Agile Denkfehler Nr. 5: CEO
Unternehmen etablieren New Work und Agiles Arbeiten immer angestrengter. Sie wollen den Kundenfokus ihrer Produkte ausbauen. Aber warum fokussiert sich immer noch niemand auf die Kund:innen?
Verantwortungsinflation
Unternehmen, die sich mit den verschiedenen Aspekten agiler Zusammenarbeit und Arbeitsorganisation befassen, sehen sich zwei großen Themenfeldern ausgesetzt. Das eine – New Work – fokussiert sich auf die Art und Weise, wie vor allem Denkarbeit und kreative Problemlösung in Unternehmen ausgerichtet und organisiert werden sollen. Hier steht der Umgang der Mitarbeiter:innen untereinander und mit ihren Vorgesetzten im Fokus. Außerdem geht es um Themen wie beispielsweise die zeitgemäße Gestaltung der Arbeitsinfrastruktur, Arbeitszeitregelungen, Arbeitsort und Arbeitsorganisation. Mit New Work wird angestrebt, Mitarbeiter:innen als das wahrzunehmen, was sie tatsächlich sind: erwachsene, autonome und verantwortungsbewusste Individuen, die in der Lage sind, sich, ihre Aufgaben und die Kooperation mit Kolleg:innen selbstorganisiert zu gestalten.
Agiles Arbeiten als zweites Themenfeld ist auf die konkrete Organisation und Orchestrierung der Zusammenarbeit einzelner Mitarbeiter:innen in Teams, Wertströmen, Abteilungen und ganzen Unternehmen ausgerichtet. Mit diesem Themenfeld wird eine Fülle an Methoden und Methodensammlungen assoziiert. So werden Scrum, Design Thinking oder SAFe als Synonyme zu agiler Arbeit verstanden. Aus diesem Grund werden diese Methoden auch irrtümlicherweise agile Methoden genannt – auch wenn Methoden immer hochgradig stabile und starre Konstrukte sind. Aber das nur als Anmerkung am Rande.
Auch wenn New Work und Agiles Arbeiten als Themengebiete ineinander übergehen und miteinander verschwimmen, so unterscheiden sich beide in einer Reihe von Charakteristiken. Eine davon ist, dass Agiles Arbeiten mit einer Inflation an Rollen und Verantwortungsbereichen ausgestattet ist. Da gibt es, je nach Methode, die Rolle des Scrum Masters, die selbstorganisierende Teams unterstützen oder sogar coachen soll, sowie den Agile Release Train Engineer, der ganze Gruppen von Teams in einem Produktgebiet der Softwareentwicklung organisieren und diesen operative Orientierung geben sollen. Hinzu kommen die Rollen des Business Owners, Program Owners und Product Owners. Und damit nicht genug! Denn auch die traditionellen Rollen hierarchischer Organisationsmodelle sind existent und aktiv. Sie ergänzen den Rollenkanon um Führungskraft, Manager:in oder Bereichsleiter:in.
Die Idee und die Zielsetzung dieser (sogenannten) Agilen Methoden und der dafür kreierten Rollen und Funktionen ist es, Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, die sich unmittelbar auf Veränderungen der Wettbewerbssituation und des Konsument:innenverhaltens anpassen lassen. Dabei sollen die Kosten und das Risiko von Fehlinvestitionen so gering wie möglich gehalten werden.
Irritation
Im Zentrum der Absicht und Zielsetzung stehen also Kund:innen, Abnehmer:innen, Käufer:innen oder Konsument:innen. Sie sollen oder wollen die Produkte oder Dienstleistungen eines Unternehmen erwerben. Wenn wir uns die vorhergehende Auflistung weit verbreiteter Rollen nochmals ansehen, dann taucht darin keine einzige auf, die eine:n Kund:in repräsentiert. Der Product Owner repräsentiert die bestehenden und zukünftigen Eigenschaften z. B. eines Produkts. Der Product Manager steht für eine Reihe an Produkten, der Epic Owner für eine Reihe an längerfristigen Anforderungen an ein oder mehrere Produkte. Diese Rollen sollen sich allesamt in die Perspektive der Kund:innen versetzen, mit diesen möglichst im Austausch stehen. Sie sollen die Anforderungen identifizieren, die zukünftige Markt- und Bedürfnisentwicklungen an Produkte stellen. Aber ist die Relation von Kund:in zu Produkt aus Sicht von Unternehmen und Kund:innen nicht ein Denkfehler? Dazu eine kleine Anekdote.
Das wahre Leben
Unlängst habe ich bei einem großen deutschen Telekommunikationsunternehmen online einen Tarif für eine Internet-Flatrate bestellt. Ich habe also ein Produkt gekauft, das meinen Anforderungen bzw. Bedürfnissen entspricht. Aber das war nicht das Ende der Interaktion mit dem Anbieter, sondern der Anfang einer mehrmonatigen Quelle von Frustrationen und Enttäuschungen.
Wenn das Kund:innenerleben eine Katastrophe ist, entsteht ein nicht abzuschätzender Schaden.
Zunächst sollte ich online einen Termin auswählen, an dem ein:e Techniker:in in meiner Wohnung den Anschluss freischalten und damit aktivieren sollte. Dieser wurde mir elektronisch bestätigt. Zwei Tage später erfuhr ich, dass dieser Termin nicht eingehalten werden könne. Als Grund nannte mir eine Mitarbeiterin der Servicehotline, dass der von mir ausgewählte Termin ja nur ein Wunschtermin sei. Da der alternative Termin für mich nicht möglich war, musste ein dritter Termin vereinbart werden. Der Besuch des Technikers verzögerte sich um weitere drei Wochen. Am Tag der avisierten Freischaltung bekam ich zunächst nach sechs Stunden die Meldung, dass sich der Techniker verspäte und am Nachmittag eintreffe. Am Abend erreichte mich dann die Nachricht, dass der Techniker gar nicht komme. Gleichzeitig wurde mir ein Ersatztermin per E-Mail mitgeteilt, der weitere vier Wochen in der Zukunft lag. Da auch dieser für mich aus beruflichen Gründen nicht passte, habe ich erneut über die Servicehotline einen passenden Termin vereinbart. Das kostete weitere zwei Wochen Wartezeit. Am Tag der Freischaltung war ich natürlich auf alle denkbaren und undenkbaren Überraschungen eingestellt. Als mich plötzlich ein Techniker auf meiner Mobilfunknummer anrief und mir mitteilte, mein Anschluss sei jetzt freigeschaltet, war ich verblüfft, wütend und gleichzeitig frustriert. Er bestätigte mir, dass es keinen Grund gebe, eine technische Freischaltung vor Ort vorzunehmen. Das funktioniere doch eh alles über Fernwartung.
Egal wie performant meine Internetverbindung jetzt ist, ganz gleich, wie günstig der Tarif oder wie freundlich die Mitarbeiter:innen am Servicetelefon waren: Meine Wahrnehmung bezüglich Kundenfreundlichkeit oder Kundenzentrizität des Unternehmens können Sie sich sicherlich vorstellen. Das Produkt kann noch so gut sein – wenn das Kund:innenerleben eine Katastrophe ist, entsteht ein nicht abzuschätzender Schaden.
Sicher können Sie sich auch denken, dass ich dieses Unternehmen niemals wieder nutzen werde. Als Kunde bin ich für diesen Anbieter verloren. Kein Product Owner, Business Owner oder Release Train Engineer wird davon Notiz nehmen (können).
Dekonstruktion
Der Denkfehler liegt offensichtlich in der Fokussierung auf die ökonomische Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit des Produktes. Hier ist alles richtig gelaufen. Der blinde Fleck ist das Kund:innenerleben. Und ja, Sie werden sagen: Da gibt es doch das Customer Journey Mapping als Methode! Damit ist es doch möglich, eben dieses Kund:innenerleben und die Interaktion zwischen Kund:in und Unternehmen darzustellen, zu analysieren, zielgerichtet zu entwickeln und zu verbessern. Stimmt, Sie haben völlig Recht! Aber welchen Nutzen und welche Wirkung entfaltet dieses Werkzeug, wenn es im Rollenmodell dafür keine verantwortliche Rolle gibt? Wenn alle Teams darauf ausgerichtet sind und ihr Beitrag daran gemessen wird, Produktanforderungen und Produkteigenschaften zu realisieren, kann jede:r Mitarbeiter:in und jedes Team nur einen singulären Ausschnitt des Kund:innenerlebens betrachten. Den gesamten Lebenszyklus der Interaktion zwischen Kund:in und Unternehmen mit allen Angeboten hat niemand im Blick. Vor allem nicht in Unternehmen, die mehrere hundert oder tausend beteiligte Mitarbeiter:innen beschäftigen.
Oder haben einfach nur alle angenommen, dass Product Owner oder Product Manager dafür zuständig sind? Dumm nur, wenn diese Rollen von ihrer Verantwortung nichts wissen. Außerdem wird ihre Leistung lediglich an der Profitabilität eines Produktes oder einer Produktgruppe gemessen. Welche Rolle wird denn daran gemessen, wie positiv, zufrieden oder nachhaltig und nicht nur wirtschaftlich effizient und effektiv sich das Kund:innenerleben insgesamt entwickelt?
Konstruktion
Diese Perspektive sollte eine Rolle übernehmen, die in den populären Methoden und Methodensammlungen bisher komplett übersehen wird: der Client Experience Owner – Kurz CEO. Diese Rolle hat die Verantwortung, alle Produkte aus allen Segmenten und Leistungsgruppen, die in einer Kund:inneninteraktion und über den gesamten Lebenszyklus eingebunden sind, zu überblicken.
Dabei ist für diese Rolle und ihre Verantwortung der einzelne Aspekt eines Produktes weniger relevant als die Gesamtwirkung auf die Kund:innen. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel von Produktnutzung und Geschäftsprozessablauf. Aus Sicht des CEO kann dann im Kontext einer Customer Journey ein Produkt enthalten sein, das vielleicht nicht alle Profitabilitätskennzahlen objektiv erfüllt. Allerdings ist es vielleicht für die Interaktion mit dem Kunden relevant, weil er oder sie dieses Produkt subjektiv wertschätzt. Die Summe einzelner Wertschätzungen und positiver Interaktionserlebnisse ist es, die für den CEO relevant sind.
Die einzige Perspektive, die wirklich relevant ist: die des/der Kund:in.
Mit dieser Sichtweise integriert der CEO die Einzelinteressen und Schwerpunkte von Business Ownern oder Produkt Ownern oder sonstigen Stakeholdern. Er synchronisiert diese in einer Form, dass der wirtschaftliche Erfolg und die Veränderungsfähigkeit der Organisation insgesamt nachhaltig gefordert und gefördert werden. Es geht dann nicht nur um das Klein-Klein einzelner Produkte und individuelle Zielvorgaben.
Die Rolle des CEOs hat einen weiteren positiven Effekt: Sie erleichtert es, eine Organisationsstruktur aus Abteilungen oder Wertströmen zu entwickeln und zu etablieren, die nicht die einzelnen Interessen und Befindlichkeiten individueller Unternehmensbereiche sichert. Sie repräsentiert eine interdisziplinäre Sicht aller Geschäftsfähigkeiten im Unternehmen entlang der einzigen Perspektive, die wirklich relevant ist: die des/der Kund:in.