarbeitet. Dadurch entsteht nicht nur eine Entbürokratisierung und ein positives Kundenerlebnis, sondern auch eine höhere Effizienz der Prozesse, d. h. die Ressourcen können wesentlich wirtschaftlicher eingesetzt werden.
Fazit
Die Digitale Transformation erfasst weite Bereiche der Wirtschaft und führt zu einer vollständig anderen Rolle der IT. Statt Unterstützer und Servicelieferant wird die Innovationsfähigkeit der IT künftig einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wie erfolgreich ein Unternehmen auf den Märkten agieren kann. IT-Dienstleister müssen sich neu ausrichten und können sich nicht länger ausschließlich auf die technischen Aspekte fokussieren. Gefragt sind ganzheitliche Lösungen, welche Probleme unter Einbeziehung der Möglichkeiten der Digitalisierung neu lösen. Erste Erfahrungen haben gezeigt, dass Unternehmen dann am erfolgreichsten sind, wenn sie die Bereitschaft zum Wandel auf allen Ebenen ohne Vorbehalte entwickeln.
- BMBF: Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0, Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0.
- Business Innovation: Kienbaum veröffentlicht Studie zu IT-Organisationen
- Wirtschaftswoche Blog: Digitalisierung verändert Rolle der IT-Abteilung vom Technikexperten zum Handlanger
- ApiOmat: BKK Linde Story