Agile Frameworks richtig skalieren
Die agile Organisation wächst: So gehen Sie Schritt für Schritt vor

Mit Agilität verhält es sich wie bei einem Puzzle: Von Mal zu Mal geht es einfacher von der Hand, die Teile sind schneller gefunden und die anfängliche Schwierigkeit weicht einer geübten Routine. Sobald das Puzzle größer wird, noch mehr Teile und Farben hinzukommen, ist allerdings eine andere Herangehensweise gefordert, nämlich eine, die Vielschichtigkeit ordnet und passend zusammensetzt. So kommen Unternehmen oft an ihre Grenzen, sobald sie agile Prinzipien von einigen Teams aus in die ganze Organisation übertragen wollen. Die Gründe: Das, was im Kleinen gut funktionierte – selbstorganisierte, interdisziplinäre Teams mit klaren Verantwortlichkeiten – wird durch zunehmende Komplexität wieder eingeschränkt und neue Rollen sorgen für Chaos.
Allzu oft fallen Unternehmen zurück in klassisches Management-Verhalten und Hierarchien, sobald das Skalieren – also das Ausweiten von agilen Prinzipien auf größere Bereiche des Unternehmens – ins Stocken gerät. Sie müssen feststellen, dass das Rahmenwerk an sich nicht allzu viel ausrichten kann, wenn die Grundlagen nicht stimmen. Wie geht es anders? Erfahren Sie in diesem Artikel, wie Sie von Anfang an die richtigen Weichen stellen.
Eine gelungene Skalierung braucht ein solides Fundament
Die Strukturen in Organisationen geben den Ausschlag für den Erfolg agiler Prinzipien. So sollten sich Unternehmen bewusst machen, dass zunächst folgende Stellschrauben essenziell für eine gelungene Verbreitung in die ganze Organisation sind:
Die Organisations- und Produktarchitektur muss sicherstellen, dass verschiedene Teams möglichst unabhängig voneinander arbeiten können und die Kommunikation reibungslos läuft. Das gelingt mit flexiblen Strukturen und flachen Hierarchien. Flexible, kleinteilige und am Produkt orientierte, geschnittene Einheiten stärken die Autonomie, Crossfunktionalität und End-to-End-Verantwortlichkeit. Daneben fungieren zentrale Support-Einheiten mit der Aufgabe, die produktorientierten Einheiten als interne Kunden zu unterstützen.
Eine funktionierende Infrastruktur, technisch auf dem neuesten Stand, ist essenziell, um untereinander Informationen auszutauschen und Produktteile unabhängig voneinander herauszugeben. Dazu gehören moderne Kollaborations- und Kommunikationstools wie Wissensmanagementsysteme, Video- und Chat-Tools genauso wie automatisierte Tests und Self-Provisioning als Beispiele für die Softwareentwicklung sowie 3D-Druck, Simulations- und Maker-Tools für die Hardware-Produktentwicklung. Erst dadurch werden schnelle Lieferungen möglich. Auch die räumliche Komponente und die Arbeitsmittel machen einen großen Teil des Erfolgs aus: offene Gestaltungsprinzipien, Rückzugs-, Meeting- und Begegnungszonen, Whiteboards und Flipcharts, aber auch moderne Arbeitsgeräte und -plätze machen den Unterschied (Mobile-Working-Konzepte für die freie Sitzplatz- und Gerätewahl).
Qualitativ hochwertige Lieferungen erfordern die notwendigen Skills und Erfahrung, um das Vorhaben zu bewältigen. Die Stärken gilt es im Sinne der Kundenorientierung auszurichten, um die Bedürfnisse der Nutzer:innen von Produkten und Leistungen optimal zu erfüllen. Dazu gehören zum Beispiel: fachliches Wissen (Branchenkenntnisse, Veränderung der Geschäftsmodelle, Trends etc.), technologisches Wissen (State-of-the-Art-Technologien, Wissen zu technologischen Alternativen, moderne Infrastrukturen für die Entwicklung etc.), methodisches Wissen (moderne Entwicklungs- und Steuerungsmethoden, Facilitation, Workshop-Designs etc.) und Soft Skills (Entwicklung und Förderung von Teamperformance, Kommunikation, Konfliktlösung etc.).
Kundenorientierung meint am Kundennutzen ausgerichtete Produktentwicklung, gestützt durch eine inspirierende Vision, nutzerorientierte Innovationsprozesse wie Design Thinking und datenvalidierte Personas. Das schließt eine frühe Lieferung von Kundennutzen durch konsequentes Denken in Minimum Viable Products sowie ein regelmäßiges und frühzeitiges Lernen durch die kontinuierliche Verprobung erster Ergebnisse mit realen Anwendern ein.
Management-Frameworks unterstützen dabei, das Gesamtsystem der Organisation zu steuern und im Blick zu behalten. So haben iterative und datengetriebene Steuerungsinstrumente einen Einfluss auf kürzere Entscheidungs-, Liefer- und Lernzyklen. Sie helfen operativen Teams bei der Steuerung von größeren Vorhaben mit dem Fokus auf Abstimmungs- und Abhängigkeitsmanagement.
Führung und Kultur des Unternehmens sollten sich stetig weiterentwickeln und agile Werte und Prinzipien in ein modernes Führungsverständnis integriert werden. Das Management konzentriert sich dabei auf Märkte und Ergebnisse mithilfe einer Vision und strategischen Prioritäten. Dazu gehört auch eine offene und transparente Unternehmenskultur, um das Vertrauen zu stärken und Mitarbeitende zu motivieren, Eigenverantwortung zu übernehmen.
Auf dem Weg zu einer agilen Organisation sind Veränderungsbereitschaft und Willen auf jeder der sechs Ebenen essenziell. Unsere praktischen Erfahrungen aus diversen Transformationsprojekten bilden die Grundlage für das myScaled-Agile-Vorgehen, ein speziell entwickeltes Metamodell. Anstelle auf vorgefertigte Skalierungs-Frameworks und Blueprints zu setzen, ist eine individuelle Herangehensweise empfehlenswert. Ziel des Vorgehens ist das Abbilden der vielschichtigen Themen und Entwicklungsstränge, die ein agiles Arbeitsmodell benötigt sowie das Aufteilen in eine sinnvolle Reihenfolge. Diese Herangehensweise eignet sich sowohl für die Entwicklung eines Frameworks für einen kleinen Bereich mit drei bis vier agilen Teams als auch für die Entwicklung eines Frameworks für eine gesamte Organisation.
1. Schritt: Das Vorgehensmodell individuell vorbereiten
Um die Bedürfnisse der Organisation zu erfassen, ist zunächst eine Status-quo-Analyse unabdingbar. Wir empfehlen, diese in Form einer Retrospektive aus der Belegschaft einzuholen und im Rahmen eines repräsentativen Querschnitts abzufragen, welche Prozesse und Strukturen aus Sicht der Mitarbeitenden bereits gut funktionieren und beibehalten werden sollen und welche aus ihrer Sicht verbessert werden können. Eine Retrospektive ist ein moderiertes Workshop-Format, in dem gemeinsam auf Vergangenes geschaut und daraus Rückschlüsse und Erkenntnisse für künftige Prozesse gezogen werden. Die Vorteile einer solchen Vorgehensweise: Erstens werden die Mitarbeitenden von Anfang an mit einbezogen. Und zweitens: Durch die unterschiedlichen Bereiche, die involviert sind, ergibt sich ein umfassendes Bild über die aktuellen Gegebenheiten im Unternehmen – transparent, schonungslos und ehrlich.
Idealerweise versteht sich das Top-Management auch als direkter Auftraggeber.
Nach dieser Bestandsaufnahme liegen der Organisation umfassende Antworten zu den Dingen vor, die beibehalten werden sollen und denen, die aktuell die Zusammenarbeit und das schnelle Ausliefern von qualitativ hochwertigen Produkten behindern. Das Ergebnis der Retrospektive (es sind auch mehrere möglich) kann dann den sechs Faktoren für eine erfolgreiche Skalierung zugeordnet werden. Das hilft, die Bedeutung und den Umfang einzelner Punkte hervorzuheben. So entsteht ein Zielbild, das im Laufe der nächsten Schritte immer wieder Indikator für die Transformation sein wird.
Zudem gilt es in dieser ersten Phase, gemeinsam mit dem Top-Management festzulegen, welche Strukturen und Prozesse geändert werden dürfen und welche nicht – das betrifft zum Beispiel die Einstellung zu Rollen und Bereichen oder einen möglichen Wegfall bzw. eine Umstrukturierung derselben. Je klarer hier die Kommunikation und die Formulierung von Design-Prinzipien als Leitplanken eines neuen Frameworks sind, desto weniger (böse) Überraschungen gibt es während der Umsetzung. Idealerweise versteht sich das Top-Management auch als direkter Auftraggeber.
Zuletzt sollte ganz klar sein, welche (auch strategischen) Ziele hinter der Veränderung stehen. Ist die Veränderung auf größere Bereiche oder sogar die gesamte Organisation angelegt, empfehlen wir Botschafter:innen, die aktiv Verantwortung übernehmen und dazu beitragen, den Veränderungsprozess in die Organisation zu tragen. Dieses sogenannte Transformationsteam beseitigt Hindernisse, treibt die Veränderung in Richtung Geschwindigkeit und Kundenzentrierung an und ist darüber hinaus das Sprachrohr der Veränderung im Unternehmen. Es rekrutiert sich – wie ein Scrum-Team – crossfunktional aus den unterschiedlichen Bereichen. Typische Besetzungen umfassen Personen aus Strategie, Personal, Management, Produktentwicklung, Kommunikation, Vertrieb und Liniengeschäft. Idealerweise tritt pro Bereich mindestens ein:e Vertreter:in bei, die Zusammensetzung hängt jedoch stark vom jeweiligen Unternehmen und dessen Struktur ab. Wichtig ist, dass die Mitglieder freiwillig Teil des Teams sind, was nicht automatisch auch heißt, dass diese gegenüber der Veränderung absolut positiv eingestellt sein müssten. Sie glauben jedoch daran, dass sich die Organisation mit Hilfe der agilen Transformation zum Positiven verändern wird. Mit dem Transformationsteam haben Sie zudem eine Art Qualitätskontrolle an der Hand: Die Regel ist, dass das Team das einzuführende Framework bzw. Maßnahmen, die mit der Veränderung zusammenhängen, zunächst selbst ausprobiert. So können Stolpersteine eruiert und Prozesse von Anfang an optimiert werden.
2. Schritt: Das neue Arbeitsmodell designen
In der zweiten Phase unterzieht sich die Organisation einer grundlegenden Prüfung von Prozessen und Strukturen: Hierarchien, Rollen und Abläufe werden hinterfragt und entsprechend angepasst. Der Kern dieser Phase ist es, die neue Aufbau- und Ablauforganisation festzulegen. Spätestens bei der Bewertung und Abstimmung des neuen Organisationsdesigns offenbaren sich die verschiedenen Vorstellungen und es kommt oft zu Meinungsverschiedenheiten. Um hier gegenzusteuern, hilft es, das Zielbild der Organisation immer wieder heranzuziehen und konkrete Design-Prinzipien und Rahmenbedingungen für die Framework-Entwicklung festzulegen. Diese definieren für alle Beteiligten transparent die Leitlinien und Regeln.
Das Transformationsteam moderiert federführend die Workshops und unterstützt dabei, die autonomen Teams auf ein Ziel hin auszurichten: eine stärker auf den Kunden ausgerichtete Organisation. Um eine solche Organisation aufzubauen, ist die Führung stark gefragt: Hier müssen Unternehmen grundsätzlich auf neue Führungsmodelle setzen, denn antiquierte Vorstellungen sind Gift für den agilen Betrieb. Die meisten agilen Arbeitsmodelle setzen stattdessen auf Hierarchieabbau und Mitbestimmung aller Beteiligten, um die Selbstorganisation und die Entscheidungskompetenz der Teams zu stärken.
Für große Umstellungen hat sich das Konzept Open Space Agility bewährt.
Erst im zweiten Schritt kommt das Entwickeln neuer Abläufe hinzu. Das Transformationsteam kann sich auf verschiedene Modelle berufen, um die schwierige Herausforderung der gemeinsamen Ausrichtung der Teams anzustoßen und umzusetzen. Ein bewährtes Modell ist beispielsweise das Flight-Levels-Konzept von Klaus Leopold. Es hilft dabei, den Überblick über Entscheidungen auf den jeweiligen Ebenen (Strategie, Koordination und operative Ebene) zu behalten. Daneben beinhaltet ein agiles Arbeitsmodell ein Zielmanagement, das dazu dient, die Vision der Organisation in gemeinsame Ziele für Bereiche und Teams zu übersetzen. In den letzten Jahren hat sich für diesen Zweck immer stärker die Methode Objectives and Key Results (OKR) als geeignet erwiesen. Sie stößt meist einen Prozess an, sich quartalsweise mit Zielen auseinanderzusetzen und fördert die Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Teams und der Mitarbeitenden. Neben dem Zielmanagement, in das das Top-Management der Organisation mit eingebunden ist, benötigen die handelnden Akteure Konzepte, die ihnen bei der Koordination großer Arbeitspakete mit mehreren, eingebundenen Teams helfen – zum Beispiel das sogenannte Big Room Planning oder ein Lean-Portfolio-Management-Prozess. In einem letzten Schritt geht es dann darum, konkrete Synchronisierungsmechanismen für die Zusammenarbeit zwischen den Teams und mit den Stakeholdern zu definieren.
Flight-Levels-Modell von Klaus Leopold
Das Modell beschreibt die drei Ebenen einer Organisation, die bedient werden müssen, um die gewünschten Resultate zu erzielen:
- Liefer- bzw. Teamebene (Level 1): Auf dieser Ebene stimmen sich oft mehrere Teams beim gemeinsamen Liefern von Produktinkrementen, bei gemeinsamen Anforderungen und der konkreten technischen Umsetzung ab.
- Koordinationsebene (Level 2): Auf diesem Level erfolgt die End-to-End-Abstimmung: Welche Anforderungen wann geliefert werden.
- Strategische Ebene (Level 3): Der Fokus liegt auf der Priorisierung der Inhalte, die im System geliefert werden sollen.
Welche Systeme gibt es in der Organisation bereits und wie sind sie miteinander verbunden? Dieser Frage geht das Modell primär nach. So ist der Bedarf an Kommunikation und unterstützenden Prozessen an diesen Schnittstellen besonders hoch. Wichtig: Die drei Ebenen sollten unbedingt als Einheit betrachtet werden und alle Wege sollten in beide Richtungen verlaufen. Die Prozesse müssen ermöglichen, dass Ideen, Vorschläge und Feedback der Kunden in die Strategie einfließen. Das bedeutet, dass das Feedback von Level 1 (Teamebene) auch Level 3 (strategische Ebene) erreicht. Nur so können die Teams, die nah an den Kund:innen und Nutzer:innen sind, die Strategie beeinflussen.
In der Phase der Prozessentwicklung ist es wichtig, zuerst die bestehenden Koordinationsmechanismen innerhalb des jeweiligen Levels als auch zwischen den verschiedenen Levels zu identifizieren. Danach werden diese angepasst, indem bestehende Formate zu einem Meeting zusammengefasst oder abgeschafft werden, weil sie durch neue Formate ersetzt werden. Erfahrungsgemäß ist das der beste Weg, um ein möglichst schlankes Steuerungssystem zu etablieren.
In großen Organisationen agieren auf den verschiedenen Flight-Levels häufig mehrere Systeme, die ebenfalls miteinander im Austausch stehen sollten, um gegenseitige Abhängigkeiten zu managen – etwa zwischen unterschiedlichen Bereichen. Damit steigt die Komplexität: Nicht nur müssen die richtigen Formate zwischen Flight Levels 1 bis 3 gefunden werden, sondern auch innerhalb eines Flight Levels zwischen verschiedenen Bereichen.
Abb. 2 zeigt die verschiedenen Ebenen und einen praxiserprobten Flow mit Events, Artefakten und Vorgehensweisen.
3. Schritt: Das neue Arbeitsmodell implementieren
In der dritten und letzten Phase liegt der Fokus darauf, einen Plan für die Verbreitung aufzustellen und das Modell zu implementieren. Auch hier ist das Transformationsteam in der Verantwortung und sollte explizit damit beauftragt werden, das neue Konzept zuerst in einem Piloten anzuwenden und anschließend die Umstellungen in weiteren Teilen der Organisation voranzutreiben. Für große Umstellungen hat sich das Konzept Open Space Agility bewährt. Es setzt auf eine Großgruppenveranstaltung zu Beginn der Veränderung (ab Phase 3) mit allen Beteiligten, in der diese eingeladen werden, in den nächsten hundert Tagen zu vorab definierten Themen Experimente durchzuführen. Im Fall der Implementierung des neuen Skalierungs-Frameworks wäre das ein Mindestmaß an Kriterien, das jedes Team innerhalb der ersten hundert Tage für sich umsetzt. Danach kommen alle Teams wieder zusammen und teilen ihre Erfahrungen miteinander. Hierdurch wird gemeinsames Lernen und die Weiterentwicklung des Frameworks ermöglicht. Anschließend geht es in die nächste Hundert-Tage-Iteration, in der weitere Aspekte des Frameworks in den Teams adaptiert werden.
Fazit: Dreh- und Angelpunkt jeder Transformation ist der Mensch
Das Verbreiten agiler Prinzipien in größere Bereiche oder die gesamte Organisation, erfordert eine gute Vorbereitung und Mut, Strukturen und Prozesse grundlegend zu überprüfen. Das Vorgehensmodell ermöglicht eine klare Herangehensweise und dient dazu, den Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten zu behalten. Der entscheidende Erfolgsfaktor sind aber die Mitarbeitenden, die sich auf neue Wege einlassen und individuelle Lösungen für das ebenso individuelle Unternehmen finden. Dabei gilt: Lieber ein schlankes, übersichtliches System, das Menschen ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen und schnell Entscheidungen zu treffen, als bürokratische Prozesse.