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Dr. Stefan Barth 27. April 2022

Digitalisierung erfordert gesellschaftliches Umdenken

Seit über 20 Jahren bin ich in der IT-Branche tätig. Verglichen zu diesem Zeitraum ist der Begriff der Digitalisierung in seiner breiten Nutzung – und damit abweichend von seiner Ursprungsbedeutung – relativ neu. Ich kann mich mit der neuen Aufladung dieses Begriffs recht gut anfreunden, weil er nach meinem Verständnis wesentlich mehr bedeutet, als ein zielführender Einsatz von Informationstechnologie in Wirtschaft und Gesellschaft.

Mein Begriffsverständnis deckt sich aber leider ganz offensichtlich nicht mit dem, was die Politik darunter versteht. Wenn ich der politischen Diskussion hierzu folge, so war bis zum Beginn der Coronakrise die Rede davon, wie mäßig ausgebaut die deutsche Internetzugangsinfrastruktur im internationalen Vergleich ist. Dies wurde als Messgrad der "Digitalisierung" verstanden.

Bereits vor der Coronakrise gab es zarte Ansätze, die Digitalisierungsbemühungen zumindest in einem breiteren Anwendungsbereich der Informationstechnologie einordneten. So wurden Initiativen im Verwaltungsbereich, in Projekten zur Digitalisierung der Bundeswehr oder in den Schulen in Angriff genommen. Vielfach waren diese Projekte wenig erfolgreich – und die Enttäuschung und Frustration entsprechen groß. Was soll eine Schule mit dreißig iPads, wenn unklar ist, wie Service & Wartung gelingt, wer die Geräte auflädt, wie die didaktischen Konzepte dazu aussehen sollen?

Der Einsatz von Technik ist ein Mittel, um ein Ziel mit geringerem Aufwand zu erreichen. An dieser Stelle unterscheidet sich die Informationstechnologie heute nicht von der Dampfmaschine vor 200 Jahren. Was die Informationstechnologie und die Dampfmaschine ebenfalls gemein haben, ist, dass die Entfaltung der Möglichkeiten nur durch eine grundsätzliche Änderung der Arbeitsweisen erzielt werden kann. Und dies ist eben das, was ich neben dem reinen Einsatz von Informationstechnologie als maßgeblichen Bestandteil des Begriffs der Digitalisierung sehe.

Digitalisierung ist eine Haltungsfrage

Diese Dimension der Herausforderungen wird seitens der Politik noch nicht einmal ansatzweise erfasst. Digitalisierung wird – unabhängig davon, ob wir über Unternehmen oder öffentliche Einrichtungen sprechen – nicht durch Milliardenbudgets und einen entschlossenen Digitalisierungsaufruf hergestellt. Digitalisierung ist eine Haltungsfrage.

Digitalisierung erfordert ein neues Bild der Gesellschaft und des Menschen in ihr: Wie Unternehmen funktionieren, wie wir arbeiten, wie wir Verträge schließen, wie wir die Solidargemeinschaft aufrecht erhalten. Und nicht zuletzt: Wie wir unsere Kinder ausbilden. Die Tatsache, dass diese Perspektive auf Digitalisierung in der Politik noch keinen Niederschlag gefunden hat, erleben wir als Digitalisierungsdienstleister bereits seit mehreren Jahren. Für uns stellt sich dies so dar, dass unseren Bemühungen Unternehmen und Institution auf ihrem Digitalisierungspfad zu unterstützen, eher Steine in den Weg gelegt werden, als dass wir Hilfe fänden.

Den politisch Handelnden ist der Zusammenhang zwischen ihrem Tun und dem Scheitern der Digitalisierung vermutlich noch nicht einmal klar.

Um dies konkreter zu machen, seien einige Hürden beschrieben, die der Digitalisierungsbranche und den Digitalisierungswilligen in den letzten Jahren seitens der Politik zusätzlich aufgebaut wurden – oder gegen deren Beseitigung sich systematisch gewehrt wird. Hürden, die nicht so offensichtlich sind, wie fehlende finanzielle Mittel, deren Auswirkungen jedoch für die Gesamtentwicklung fatal sind. Ich wage die These, dass den politisch Handelnden der Zusammenhang zwischen ihrem Tun (oder ihren Versäumnissen) und dem Scheitern der Digitalisierung vermutlich noch nicht einmal hinreichend klar ist.

Arbeitnehmerüberlassung – am Ziel vorbei geschossen

Die Nivellierung des Gesetzes zur Arbeitnehmerüberlassung hat in der IT-Branche für maximale Verwirrung gesorgt und führt zu den skurrilsten Blüten. Sinn und Zweck der Gesetzgebung sind nach meinem Verständnis, in Arbeitnehmerüberlassungsverhältnissen unfaire und prekäre Arbeitsverhältnisse zu verhindern. Gleichzeitig ist es das Ziel, Niedriglohndienstleistung in faktischen Arbeitnehmerüberlassungsverhältnissen auszuschließen. All das ist gut und richtig.

Das Ziel wird nun mit Mitteln verfolgt, die die Digitalisierungsbranche wie ein Hammerschlag treffen. Die zeitgemäßen Arbeitsweisen – z. B. jegliche Ausprägung agiler Methoden – erzwingen die enge Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer – was ganz schnell aus juristischer Sicht den Beigeschmack von Arbeitnehmerüberlassung erhält. Gleichzeitig sind alle Beteiligten bestens bezahlt (weit von Ungleichheit und Prekariat entfernt) und die Mitarbeiter der Dienstleister haben nicht das geringste Interesse für einzelne Projekte wie ein Arbeitnehmer des Auftraggebers behandelt zu werden. Gerade die Menschen in der Softwareentwicklung betrachten sich berechtigterweise als hochqualifizierte, mündige Fachkräfte, deren Selbstverständnis sich mit dem Begriff "Leiharbeit" kaum vereinbaren lässt.

Nach welchen Kriterien in einer potenziellen Prüfung eines Dienstleistungs-/Gewerksverhältnisses auf Arbeitnehmerüberlassung was entschieden wird, ist völlig unklar. Dementsprechend sind die risikominimierenden Maßnahmen in den jeweiligen Auftraggeber/Auftragnehmerbeziehungen gänzlich unterschiedlich, immer schädlich für die Zusammenarbeit und für alle Beteiligten sinnbefreit. Ich habe hier schon alles erlebt: vom Kommunikationsverbot bis hin zu Raumtrennung per Absperrband – war es das, was der Gesetzgeber vor Augen hatte?

Das große Problem ist das Bild der "Weisung" im Arbeitsrecht. IT-Unternehmen arbeiten heutzutage größtenteils agil – und in einem solchen Arbeitsumfeld erhält niemand eine "Weisung", was er bis wann zu tun hätte. Da ein solcher Umgang mit Arbeitnehmern vielen Organisationen – und insbesondere möglichen Prüfinstitutionen – völlig unverständlich ist, entsteht eine Absicherungsnotwendigkeit.

Die mittlerweile gängige Absicherungsstrategie ist: Konsequent nur noch Verträge auf Basis von Arbeitnehmerüberlassung schließen. Für beide Seiten, Entleiher wie Verleiher ist dies ein Drama, da der bürokratische Aufwand in der rechtssicheren Dokumentation gewaltig ist. Die Kernanforderung zum Equal Pay (Sicherstellung gleichwertiger Bezahlung) stellt sich als echte Herausforderung dar, da häufig die miteinander kooperierenden Unternehmen in der IT übertariflich und ohne feste Gehaltsbänder arbeiten.

Neben der neuaufkommenden, völlig wertschöpfungsfreien Komplexität in der Abwicklung entstehen durch diese Absicherungsstrategie noch andere Nebeneffekte. So bremst im Arbeitnehmerüberlassungsverhältnis das Verbot der Kettenüberlassung (ein überlassener Arbeitnehmer wird durch ein zweites Arbeitnehmerüberlassungsverhältnis weitergereicht) und der Ausschluss der Möglichkeit Freelancer oder Mitarbeiter von Subdienstleistern zu überlassen (weil sie ja gar keine eigenen Arbeitnehmer sind), die Skalierung von Projekten mit vertrauten Vertragspartnern erfolgreich aus. Dienstleistungskonsortien kleinerer Unternehmen werden faktisch unterbunden.

So behindert die Arbeitnehmerüberlassungsgesetzgebung in der aktuellen Ausprägung in zwei Dimensionen den Digitalisierungsfortschritt: sie verteuert Digitalisierung (ohne eine gesellschaftlich relevante Wirkung zu erzielen) und sie bremst die Skalierung von Digitalisierungsprojekten.

Sozialversicherungsgesetzgebung – der Bock ist der Gärtner

Wir waren es jahrelang gewohnt mit Freelancern zusammen zu arbeiten. Obwohl die Gesetzgebung sich im Kern nicht verändert hat, wurde dies immer problematischer: Einzelunternehmertum ist politisch erkennbar nicht gewollt. Mit der Instanziierung der Deutschen Rentenversicherung zum Entscheider der Frage, ob eine Tätigkeit selbständig oder scheinselbständig ist, hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Wie kann der Verwalter der staatlichen Rente derjenige sein, der darüber entscheidet, ob in die Rentenkasse einzuzahlen ist? Das ist an Absurdität kaum zu überbieten. Das Ergebnis ist entsprechend: wann immer ein Feststellungsverfahren zur Klärung des Sozialversicherungsstatus mit dem Ziel angestrebt wird, die eigene Selbstständigkeit zu legitimieren, ist ein abschlägiges Urteil der Rentenversicherung zu erwarten. Es bleibt dann der Klageweg, der gerne mehrere Jahre dauern kann.

Auch hier gilt: ich verstehe und unterstütze die Kernidee. Aber warum muss ich mir als Unternehmer Gedanken über den Sozialversicherungsstatus eines Freelancers machen, der sich explizit nicht anstellen lassen will? Und der typischerweise zwischen 600 € und 1.000 € Tagessatz erhält? Seine Willensentscheidung ist eindeutig und die Mittel für eine Altersvorsorge verdient er allemal. Dennoch liegt das Risiko für seine Entscheidung bei mir als Unternehmer – im schlimmsten Fall sogar persönlich.

Aus diesem Grund und aus dem im vorherigen Abschnitt genannten Grund fallen Freelancer für mich bis auf ganz wenige Einzelfälle als Unterstützung in Digitalisierungsprojekten aus – und dies angesichts eines dramatischen Fachkräftemangels!

Datenschutz – unverhältnismäßiger Mitteleinsatz

Im Prinzip bin ich ein großer Freund des Datenschutzes. Wenn ein Konzern es zum Geschäftsmodell erhebt, bereitgestellte Dienstleistungen durch die Weiterverwertung von persönlichen Daten der Kunden zu monetarisieren, dann muss sich jeder Nutzer darüber im Klaren sein.

Um dies in den Griff zu bekommen, bedarf es pointierterer Regelungen, als dies in der Abbildung der europäischen Datenschutzverordnung – und insbesondere in der deutschen Auslegung – geschehen ist. Hier wurde mit der Schrotflinte auf das Problem geschossen – mit dem Ergebnis, dass nun jedes Unternehmen erheblichen innerbetrieblichen Aufwand zum Datenschutz betreiben muss – selbst wenn Daten überhaupt nicht Teil des Geschäftsmodells sind. Welches Interesse sollte ich als Unternehmer haben, die Daten von Mitarbeitern und Kunden zu veruntreuen? Reicht hier nicht die schlichte Strafandrohung? Warum muss reguliert werden, wie ich den Schutz aufzubauen und welchen Nachweispflichten ich bezüglich der Schutzmaßnahmen nachzukommen habe?

Auch hier bewegen wir uns wieder in einem so breiten Interpretationsspielraum im Hinblick auf die Frage, welche Maßnahmen angemessen sind, um was zu schützen, dass jede Entscheidung, die in dieser Richtung gefällt wird, in der Kategorie von Risikomanagement und nicht von Risikomitigation anzusiedeln ist. Die Entwicklung und Einführung eines jeden IT-Systems – völlig unabhängig von Verwendungszweck – wird hierdurch nachhaltig verteuert, ohne dass ein erkennbarer Nutzen entsteht. Als offensichtliches Beispiel dürfte jedem der Opt-In-Zwang für Cookies vertraut sein.

In Deutschland haben wir es durch unsere besonders strikte Auslegung der europäischen Richtlinien darüber hinaus geschafft, einen echten Standortnachteil in der Digitalisierungsfrage herzustellen.

Betriebliche Mitbestimmung – Verhinderungssystem neuer Arbeitsformen

Das Unternehmen, dem meine Geschäftsführungskollegen und ich vorstehen, hat keinen Betriebsrat. Unser Organisationsmodell basiert auf Verantwortungsübernahme, Teamorientierung, Selbstorganisation und Hierarchiefreiheit. Ich als Geschäftsführer nehme keine hervorgehobenen Weisungsrechte gegenüber irgendjemandem wahr.

Ein Betriebsrat würde bei uns ein Weisungsrecht ausüben, welches sich niemand mehr anmaßt.

Bei uns wäre ein Betriebsrat nach bestehendem Betriebsverfassungsgesetz ein echter Anachronismus - und das haben auch unsere Mitarbeiter verstanden. Er würde ein Weisungsrecht gegenüber den Mitarbeitern ausüben können, welches sich im Management der Organisation niemand mehr anmaßt. Für Unternehmen, die sich erst auf den Weg machen, ihre Arbeitsweisen zu modernisieren (im Sinne von echter Teamorientierung, Selbstorganisation und Mitwirkung durch die Mitarbeiter), kann ein Betriebsrat ein grundsätzlicher Stolperstein sein.

Der Betriebsrat zieht seine Berechtigung aus dem Ansatz heraus, die Mitarbeiter vor dem Unternehmer zu schützen. Wenn ein Unternehmer nun aber den Ansatz verfolgt,

  • den Mitarbeitern vertrauen zu wollen,
  • Entscheidungen da fällen zu lassen, wo die Kompetenzen liegen,
  • Transparenz im Unternehmen herzustellen,
  • führungsunabhängige Coaching-Angebote zu formulieren und
  • sich selbst aus Führungsentscheidungen rauszunehmen (Kündigung, Einstellung, etc.)

stellt sich die berechtigte Frage, vor wem der Betriebsrat die Mitarbeiter noch schützt.

Übt der Betriebsrat weiterhin die ihm gegebene Macht aus, so kann er auf Basis der bestehenden Gesetzgebung Transformationsprozesse zu einer offeneren, partizipativeren und letztlich agilen Unternehmenskultur massiv erschweren oder gar unterbinden. Damit bleiben notwendige Veränderungen aus, die die kulturellen und organisatorischen Voraussetzungen bilden, um die Digitalisierung von Arbeitsabläufen und Produkten voran zu treiben. Eine solcher Verweigerungshaltung gegenüber Veränderung (und sei es zum Positiven aus Sicht der Arbeitnehmer) habe ich immer wieder erlebt. Die Haltung folgt letztlich denselben Treibern, die auch tradierte Managementstrukturen daran hindern, solche für die Digitalisierung notwendige Veränderungen umzusetzen: Angst vor dem Verlust der Möglichkeit individueller oder institutioneller Machtausübung.

Ich glaube, dass es nach wie vor richtig und wichtig ist, der Mitarbeitermitbestimmung auch einen formalen, gesetzlichen Hintergrund zu geben. Wie dieser aber auszugestalten ist, hängt von dem Profil der Mitarbeiter ab: Folgen wir nach wie vor dem althergebrachten Bild eines Arbeiters als ausgebeutetem und stets austauschbarem Teil eines industriellen Produktionsprozesses in einem stabilen wirtschaftlichen Umfeld oder haben wir eher einen Wissensarbeiter in einer stark veränderlichen, digitalisierten Dienstleistungsgesellschaft vor Augen?

Ausschreibungsrecht – ein teurer Anachronismus

Ausschreibungen im öffentlichen Dienst sind in der gelebten Form ein Anachronismus, der der Volkswirtschaft nachhaltigen Schaden zufügt. Aus Sicht des Softwareentwicklungsdienstleisters stellt sich dies wie folgt dar: die Branche hat in den letzten 25 Jahren gelernt, dass es bei der Entwicklung von Software nie gelingt, anfangs exakt zu beschreiben, was die Ergebnisartefakte sein sollen. Aber an diesem Ansatz wird seitens der öffentlichen Institutionen – maßgeblich erzwungen durch das Ausschreibungsrecht – meistenteils noch sklavisch festgehalten.

Was passiert dann also in der Praxis? Als Dienstleister muss man lediglich bestätigen, dass man das liefert, was zuvor mit viel Aufwand beschrieben worden ist. Sehr häufig gilt nun der Preis als der einzig relevante Entscheidungsparameter. Wenn man es sich leisten kann, durch die zusätzliche Bepreisung von Veränderungsanfragen über die Laufzeit des Vertrags letztlich seine Marge zu erwirtschaften, dann bietet man eingangs einen Kampfpreis an. Der Auftraggeber – der natürlich nicht vollständig beschrieben hat, was er will – kann so über die Veränderungsanfragen zum ursprünglichen Ausschreibungsinhalts bis auf das Blut geschröpft werden. Es geschieht, was wir alle kennen: Budgets platzen, die  Zeitlinien geraten außer Kontrolle.

Vorgänge dieser Art sind uns ja nicht nur aus dem Digitalisierungskontext vertraut. Ich könnte auch Dutzende von öffentlichen Bauvorhaben benennen, die nach demselben Schema finanziell und in ihren Zeitverläufen gescheitert sind. Wieviel öffentliche Mittel müssen vernichtet werden, damit der Gesetzgeber merkt, dass Projekte mit komplexen Zügen so nicht zu beherrschen sind?

Es bleibt das Argument, dass das Ausschreibungsrecht einer Vetternwirtschaft vorbeugt. Wer das tatsächlich glaubt, sei dazu eingeladen, mal an einer komplexen Ausschreibung der öffentlichen Hand als zuvor vollständig unbekannter Dienstleister mitzuwirken. Dann merkt man, dass es hier – trotz Ausschreibungsrecht – so ist, wie überall: Geschäfte werden zwischen Menschen gemacht. Damit dadurch kein Schaden entsteht, gibt es aber andere Möglichkeiten als das Ausschreibungsrecht: Unternehmen sind mit flexibler zu handhabenden Compliance-Richtlinien durchaus erfolgreich.

Corona schafft Bewusstsein

Die Coronakrise wirkte und wirkt nun derzeit wie ein Brennglas auf das fehlende Verständnis der Politik im Hinblick auf ihre Rolle in der Digitalisierung und zerrt die Problematik stärker in die Öffentlichkeit. Corona-App, Digitalisierung der Gesundheitsämter, Prozesse zur Einbindung der Hausärzte, das Anmeldewesen zur Impfung – die öffentliche Hand bietet uns hier ein eher klägliches Schauspiel.

Das Problem ist im Kern folgendes: Geld und motivierende Aufrufe schaffen keine Grundlage für Digitalisierung. Um der Herausforderung wirklich gerecht zu werden, müsste die öffentliche Verwaltung binnen Monaten einen Transformationsprozess durchlaufen, der in vergleichbar großen Unternehmen Jahre gedauert hat. Und der – wie zuvor beschrieben – durch die bestehende Gesetzeslage im Falle der Verwaltung wahrscheinlich nicht nur massiv behindert, sondern gar unmöglich gemacht wird.

So unselig die Krise für uns alle ist: Ich habe die vage Hoffnung, dass durch Corona hier gerade Bewusstsein geschaffen wird, auf dessen Entstehung wir ansonsten noch Jahre hätten warten müssen.

Der Wille zur Veränderung

Die Ausführungen lassen sich umfänglich fortsetzen: Vertragsrecht, Urheberrecht, Schriftformerfordernisse, Blüten des Föderalismus... der Politik ist es in den letzten 20 Jahren schlichtweg entgangen, welche Veränderungen sie herbeiführen müsste, um die Digitalisierung in Deutschland zu stützen.

Wenn wir diesen Weg beschreiten wollen, benötigen wir den politischen und gesellschaftlichen Willen, grundsätzliche Parameter unseres Wirtschafts- und Soziallebens zu überdenken. Dabei dürfen wir nicht davor zurückschrecken, auch Aspekte in Frage zu stellen, die lange bewährt erschienen. Ich hoffe, dass die genannten Beispiele dies zumindest in Ausschnitten deutlich machen. Aber was sind die Leitplanken, denen wir folgen müssen, um die Herausforderungen zu bewältigen?

Vertrauen, Veränderungsbereitschaft, Ambiguitätstoleranz

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen nach neuen Kriterien so ausrichten können und müssen, dass sie das Arbeiten in modernen Arbeitsformen – die durch die Digitalisierung erzwungen werden – unterstützt. Alle genannten Beispiele weisen letztlich in ihrer Kernproblematik dieselben Charakteristika auf. Sie legen offen, dass die bestehenden Regulierungen die Veränderungen, die die Digitalisierung erfordert, behindern, weil sie auf einem Systembild aufbauen, welches sich in den letzten zwanzig Jahren zunehmend in Auflösung befindet. Und Digitalisierung erzwingt ein neues System.

Es ist eine Vision zu formulieren, wie unser Arbeitsleben der Zukunft aussehen soll.

Diese Herausforderung wird ebenso wenig durch eine Revolution wie durch kosmetische Eingriffe gelöst. Für die Bewältigung solcher komplexer Themen sind agile Vorgehensweisen entwickelt worden: Es ist eine Vision zu formulieren, wie unser Arbeitsleben der Zukunft aussehen soll. Davon ausgehend sind dann die nächsten Schritte abzuleiten, die auf dieses Ziel einzahlen. Und stets ist zu überprüfen, ob die getroffenen Maßnahmen dazu führen, dass die gesellschaftliche Realität besser abgebildet wird als vorher oder nicht.

Wie die Vision aussieht, ist für mich auch noch diffus. Die Leitplanken denen wir folgen müssen, erscheinen mir erheblich klarer. Neue Prioritäten in der Regulierung müssen gesetzt werden:

  • Vertrauen ist wichtiger als Kontrolle,
  • prinzipienorientiertes Handeln wichtiger als starre Prozesse,
  • Verantwortungsübernahme ist besser als Befehl und Gehorsam und
  • Anerkennung von Komplexität ist wichtiger als unbedingter Fortschrittsglaube.

Die Liste ist bestimmt nicht vollständig. Alle genannten Aspekte zahlen darauf ein, dass das Bild der Arbeit menschlicher und Strukturen beweglicher werden. Und es ist sicher kein Zufall, dass sich die Liste liest wie das Agile Manifest...

Autor

Dr. Stefan Barth

Dr. Stefan Barth ist seit vielen Jahren im Telekommunikations- und IT-Markt tätig. Seit 2013 nimmt er die Rolle eines Geschäftsführers der Technologieagentur tarent solutions GmbH in Bonn wahr.
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