Agile Denkfehler Nr. 4: Coachingitis
New Work und die Agile Bewegung sind mit dem Versprechen angetreten, respektvolle Arbeitsformen zu entwickeln. Mitarbeiter sollen wie Erwachsene behandelt werden. Warum werden sie dennoch durch Coaching entmündigt und infantilisiert?
Beobachtung
Wenn Sie die bisherigen Artikel in meiner Serie über agile Denkfehler bereits gelesen haben, wissen Sie, dass ich über so manche Entwicklung von New Work und agiler Transformation gestolpert bin. Sie wirken irritierend und widersprüchlich auf mich. Ich habe mich beispielsweise mit folgenden Themen auseinandergesetzt:
- Wie der Zweckrationalismus tayloristischer Denkmodelle und sein Drang zu unbegrenztem Wirtschaftswachstum und Profitmaximierung im Konflikt mit nachhaltigem Unternehmenserhalt in ressourcenknappen Zeiten der Postmoderne stehen.
- Wie Methodenhörigkeit und die Hoffnung von Manager:innen auf einfache Rezepte für komplexe Fragestellungen eine Spotifizierung und Netflixisierung von Unternehmen ausgelöst haben.
- Wie die hektische Suche nach Quick Wins agile Transformationen bedroht.
Heute vertiefe ich mich in ein weiteres Phänomen, das durch die Dynamik und Begeisterung der agilen Bewegung entstanden ist und sich mir in seinem Sinn komplett verschließt.
Notwendigkeit von Manager:innen
Fangen wir etwas weiter vorne an. In grauer Vorzeit, als von agiler Arbeitsweise noch keine Rede war, lagen das Wohl und Wehe produktiver und konstruktiver Mitarbeiter:innen in den Händen von Manager:innen. Diese sind in klassisch hierarchischen Unternehmensstrukturen wahre Universaltalente. Sie sind nicht nur das Entscheidungszentrum ihrer Mitarbeiter:innen und fachliche Autorität der Leistungsinhalte ihrer Teams. Sie sind auch die Repräsentant:innen des Unternehmens als Arbeitgeber und besitzen aus rechtlicher Sicht disziplinarische Macht und Weisungsbefugnis gegenüber den unterstellten Angestellten. Böse Zungen nennen diesen weit verbreiteten Archetyp eines/einer Manager:in auch die besserbezahlte Intelligenz. Und je höher diese Form der Intelligenz in der Unternehmenshierarchie anzutreffen ist, umso höher ist auch das Salär. Das hat vielerlei Effekte und Folgen. Persönliche und fachliche Berufskarrieren sind für Angestellte nur auf der Leiter des Managements möglich. Deswegen werden auch Fachexpert:innen früher oder später aus Mangel an Entwicklungsalternativen in eine Managementposition gehoben oder gelobt. So sichert sich das Unternehmen die Fachkompetenz der beförderten Mitarbeiter:innen. Gleichzeitig stellt es sicher, dass die jeweils fachlich kompetenteste Person alle anderen Fachexpert:innen überwacht.
Peter-Prinzip
Diese Form der Karriereentwicklung führt zu einem Phänomen, das von Laurence J. Peter festgestellt wurde, nach dem das gleichnamige Peter-Prinzip benannt ist [1]. Es besagt, dass in einer Hierarchie jede:r Beschäftigte dazu neigt, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen. Ist diese Stufe erreicht, ist jede weitere Entwicklung ausgeschlossen oder das Scheitern unvermeidlich.
Um dieser Möglichkeit entgegenzuwirken, senden Unternehmen ihre Managementmitarbeiter:innen gerne in Managementseminare. Dort soll ihnen vermittelt werden, was der eigentliche Aufgabenschwerpunkt eines/einer Manager:in ist. Koriphäen wie Peter Drucker oder Fredmund Malik haben Jahrzehnte ihres Lebens der Aufgaben- und Verantwortungsvermittlung im Management gewidmet [2]. Trotz all dieser Bemühungen und Investitionen in die Ausbildung der Managementpotentialträger:innen zeichnet sich eine Entwicklung ab: Es scheint, als wären die Probleme in Organisationen, die durch Manager:innen und unwirksames Management entstehen, größer als ihr Nutzen.
Sinn und Zweck von Management
Dabei können der Kern der Aufgabe und die Verantwortung von Manager:innen und Management auf zwei Aspekte konzentriert werden: Orientierung geben und Ambivalenzen auflösen. Ja, so schlicht und elegant können Sinn und Zweck von Management verstanden werden. Ob Vorständ:in oder Teamleiter:in, ob Bereichsvorsitzende:r oder Abteilungsleiter:in. Sie alle sollen im Kern ihrer Aufgabenstellung den ihnen anvertrauten, zugeordneten oder unterstellten Mitarbeiter:innen folgende Frage beantworten: Welchen Sinn erfüllt die Arbeit der Mitarbeiter:innen für die Abteilung und die gesamte Organisation?
Der/Die Manager:in soll also seinen/ihren Mitarbeiter:innen Orientierung geben: Welche Zielsetzungen, welche operativen und strategischen Arbeitsinhalte sollen auf welchem Niveau und zu welchen Kosten eine Leistung für welche:n Bedürfnisträger:in, Kund:in oder Kolleg:in erbringen? Aus diesen Inhalten der Orientierung können Fragen oder Irritationen entstehen. Es können Zielkonflikte einzelner Mitarbeiter:innen oder Abteilungen identifiziert werden. Vielleicht ist Mitarbeiter:innen unklar, wie operativ vorzugehen ist und welche Prioritäten gesetzt werden müssen. Bei all diesen Problem ist es die Pflicht des/der Managers:in, die erkannten oder benannten Ambivalenzen aufzulösen. Je nach Anzahl zugehöriger Mitarbeiter:innen und Komplexität des jeweiligen Aufgabenbereichs kann man davon ausgehen, dass ein:e Manager:in mit diesen beiden Punkten alle Hände voll zu tun hat und zeitlich gut ausgelastet ist.
Und ja, es gibt ausgefeilte Modelle von Henry Mintzberg oder Henri Fayol, die Managementaufgaben in detaillierter und elaborierter Form ausgestalten und erklären [3]. Aber am Ende dieser Definitionen stehen im Grunde die genannten zwei Kernelemente: Orientierung geben und Ambivalenzen auflösen.
Mitten in diese Diskussion platzt die Agile Bewegung hinein.
Agile VUCA-Dystopie
Trotz der genannten Modelle und Prinzipien reißen die Fragen und die Suche nach der besten und wirksamsten Form von Management nicht ab. Mitten in diese Diskussion, an die sich alle Beteiligten und Betroffenen schon lange gewöhnt hatten, platzt die Agile Bewegung hinein. Sie behauptet, dass in Zeiten digitaler Revolution und hoch dynamischer VUCA-Verwerfungen hierarchische Organisationsformen und klassische Managementprinzipien komplett überholt und zu wenig wirkmächtig seien. Selbstorganisation und der Umgang mit Mitarbeiter:innen auf Augenhöhe und gleichermaßen wertgeschätzt wie Führungskräfte, ganz gleich in welcher Einkommensgruppe: So sehen nun die erfolgskritischen Zutaten eines wirtschaftlich erfolgreichen und veränderungsfähigen Unternehmens aus.
Des ratlosen Helfer: der Coach
Nur zu gerne glauben Unternehmenslenker:innen und -entscheider:innen derartigen Heilsversprechen. Vor allem, wenn sie mit Erfolgsgeschichten von Tech-Giganten wie Apple, Google oder Amazon dekoriert werden. Es muss etwas dran sein an selbstorganisierten, agilen Teams, die zu Höchstleistungen fähig sind. Das hat ja auch Amy C. Edmondson in ihrer Forschung zu angstfreien Organisationen wissenschaftlich belegt [4].
Aber wie führt man Selbstorganisation in Unternehmen ein? Wie vermittelt man Mitarbeiter:innen und Manager:innen, was am aktuellen Zustand verändert werden muss und wie man ein neues Mindset gewinnt? In Ermangelung requisiter Anwendungssicherheit, -kenntnis oder -erfahrung wird nach Coaching durch Coaches gerufen. Diese sollen fehlende Fertigkeiten vermitteln, erklären und etablieren. Sie sollen den Manager:innen und Mitarbeiter:innen Orientierung darüber geben, wie selbstorganisierte Kooperation hierarchiefrei und auf Augenhöhe praktiziert wird. Sie sollen Ambivalenzen auflösen, die unter den Mitarbeiter:innen und Führungskräften hieraus resultieren.
Am Kipppunkt
Fällt Ihnen etwas auf? War es nicht die Aufgabe von Manager:innen, die letztgenannten Fragen zu klären? Sollten nicht Führungskräfte orientieren und ambivalente Entwicklungen, wie beispielsweise Konflikte, auflösen?
Fassen wir kurz zusammen. Management ist ein riskanter Karrierepfad für verdiente Fachexpert:innen, die das Handwerk des Managements nicht erlernt haben. Die verabreichten Nachhilfestunden in Managementpraktiken sind nicht ausreichend wirksam, um der Welle der VUCA-Dynamik und dem Aufkommen agiler Arbeitsformen zu entsprechen. Da Manager:innen schon mit Management überfordert zu sein schienen, mussten Coaches aktiviert werden. Sie sollten die Lücke fehlender Selbstorganisationspraxis füllen. Und nun stehen Manager:innen am Spielfeldrand und sehen zu, wie Mitarbeiter:innen sich in agilen Teams selbst organisieren und von Coaches die nötige Orientierung und Konfliktbehebung erfahren.
Verantwortungsfreies Vollzeitcoaching
Diese Entwicklung, die anfangs unternehmensfremde Coaches, wie beispielsweise freiberufliche Berater:innen, zu Rate gezogen hat, hat sich weiterentwickelt. Fast schon hat sie sich zu einer neuen Normalität in Unternehmen verstetigt. Aus den Helfern in der Not, die operative Kenntnislücken in der Kooperationspraktik schließen sollten, sind festangestellte Vollzeitcoaches geworden. Ihre Profession ist es, die Mitarbeiter:innen und Teams im Unternehmen kontinuierlich bei der operativen Arbeit und der strategischen Planung zu beobachten. Sie sollen darauf hinweisen, welche Arbeitsformen, Kommunikations- und Kooperationsmodelle genutzt werden sollen, was Mitarbeiter:innen in der Interaktion miteinander falsch machen, und wie sie Konflikte lösen und Defizite ausgleichen können.
Erstaunlich erscheint mir dieser Umstand aus zweierlei Perspektive. Erstens sollten agile Arbeitsformen Unternehmensorganisationen produktiver machen. Das Leistungsniveau der bestehenden Mitarbeiter:innen sollte gesteigert werden: und zwar durch Selbstorganisation, Empowerment, Befähigung, Methodenschulung und Sicherstellung einer angstfreien Arbeitsumgebung. Die vorhandenen Mitarbeiter:innen sollten entweder produktiver werden oder eine reduzierter Personaldecke sollte das erreichte Produktivitätslevel halten können. Was aber geschieht, ist, dass die Belegschaft wächst und durch festangestellte Coaches erweitert wird. Doch dadurch steigen die Personalkosten. Paradox, oder nicht?
Zweitens sollte die Unterstützung, Ausbildung oder Beobachtung durch Coaches dazu führen, dass die bestehende Kommunikations- und Kooperationskomplexität in der Organisation reduziert wird. In einigen Unternehmen wurden sogar Hierarchiestufen reduziert und Mitarbeiter:innen aus dem Management entlassen: Man brauchte sie ja in einer agilen, sich selbst organisierenden Firma nicht mehr.
Aber da jede:r festangestellte Mitarbeiter:in naturgemäß eine Existenzberechtigung und einen Purpose der Arbeit benötigt, also Sinn und Zweck der Arbeit sucht und findet, sind Coaches zu einem zusätzlichen Kooperationselement im Unternehmen geworden. Sie nehmen Einfluss auf Abläufe, Entscheidungswege und Kommunikationsformen. Und all das ohne die operative Verantwortung eines/einer Fachexpert:in in einem Team zu tragen und auch nicht die disziplinarische Verantwortung eines/einer Manger:in. Völlige Verantwortungslosigkeit bei maximaler Einflussnahme und vollen Bezügen. Auch paradox oder nur sensationell?
Was jetzt?
Auch wenn ich die beschriebene Entwicklung nachvollziehen kann und den Nutzen und die Relevanz temporär engagierter Berater:innen und Coaches kenne und für notwendig erachte, ist die sich entwickelnde Dysfunktionalität durch festangestellte oder permanent engagierte Coaches aus zweierlei Gründen ein kritischer Irrtum.
Ein Coach kann ein System nicht beobachten, wenn er Teil des Systems ist.
- Coaches werden benötigt, um die Interaktion von Systemelementen, in diesem Fall den Mitarbeiter:innen und Manager:innen einer Firma, zu beobachten. Sie sollen den beobachteten Akteur:innen ihre Wahrnehmungen im Rahmen von Reflexionsrunden oder Supervisionen zur Verfügung stellen. Welche Schlüsse oder Erkenntnisse die Beobachteten daraus ziehen, ist alleine deren Verantwortung. Ein Coach, in der Rolle eines/einer Beobachter:in erster oder zweiter Ordnung, wie Niklas Luhmann und Heinz von Foerster sie definiert haben, kann ein System nicht beobachten, wenn er Teil des Systems ist [5]. Und er darf nicht in das System intervenieren, da er sonst zum/zur Akteur:in wird und die Rolle des/der Beobachter:in verlässt.
- Coaches, die in Organisationen fest angestellt sind, können, da sie integraler Bestandteil und damit Akteur:in sind, bestenfalls oder am besten als Trainer:in oder Ausbilder:in fungieren. Sie können in dieser Funktion wertvolle Arbeit dabei leisten, praktische Anwendungssicherheit für Methoden und Kooperationsformen zu vermitteln. Ihr Leistungsbeitrag kann aus dieser Rolle an den Lernerfolgen der Mitarbeiter:innen erkannt werden. Eine operative Verantwortung oder eine Managementverantwortung kann so ausgeschlossen werden. Es kommt nicht zu einem Ziel- oder Interessenkonflikt zwischen den interagierenden Rollen Trainer:in, Manager:in und Mitarbeiter:in.
Und vor allem bleibt ein Unternehmen dem Grundsatz treu, seine Mitarbeiter:innen wie vollwertige, eigenverantwortliche, selbständig denkende und handelnde Erwachsene zu behandeln. Es setzt die Entmündigung und Infantilisierung der Belegschaft, die diese schon in der Managementhierarchie erlebt, nicht durch einen Coach fort.
- Wikipedia: Peter-Prinzip
- Wikipedia: Managementlehre
- Wikipedia: Strategie nach Mintzberg: 5 P’s of Strategy
Wikipedia: Fayolsche Brücke - Wikipedia: Amy Edmondson
- Wikipedia: Niklas Luhmann
Wikipedia: Heinz von Foerster