IT-Quereinsteiger: Wie finden wir die richtigen?
Sagen wir, wie es ist: 95 Prozent der Menschen, die den Quereinstieg in die Software-Entwicklung wagen wollen, bringen nicht die erforderlichen Eigenschaften mit, um dort erfolgreich zu sein. Wie kann man es aber nun schaffen, genau diese erfolgversprechenden fünf Prozent der IT-Quereinsteiger zu finden?
Wir befinden uns bekanntermaßen in Zeiten des Fachkräftemangels – einer Zeit also, in der es bestimmten Branchen nicht möglich ist, offene Arbeitsplätze mit ausreichend qualifizierten Arbeitskräften zu besetzen. Im Jahr 2023 waren laut Bitkom 149.000 IT-Jobs unbesetzt, das ist schon eine ordentliche Hausnummer [1]. Quereinsteiger, also Menschen ohne eine formale IT-Ausbildung, könnten mithelfen, das Dilemma zu beseitigen. Dafür muss man sich entsprechend ausbilden, also befähigen lassen und das am besten in kurzer Zeit. Wir setzen seit über zehn Jahren auf ein Traineeprogramm, welches Quereinsteiger in überschaubarer Zeit zu Software-Entwicklern auf Junior-Niveau befähigt – und das für den Eigenbedarf [2].
Nun habe ich eingangs erwähnt, dass rund 95 Prozent der Bewerber nicht die entsprechenden Fähigkeiten mitbringen, um durch dieses Traineeprogramm zu kommen. Aber um welche Fähigkeiten geht es überhaupt und wie kann man herausfinden, ob ein potenzieller Kandidat sie in der erforderlichen Tiefe mitbringt?
Bevor ich zeigen kann, wie wir das Problem lösen, ist es natürlich sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Eigenschaften zu werfen.
Welche Eigenschaften benötigt ein Quereinsteiger?
Alles beginnt aus unserer Sicht mit Neugier. Wenn man wirklich den Quereinstieg in die Software-Entwicklung wagen möchte, muss man neugierig auf die Dinge sein, die man lernen will. Man muss neugierig darauf sein, Neues kennenzulernen und sich darauf einzulassen. Neue Dinge kennenlernen, das Unbekannte erforschen, quasi "seek out new lifeforms and new civilizations"– das ist das Mindset, was hier gebraucht wird.
Man benötigt einen notwendigen "Biss"- sich manchmal in Dinge und Themen festbeißen zu können ist wichtig. Jedoch sollte sich ein Quereinsteiger nicht verbeißen, sondern in der Lage sein, kurz loszulassen, zwei Schritte zurückzugehen, einen zur Seite zu machen oder vielleicht sogar einen anderen Weg zu versuchen – bildlich gesprochen.
Eine gewisse intrinsische Motivation ist ebenso notwendig. Im Idealfall hat man Spaß an dem Gedanken, Software zu entwickeln. Die Motivation soll nicht nur die Verheißung von viel Geld und Reichtümern sein, da wäre man am Ende vielleicht eher enttäuscht.
Eigenständigkeit bzw. Selbständigkeit ist unabdingbar notwendig, da man in der Lage sein muss, verschiedene Lösungsansätze selber zu ermitteln und auszuprobieren. Gerade im Kontext der Quereinsteiger befindet man sich in der Erwachsenenbildung, wir können niemandem mehr beibringen, wie man lernt, nur was man lernt.
Wir stellen auch stets die Frage: "Hast du Vorbilder?" Vorbilder sind unserer Meinung nach wichtig – kennt man jemanden aus der IT, dem man nacheifern möchte? Vielleicht aus dem familiären Umfeld oder im Freundeskreis? Hat man vielleicht durch sein Vorbild einen Einblick in das Tätigkeitsfeld gewinnen können?
Kritik muss man annehmen können, daher ist auch das Thema Kritikfähigkeit unheimlich wichtig. Die angenommene Kritik im Anschluss auch berücksichtigen und in Umsetzung bringen zu können gehört auch dazu. Man sollte auch nicht beleidigt reagieren, wenn man Kritik zu hören bekommt – denn das passiert insbesondere im Trainingsprogramm recht häufig.
In vielen Stellenausschreibungen in der IT wird vom Bewerber "analytisches und abstraktes Denken" gefordert. Das sehen wir am Ende des Tages natürlich auch so: Man muss in der Lage sein, Probleme zu erkennen, zu analysieren und abstrahieren zu können. Die Fähigkeit zur schnellen Einarbeitung in komplexe fachliche und technische Inhalte ist daher auch Teil dieser Eigenschaft, denn das ist etwas, was einem im täglichen Berufsleben als Software-Entwickler fortwährend begegnet.
Man braucht Mut, das Gewohnte hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu starten.
Wenn man sich diese Eigenschaften einmal anschaut, dann merkt man schnell: Das sind alles keine Geheimnisse. Falls man sich z. B. für ein Studium der Informatik einschreibt oder eine betriebliche Ausbildung zum Fachinformatiker beliebiger Fachrichtung absolvieren möchte, so kommt man nicht um diese Eigenschaften herum. Daher ergänze ich diese Liste noch um einen Punkt, der insbesondere für Quereinsteiger absolut notwendig ist: Mut. So profan es sich liest, aber man braucht ganz einfach Mut, diesen Schritt zu gehen. Mut, das Gewohnte hinter sich zu lassen und Mut, einen Neuanfang zu starten.
Wie ermitteln wir die Fähigkeiten?
Nun habe ich dargelegt, über welche Eigenschaften ein Quereinsteiger unserer Meinung nach verfügen muss, um eben dieses Traineeprogramm absolvieren zu können. Aber wie finden wir heraus, ob ein Kandidat wirklich über diese Eigenschaften verfügt? Über die Jahre hinweg hat sich diesbezüglich bei uns ein Prozess etabliert, mit dem wir genau diese Prüfung durchführen können.
Zu aller Anfang
Am Anfang steht eine Stellenausschreibung – die Anzahl der Bewerbungen ist bemerkenswert groß. Jede Bewerbung wird gesichtet und es wird bereits geprüft, ob sich gewisse Eigenschaften herauslesen lassen und über welchen Hintergrund ein Bewerber verfügt.
Dann kommt es zu einem ersten Kennenlernen – wir laden die Bewerber ein, nehmen uns Zeit und sprechen intensiv miteinander. Wir lernen den Bewerber kennen und der Bewerber lernt uns kennen. Warum möchte der Bewerber den Weg wagen? Hat er sich darüber informiert? Was sind seine Hintergründe? Was war sein bisheriger Lebensweg? Was führte ihn zu dem Punkt, dass er sich bei uns beworben hat? Gibt es schon IT-Erfahrungen? Hat man vielleicht schon mal programmiert? Wir erzählen dann natürlich auch umfassend von uns und unserer Kultur und wir erläutern auch sehr detailliert, was wir vorhaben: Wie sieht das Traineeprogramm aus, welche Perspektiven können sich daraus ergeben. Darüber hinaus erklären wir auch explizit, welche Erwartungshaltung wir an jemanden haben, der das Traineeprogramm durchläuft. Gleichzeitig möchten wir aber auch erfahren, welche Erwartungshaltung ein Bewerber an uns hat. Wir helfen ggf. Erwartungen zu formulieren. Hier finden wir bereits einiges heraus: Ist jemand neugierig, was ist die dahinterstehende Motivation und hat derjenige vielleicht Vorbilder? Hier beginnt sich bereits ein gewisses Bild aufzubauen, das wir im nächsten Schritt zu bestätigen versuchen.
Bitte programmier' mir das mal!
Wenn uns der Kandidat bis hierhin schon überzeugt hat und wir erste Funken von Neugier und Motivation entdecken konnten, übergeben wir eine kleine Aufgabe: Eine übersichtliche Fachlichkeit, die es zu implementieren gilt, mit den Mitteln von Standard-Java, Maven als Buildtool und einigen Tests mit JUnit. Bei der Fachlichkeit handelt es sich um ein kleines Tool, mit dem man Medikamentenbestände einer Apotheke verwalten können soll, auf einem recht oberflächlichem Niveau, aber dennoch auch mit fachlichen Spezialitäten, wie z. B. einer Pharmazentralnummer.
Über die Jahre haben wir gelernt, dass es sinnvoll ist, Aufgaben immer mit einer passenden, nachvollziehbaren Fachlichkeit zu stellen. Manchmal muss ein Kandidat dann ein wenig auf dieser Fachlichkeit "herumdenken", aber es sorgt für ein viel größeres Verständnis bei der Umsetzung. Uns ist absolut bewusst, dass die Programmiererfahrungen der Kandidaten völlig unterschiedlich sein können – das reicht von "Ich habe noch nie programmiert." über "Ich habe in Schule oder Studium ein bisschen mit Java gemacht." bis hin zu "Ich habe Wetterdaten mit Python ausgewertet." Aus diesem Grund setzen wir auch keine Deadline. Stattdessen fordern wir von den Kandidaten, dass sie einen Plan formulieren, wie sie an die Sache herangehen wollen und den zeitlichen Aufwand einschätzen. Diese Vorgehensweise lässt uns den Kandidaten besser verstehen: Wird hier überlegt und planvoll herangegangen? Erkennt man hier noch weiter die Neugier oder auch den Biss? Oftmals ist es so, dass wir nach Übermittlung der Aufgabenstellung gar nichts mehr von den Kandidaten hören – wir werden quasi "geghostet", was natürlich auch ein Statement seitens des Kandidaten ist. In der Regel erhalten wir aber nach unterschiedlich langen Zeiträumen, die zwischen ein bis zwei Personentagen und vier Wochen liegen, eine Lösung zur Begutachtung.
Schauen wir's uns doch mal an.
Nach erfolgter Abgabe wird die Lösung der Review eines Trainers unterzogen. Dabei berücksichtigen wir stets die Vorkenntnisse des Kandidaten, d. h. die Review ist nicht vergleichbar mit einer Review in einem echten Projektumfeld. Hier können wir noch einiges über den Kandidaten herausfinden, insbesondere was das analytische und abstrakte Denken betrifft. Wir gleichen es dabei mit dem erstellten Zeitplan ab und versuchen, in die Gedankenwelt des Kandidaten einzutauchen. Das erfordert viel Zeit und ist natürlich etwas, was man nicht einfach so "nebenbei" machen kann. Es kommt selten vor, dass ein Kandidat an dieser Stelle "durchfällt", gelegentlich geben wir ein paar Anmerkungen mit der Bitte um Verbesserung an den Kandidaten zurück, aber wenn die Lösung dann immer noch "Baeldung" in der Package-Struktur beinhaltet, gibt es ganz andere Probleme. An dieser Stelle sei angemerkt, dass wir es nicht problematisch finden, wenn sich Kandidaten populäre Tutorials im Internet anschauen, aber sie sollten zumindest in der Lage sein, die dort vorgestellten Quellcode-Teile zu adaptieren und nicht 1:1 zu kopieren.
In der Regel gibt es hier aber nur selten Probleme, so dass wir schnell einen Termin für den abschließenden Schritt des Prozesses suchen.
Erklär' uns das mal!
Im Rahmen eines sogenannten "One Days" lernen die Kandidaten unser Unternehmen noch etwas mehr kennen, unterhalten sich mit anderen Trainees, die sich aktuell durch das Traineeprogramm "quälen", nehmen an den täglichen Ritualen wie Dailies etc. teil und schnuppern etwas Büroluft. Der Tag schließt mit einem "technischen Interview", bei welchem uns der Kandidat seine Lösung vorstellt. Dazu gehen wir gemeinsam die Lösung durch und stellen Fragen. Dabei handelt es sich um Fragen, die genau auf die Implementierung der Lösung zielen und darauf, mit welcher Absicht ein bestimmter Lösungsweg gewählt wurde. Wir stellen keine Fragen zu Grundlagen der Sprache Java oder auch zur OOP-Theorie, denn woher sollten die Kandidaten dazu auch wirklich viel wissen? Auf jeden Fall erkennen wir hier schon, ob die Aufgabe eigenständig gelöst und die Lösung auch verstanden wurde – oder ob das Vorbild hier die Hauptarbeit erledigt hat oder vielleicht ChatGPT etwas zu intensiv genutzt wurde.
Durch unsere Anmerkungen prüfen wir auch die Kritikfähigkeit des Kandidaten: Wie reagiert er auf (vielleicht gar nicht so gutes) Feedback? Versteht er, warum wir soeben das Feedback so und nicht anders gegeben haben? Im Gespräch bekommen wir ebenso noch einen Einblick in die Motivation des Kandidaten. Spricht er mit Begeisterung über das, was er abgeliefert hat oder eher nicht? Zum technischen Interview gehört für uns auch ein Livecoding-Anteil: Wir deuten ganz gezielt auf etwas in der Lösung hin, was man besser machen könnte, erläutern dies und bitten den Kandidaten, diese Änderung nun auch live durchzuführen. Hier bauen wir zusätzlich noch eine Stresssituation auf. Unserer Meinung nach ist dies notwendig, denn hier sehen wir, wie ein Mensch damit umgeht. Wird der Änderungswunsch verstanden? Ist klar, wo die Änderung gemacht werden soll? Natürlich unterstützen wir, aber an diesem Punkt lernen wir den Bewerber wirklich noch besser kennen.
Alles hat ein Ende, und das gilt auch für das technische Interview. Wir versuchen schnell zu einer Entscheidung zu kommen und geben sehr offen Feedback über das Interview und die Lösung der Aufgabe. Was war gut, was war nicht so gut? Wie wirkte der Kandidat im Verlauf des Interviews? Gleichzeitig bitten wir auch den Kandidaten um ein Feedback: Wie war für dich bis hierhin der Prozess? Wie hast du die Aufgabe und das Interview empfunden?
Wir lassen den Tag dann ein wenig sacken und innerhalb der nächsten zwei Tage sind wir in der Regel entscheidungsfähig – und wenn alles gut geklappt hat, wir ein gutes Gefühl haben und vor allem auch der Kandidat ein gutes Gefühl mit uns hat, dann steht einem Start in das Traineeprogramm nichts mehr im Wege.
Fazit
Das hier geschilderte Vorgehen ist natürlich kein Garant dafür, dass jeder Kandidat, der diesen Prozess durchlaufen hat, am Ende auch erfolgreich das Traineeprogramm absolvieren kann. Diese Erfahrung mussten wir in der Vergangenheit bereits gelegentlich machen. Dem stellen wir jedoch die Erfolgsquote gegenüber, die wir mittlerweile haben – allein in den Jahren 2022 und 2023 konnten 15 von 16 Trainees das Traineeprogramm erfolgreich hinter sich bringen, insofern sind die Erfolgsaussichten recht günstig.
Es kostet allerdings sehr viel Zeit, die passenden fünf Prozent zu finden – man kann das nicht einfach nebenbei machen, allein bis zur Einladung zum technischen Interview hat man bereits recht viel Zeit (und damit Geld) investiert. Aber es lohnt sich: Unser Unternehmen konnte dank der Ausbildung von Trainees für den "Eigenbedarf" enorm wachsen und mittlerweile kommen Unternehmen auf uns zu, um von uns zu lernen, wie man ein Traineeprogramm in dieser Form erfolgreich etablieren kann.
- Bitkom: Rekord-Fachkräftemangel: In Deutschland sind 149.000 IT-Jobs unbesetzt
- Haeger Consulting: Traineeprogramm