Nachhaltigkeit im IT-Sektor – eine strategische Perspektive
Der große, unklare Fußabdruck der IT
Über den gewaltigen Stromverbrauch der Software-Industrie wurde kürzlich in einem Artikel hier in Informatik Aktuell ausführlich geschrieben, und in dem Zusammenhang wurden auch Kriterien für nachhaltige Softwareprodukte definiert [1]. Aus der langjährigen Erfahrung als Nachhaltigkeitsberaterin in unterschiedlichsten Industrien möchte ich auf einige strategische und in der Folge organisationale Aspekte für Unternehmen aus dem IT-Sektor eingehen.

Starten wir mit Emissionen, einem zentralen Thema in der öffentlichen und in der Branchen-Diskussion. Die Emissionen für einen Flug von A nach B zu berechnen, ist heute einfach; vielfältige Dienste bieten solide Möglichkeiten zur Kalkulation und Kompensation des Fußabdrucks eines Fluges. Rund um IT-Dienstleistungen ist das alles viel komplizierter. Wie kann man Emissionen von Servern zuordnen, Datenströme, Lagerhallen, Netzwerke und neue Glasfaserkabel? Wie kann das CO2-Budget der Nutzung des Internets auf spezifische Dienste – E-Mails, soziale Medien, Suchen, Streaming und so weiter – heruntergebrochen werden, und erst recht in komplexen unternehmerischen Anwendungen und Netzwerken?
Eine im Umlauf befindliche Statistik besagt zum Beispiel, dass man, statt täglich für ein bis zwei Stunden privat Netflix oder Amazon Prime zu streamen auch einen Kühlschrank ein halbes Jahr lang laufen lassen könnte [2]. Die Zahlen sind vage, beruhen auf vielen Annahmen und werden gelegentlich auch in der Presse und in Social Media als "Aufreger" genutzt. Fakt ist aber, dass eine Industrie mehr und mehr in den Fokus rückt, die über lange Jahre aus Nachhaltigkeitssicht – im Vergleich zu anderen Industrien – keine große Aufmerksamkeit hatte.
Aufgrund des rasanten Wachstums der technologischen Entwicklungen wurde in den letzten Jahren wiederholt der ökologische Fußabdruck der IT-Industrie in den Medien thematisiert. Ein – zugespitztes – Beispiel: Das renommierte Online-Ratgeberportal für nachhaltigen Konsum Utopia rügt den "Klimaschädling Web" und argumentiert: "Elektronik und Internet bleiben Dreckschleudern und schaden dem Klima, aber dieses Rad werden wir nicht zurückdrehen können. Umso wichtiger, dass Internet-Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen und das Ihre tun, um den Klima-Fußabdruck des Webs zu reduzieren [3]."
Digitale Effizienz als der große Retter?
"Alles gar nicht so dramatisch", argumentieren manche – aufgrund eines wichtigen Effekts, den wir alle aus der Technologieentwicklung kennen: die höhere Leistungsfähigkeit und Effizienz. Diese wirkt sich erfreulicherweise auch auf die Klimawirkungen positiv aus.
So wurde in einer Recherche vom November 2020 der Effekt exemplarisch dokumentiert: "Die Energieintensitätszahlen für Rechenzentren und Datenübertragungsnetze wurden aktualisiert, um neuere Daten und Forschungen widerzuspiegeln. Infolgedessen beträgt die zentrale IEA-Schätzung für eine Stunde Videostreaming im Jahr 2019 jetzt 36 g CO2, gegenüber 82 g CO2 in der ursprünglichen Analyse, die im Februar 2020 veröffentlicht wurde. Die aktualisierten Diagramme und Vergleiche enthalten auch die korrigierten Werte, die von The Shift Project im Juni 2020 veröffentlicht wurden, sowie andere aktuelle Schätzungen, die von den Medien zitiert wurden [4]." Die relativ geringeren Klimaauswirkungen sind auf die hohe Verbesserung der Energieeffizienz von Rechenzentren, Netzwerken und Geräten zurückzuführen. Die Effekte im untersuchten Beispiel Videostreaming dürften ähnlich für viele andere Bereiche ebenso gelten.
Es ist mehr als eine Fußnote: Die CO2-Bilanz der Technologien hängt vom Stromverbrauch und von den CO2-Emissionen ab, die mit jeder Stromerzeugungseinheit verbunden sind. Der Gesamtfußabdruck hängt wie an vielen Stellen – ähnlich etwa bei Elektrofahrzeugen – am stärksten davon ab, wie der Strom erzeugt wird. Experten führen daher an, dass Technologieunternehmen neben der Steigerung der Energieeffizienz vor allem durch Investitionen in erneuerbare Energie zur Stromversorgung ihrer Rechenzentren und Netzwerke starken Einfluss auf die Neutralisierung der Emissionen haben.
Außerdem könnten etwa nachhaltiges Design und Codierung helfen, beispielsweise die Videokomprimierung weiter zu verbessern. Eine kürzlich durchgeführte Studie untersuchte die potenzielle Energie- und Emissionsreduzierung durch die Umstellung von YouTube-Musikvideos auf Audio nur bei der Wiedergabe im Hintergrund [4].
Relativ gesehen alles gut
Eine Halbierung der CO2-Emissionen innerhalb weniger Monate. Von solchen Effizienzgewinnen träumen andere Industrien. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten könnten sich die Effizienzgewinne verlangsamen. Rebound-Effekte sowie neue Anforderungen durch Technologien wie KI und Blockchain lassen Bedenken aufkommen, dass der Sektor sich automatisch auf einer klimaneutralen oder "grünen" Reise befindet.
Die größte Herausforderung ist und bleibt aktuell jedoch die exponentielle Zunahme der Nutzung – das bedeutet, dass selbst bei relativ immer effizienteren Einheiten die Gesamtwirkung auf das Klima absolut gesehen erheblich negativ ausfallen werden. Hierfür gilt es Lösungen zu finden.
Darüber hinaus wird in dem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt bislang relativ stark außer Betracht gelassen: Eine verbesserte Effizienz in Geräten, Rechenzentren und Netzwerken impliziert auch sehr oft einen Austausch derselben – die kurze Lebensdauer von Geräten ist ein Thema, das die Industrie langfristig gesehen in den Griff bekommen muss. Das Öko-Institut hat die CO2-Emissionen für die Herstellung und Nutzung von Geräten wie Smartphones, Computer oder Fernseher untersucht. Die angesprochene Komplexität zeigt sich auch hier, da verschiedene Ökobilanzen mit unterschiedlichen Bewertungsmethoden verwendet wurden und zum Beispiel die Phase "Entsorgung und Recycling" gar keine Berücksichtigung fanden. Das Ergebnis ist dennoch sehr klar: Der Großteil der Emissionen entsteht in der Herstellung der Geräte, und zwar fast doppelt so viel wie für den Stromverbrauch in der Nutzung und fast zehnmal soviel wie für die Übertragung von Daten [5].
Der umfassendere Blick in die Wertschöpfungskette
Jedoch sind es nicht nur die CO2-Emissionen, die uns beschäftigen müssen. Nachhaltigkeitsmanagement adressiert immer die zentralen ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte entlang der gesamten Wertschöpfungskette eines Produktes, eines Unternehmens oder einer Industrie. Und hier ist die IT-Industrie – generell gesprochen – noch ganz am Anfang, die zentralen Themen überhaupt zu kennen und auch systematisch zu adressieren.
Ich möchte dies hier in Kürze anhand des Beispiels Smartphones skizzieren. Die ersten Smartphones wurden im Jahr 2007 auf den Markt gebracht – und kaum einer von uns kann sich das Leben ohne sie vorstellen. Aus Nachhaltigkeitssicht ist die Industrie leider kein Vorzeigebeispiel – eher das Gegenteil. Bis heute gibt es nur sehr wenige und halbherzige Bemühungen, das Smartphone selbst und die Industrie insgesamt nachhaltiger zu machen [2].
Die Klimawirkungen sind das eine. Ebenso – oder noch schwerer – wiegen andere Effekte in der Wertschöpfungskette und im gesamten Geschäftsmodell der Industrie:
- Der Rohstoffabbau für Smartphones ist aufgrund der gewaltigen immer weiter steigenden Abbaumengen, der Arbeitsbedingungen in den Minen (z. B. Vorfälle von Kinderarbeit, mangelnde Arbeitssicherheit), intransparenter Lieferketten und mangelnden Umweltschutzes ein großes, bislang noch wenig beleuchtetes Problem.
- Die Herstellungsphase ist die energieintensivste und entsprechend auch die CO2-intensivste: Dreiviertel der Emissionen entstehen in dieser Phase. Und der Fußabdruck steigt in dem Maße, wie die Menge und Komplexität von elektronischen Geräten zunehmen [6].
- Ein besonders großes und bislang noch komplett ungelöstes Problem ist das Ende des Lebenszyklus und damit der Elektronikschrott, der in der letzten Dekade massiv gewachsen ist. Nur ein Bruchteil wird gesammelt und ein noch geringerer Anteil recycelt. Elektronikschrott gehört neben Textilien zu den am wenigsten recycelten Materialien auf der Welt – obwohl sie in großem Maße Wertstoffe enthalten. Nur etwa 10 Prozent der Smartphones werden schätzungsweise recycelt. Insgesamt wird weniger als 20 Prozent des weltweiten Elektronikschrotts im formalen Sektor recycelt – und informell bedeutet in der Regel keine Arbeitssicherheits- und Umweltstandards sowie prekäre Lebensbedingungen für die Arbeiter.
- Das Geschäftsmodell in der gesamten Industrie wurde auf der Story des kontinuierlichen Konsums aufgebaut. Immer neue Geräte, immer mehr Geräte, immer komplexere Geräte, anfällig, nicht reparierbar, kurze Lebenszyklen. Fairphone ist das erste Smartphone, das die Industrie herausfordert, in zentralen Nachhaltigkeitsaspekten neue Wege zu gehen [7].
- Es gibt noch zahlreiche weitere Probleme rund um die Wertschöpfungskette von Smartphones [2].
Das bedeutet einerseits, dass wir viel mehr die gesamte Industrie, ihre Dynamiken und auch die Hardware mit in den Blick nehmen müssen. Es bedeutet, die Hotspots in bestimmten Segmenten der IT-Industrie zu identifizieren – die Smartphones sind hierfür ein Beispiel, das sich auf andere Bereiche übertragen lässt. Und wir müssen Lösungen für besonders drängende Probleme wie den Anstieg der Emissionen durch das Wachstum der Industrie, das Recycling von Elektroschrott oder für komplett kreislauffähige Produkte finden. Zudem gilt es, den positiven Beitrag der Industrie zum Strukturwandel und zur Nachhaltigkeit in anderen Industrien herauszuarbeiten und konstruktiv weiterzuentwickeln.
Die IT-Industrie steht hierbei vor großen Herausforderungen, die sie radikal verändern werden. Als Beraterin begleite ich seit fast 20 Jahren Unternehmen in verschiedensten Industrien, die solche Transformationsprozesse bereits seit Jahren gehen (müssen). Meiner Meinung nach wird die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit unaufhaltsam als Aufgabe auf die Industrie und ihre Unternehmen zukommen. Die Aufgaben, die damit einhergehen, sind herausfordernd, aber machbar.
Berichtspflicht als Chance zum Setup für Nachhaltigkeit nutzen
Verstärkt und beschleunigt wird der Handlungsdruck aufgrund einer sehr konkreten regulatorischen Entwicklung, auf die viele Unternehmen meiner Erfahrung nach noch nicht vorbereitet sind. Gemeint ist hier nicht das "Lieferkettengesetz", das im Jahr 2021 in Deutschland mit viel öffentlicher Aufmerksamkeit verabschiedet wurde. Ja, auch das wird erhebliche Auswirkungen haben. Ich beziehe mich hier auf die aktuelle Richtlinie der Europäischen Union zur Berichterstattung über Nachhaltigkeit, die auch viele Unternehmen aus dem Technologiesektor betreffen wird. Denn für das Geschäftsjahr 2023 sind alle Unternehmen ab 250 Mitarbeitern oder mit einer Bilanzsumme von über 20 Millionen Euro oder mit einem Umsatz von über 40 Millionen Euro künftig berichtspflichtig, ebenso wie die meisten kapitalmarktorientierten Unternehmen.
Die "Corporate Sustainability Reporting Directive" (CSRD) weitet den Radius der ursprünglichen EU-Richtlinie zur CSR-Berichterstattung erheblich aus. Im Jahr 2021 veröffentlicht, muss die Richtlinie nach ihrer Verabschiedung auf EU-Ebene bis zum Dezember 2022 in nationales Recht umgesetzt werden. Ab dem 1. Januar 2024 müssen die besagten Unternehmen dann für das Geschäftsjahr 2023 über verschiedene Nachhaltigkeitsaspekte ihres Geschäfts berichten [8].
Details sind aktuell in der Ausarbeitung, jedoch zeichnet sich bereits ab, in welche Richtung die Berichterstattungspflicht geht. Unter anderem müssen die Unternehmen:
- Angaben zu den Umweltzielen der EU (sogenannte EU-Taxonomie) machen, dazu gehören die sechs Bereiche Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Wasser- und Meeresressourcen, Kreislaufwirtschaft, Umweltverschmutzung und Biodiversität.
- Gesellschaftliche Aspekte offenlegen, was z. B. Gleichstellung der Geschlechter und Einbeziehung behinderter Menschen sowie Angaben zur Weiterbildung umfasst.
- Über die Arbeitsbedingungen inklusive z. B. Beteiligung der Arbeitnehmer, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie sichere Arbeitsplätze und Gesundheitsbedingungen berichten.
- Aussagen u. a. zur Achtung der Menschenrechte und der Einhaltung internationaler Standards machen.
- Verschiedenste Governance-Themen berichten, u. a. zum Kampf gegen Korruption und Bestechung, interne Kontroll- und Risikomechanismen, politisches Engagement und Umgang mit Geschäftspartnern offenlegen [9;10].
Sich auf diese kommenden Pflichten vorzubereiten, braucht ausreichend Vorlauf und einen systematischen Prozess. Aus meiner Erfahrung mit vielen solcher Prozesse in Unternehmen aus anderen Industrien zur Einführung von Nachhaltigkeit und zur Berichterstattung kann die Faustregel abgeleitet werden: Planen Sie mindestens ein halbes Jahr Vorlauf ein – besser ein Jahr – und planen Sie ein Projekt, das sich dezidiert mit der Umsetzung der Berichterstattungspflicht für Ihr Unternehmen beschäftigt.
Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, diese Prozesse nicht nur als die formale Abarbeitung einer reinen "Berichtspflicht" aufzusetzen, sondern direkt als Managementprozesse, in denen das Reporting ein Ergebnis ist. Viele Anbieter von Dienstleistungen rund um Berichtspflicht, Lieferkettengesetz, Ökobilanzen in der Wertschöpfungskette und das Management entlang verschiedenster Standards werden Sie in den nächsten Jahren ansprechen. Hier gilt es, im "Dschungel" den Fokus auf das Wesentliche zu halten, denn die Aufgaben sind enorm, wollen – und können – aber auch pragmatisch und fokussiert abgearbeitet werden.
- Informatik Aktuell – A. Guldner et al: Software und Nachhaltigkeit – Wie passt das zusammen?
- A. Steinbach (2021): Do you speak sustainability?
- Utopia: WeTransfer wird B Corp und "CO2-neutral"
- Carbon Brief (2020): Factcheck: What is the carbon footprint of streaming video on Netflix?
- Utopia: Wie groß ist unser digitaler CO2-Fußabdruck?
- Greenpeace: From Smart to Senseless: The Global Impact of 10 Years of Smartphones
- Fairphone
- Europäische Kommission: Directive of the European Parliament and of the Council
- Europäische Kommission: Corporate sustainability reporting
- Europäische Kommission: Questions and Answers: Corporate Sustainability Reporting Directive proposal
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