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Dieter Rösner 08. März 2016

Laterale Führung und Selbstorganisation im Kontext agiler Projektarbeit

Das Thema Führung hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Renaissance erfahren. Inzwischen widmet man der Funktion Führung in Unternehmen und Organisationen wieder größte Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch den Einsatz agiler Modelle und Verfahrensweisen in der Projektarbeit. Neue Rollen wie Scrum Master und Product Owner, aber auch eine Neubewertung der klassischen Management- und Führungsfunktionen bringen "frischen Wind" in Theorie und die Praxis.

Führung bezieht sich grundsätzlich auf die Gestaltung von Interaktionen zwischen Führern und Geführten (Mitarbeiterführung) und auf das Lenken und Gestalten sozialer Systeme (Unternehmens-/ Organisationsführung) und ist ihrem Wesen nach auf Einflussnahme zur Organisation und Steuerung ausgerichtet. Grundsätzlich kann in zwei Formen von Führung unterschieden werden. Führung mit disziplinarischem Mandat und weitgehenden Weisungsbefugnissen und in laterale Führung. Diese muss ohne dieses disziplinarische Mandat auskommen. Sie ist idealerweise legitimiert durch eine Funktionsbeschreibung (z. B. Projektleiter, Scrum Master, Product Owner) und einem definierten Auftrag. Sie soll quasi-hierarchische Aufgaben im Team übernehmen, ohne dabei die Mitarbeiter zu dominieren.

Laterale Führung ist in diesem Sinne als zielorientierte, soziale, interpersonelle Verhaltensbeeinflussung von "in etwa Gleichgestellten" zu verstehen. Und zwar insbesondere mittels dialogischer Kommunikation und Abstimmung zur Erfüllung der gemeinsamen Aufgaben. Im Gegensatz zu stark hierarchischen Führungsstrukturen können Fragestellungen hier nicht durch direktive Weisungen geregelt werden. Sondern sie müssen im Schwerpunkt durch gegenseitige Abstimmung und Kompromiss und Konsens ausgehandelt und erreicht werden. Wesentliche Basis lateraler Führung ist der Aufbau von Vertrauen zwischen Führung und Geführten. Die Machtkomponente ist gering ausgeprägt und kann (muss) bei Bedarf von der disziplinarischen Führung zur Klärung und/oder Unterstützung eingefordert werden.

Besonders dort, wo Selbstorganisation im Team im Arbeitsprozess eine zentrale Rolle spielt, wie in agilen Modellen à la Scrum, haben laterale Führungsfunktionen eine zentrale Bedeutung gewonnen. Sie sind selbst integrierter Teil der Selbstorganisation des Teams und haben gleichzeitig die Aufgabe, aus einer gewissen Distanz heraus Führung zu übernehmen. Laterale Führungsfunktionen sollen auf die Prozesse der Selbstorganisation eines Teams gezielt Einfluss nehmen um Produktivität und Qualität zu unterstützen. Dass dies eine herausfordernde und oft schwierige Aufgabe ist, zeigt sich in meiner Praxis als Führungskräftecoach immer wieder. Davon kann übrigens auch fast jeder Projektleiter im klassischen Projektsetting "ein Lied singen".

Laterale Führung kann über sechs wesentliche Grundelemente die Prozesse von selbstorganisierten Teams (mit-)gestalten und entwickeln. Diese Elemente kennzeichnen prinzipiell jede Form von Selbstorganisation und sind sozusagen ein "natürlicher Kompass", für laterale Führung, sowohl zur Analyse, als auch zur Intervention bezüglich ihrer Teams.

Spaß an der kooperativen Arbeit kommt mit Erfolgen, mit dem Erleben von Teamspirit und mit interner und externer Anerkennung.

Um zu kooperieren und sich selbst zu organisieren brauchen Menschen ein gemeinsames "Problem", das heißt eine Aufgabenstellung, die für die Beteiligten gut nachvollziehbar, von mehreren Personen besser (oder ausschließlich) bearbeitet werden kann, als in Einzelarbeit. Nur dann macht es für die Betroffenen echten Sinn und ergibt die Notwendigkeit zur Selbstorganisation. Kooperation als wesentliches Element von Selbstorganisation erhöht jedoch im Arbeitsprozess zuerst mal die Komplexität und erscheint daher nicht per se als unbedingt erstrebenswert. Vor allem dann, wenn die bisher praktizierte Einzelplatzarbeit als erfolgreich erlebt wurde. Für laterale Führung kommt es also darauf an, Sinn und Nutzen von Selbstorganisation zu vermitteln und rationale, nachvollziehbare Argumente zu kommunizieren "warum und weshalb". Ebenso ist es auch wesentlich, positive emotionale Erfahrungen mit Kooperation zu ermöglichen. Spaß an der kooperativen Arbeit kommt mit Erfolgen, mit dem Erleben von Teamspirit und mit interner und externer Anerkennung. Es braucht oft Zeit bis alle Mitarbeiter die Notwendigkeit und den Vorteil von Selbstorganisation im Arbeitsprozess erkennen und nachvollziehen können. Hier kann und muss Führung Zeit geben und Lern- und Erfahrungsprozesse zur Verfügung stellen. Notwendigkeit erzeugt rationale Einsicht und emotionale Zustimmung.

Zweite Grundkomponente von Selbstorganisation ist Struktur (Ordnung). Diese gibt Teams Orientierung und Sicherheit und macht die erhöhte Komplexität der Zusammenarbeit handhabbar. Dies heißt, klare Rahmenbedingungen (in der Regel durch die disziplinarische Führung) festzulegen und zu kommunizieren. Rahmenbedingungen heißt u. a. Verantwortungsbereiche festlegen, Arbeitsstrukturen (z. B. Scrum, andere Projektverfahren) zu definieren, Meetingregeln zu installieren, Rollen und Funktionen auszustatten und zu legitimieren, usw. Das Spannungsfeld von Grenzen und Freiräumen muss transparent und im Idealfall dort wo möglich durch ein gemeinsames Commitment manifestiert sein. Laterale Führung ist sozusagen im Auftrag des Managements der "Hüter" dieser externen Strukturen und Ordnungsmuster und sollte Konsequenz im Umgang damit zeigen. Dass dies eine durchaus sehr ambivalente Position darstellt, die Betroffenen häufig stark herausfordert, ist nachvollziehbar, aber nicht zu vermeiden. Beide Parteien im Selbstorganisationsprozess zu vertreten, geht nur mit Klarheit, Gelassenheit, Standing und einer Portion Mut. Selbstorganisierte Teams brauchen jedoch auch interne, selbstbestimmte Ordnungsnormen und Regeln, sowohl auf der fachlichen als auch sozialen Ebene. Laterale Führung hat hier die Aufgabe, Anstöße für die Entwicklung solcher formaler Strukturen zu geben, sie zu committen und bei Bedarf zu modifizieren. In Meetings, wie z. B. der Retrospektive, kann laterale Führung das Strukturgefüge mit dem Team reflektieren und ihm helfen, sich mit strukturellen Fragen und Problemstellungen auseinanderzusetzen. Teams brauchen zwar Ordnung und Struktur, sehen aber eher in ihren fachlichen Aufgaben die eigentliche Profession und weniger in der Gestaltung von Strukturen. Darin kann die Führung eine ihrer zentralen Aufgaben sehen und für ihr Team die Pflege von Strukturen mit übernehmen. Gute Strukturen machen frei.

Drittes Grundelement von Selbstorganisation ist Freiwilligkeit. Freiwilligkeit erzeugt intrinsische Motivation und hohes Engagement und ist die für Performance eines selbstorganisierten Teams eine (die) entscheidende Antriebskraft. Allerdings ist Freiwilligkeit auch eine durchaus eigenwillige Erscheinung und braucht besondere Bedingungen um zu wirken. Man kann in unserem Zusammenhang drei Arten von Freiwilligkeit unterscheiden.

  • "Erzwungene Freiwilligkeit", die von den Betroffenen in der Regel als Unfreiwilligkeit erlebt wird, ist für unser Thema nicht funktional. Sie kann nur als kurze Bedenkzeit akzeptiert werden und muss in der Regel zu einer Entscheidung im Sinne von Ja oder Nein zur selbstorganisierten Teamarbeit führen.
  • "Bedingte Freiwilligkeit" hießt in der Regel einverstanden zu sein, rationale Einsicht in die Notwendigkeit zu haben, ohne jedoch "Herzblut" zu investieren. Laterale Führung kann bei Einzelfällen im Team damit leben. Sie muss es jedoch als ihre Aufgabe sehen, mit dem/den Betroffenen weiter zu kommen, um eine höhere Stufe von Freiwilligkeit zu entwickeln. Auch hier gilt es, Zeit zu lassen, positive Erfahrungssituationen zu kreieren und z. B. in coachingorientierten Einzelgesprächen Entwicklung anzustoßen. Ein Team, in dem diese Form der "bedingten Freiwilligkeit" dominiert, kann und wird allerdings mittelfristig in selbstorganisierter Formation nicht überleben.
  • „Unbedingte Freiwilligkeit“ als dritte und hocherwünschte Form ist ein Überlebensmotor von Selbstorganisation jeder Coleur. Sie ist intrinsisch, "ohne wenn und aber" angelegt und erzeugt bei Einzelnen, aber auch beim Team als Ganzes den besonderen Flow zur High Performance. Ist ein hohes Maß an unbedingter Freiwilligkeit erreicht, kann laterale Führung loslassen und sich im Schwerpunkt als Coach und Begleiter einbringen. Dies heißt, Erfolge erleben lassen und aus einer gewissen Distanz als Beobachter, Impedimentmanager und Impulsgeber fungieren. Freiwilligkeit nutzt allen, dem Einzelnen und dem System.

Stimmt die Chemie, stimmen die Ergebnisse.

Nummer vier ist die Synchronisation in Bezug auf die Heterogenität der Individuen, hin zu einer kooperativen und synergievollen Einheit. Synchronität heißt, eine gemeinsame Wellenlänge gefunden zu haben und weiter zu entwickeln. Sie entsteht durch intensiven Kontakt, durch Kommunikation und gemeinsam gemachte Erfahrungen. Laterale Führung muss also Kontakt fördern, gezielt Beziehungen gestalten, fachlichen und sozialen Austausch von Informationen, Wissen, Erfahrungen und Erfolge ermöglichen. Gerade im agilen Kontext spielen häufige und gezielt strukturierte Treffen eine wesentliche Rolle. Diese Formate zu nutzen, funktional zu strukturieren, aber auch Zeit zum persönlichen Kontakt zu ermöglichen, ist Führungsaufgabe. Aber auch die Ermutigung zur gemeinsamen Aufgabenbewältigung und Problemlösung zu zweit, zu dritt usw., im täglichen Arbeitsprozess, ist ein wichtiger Faktor der Synchronisation. High Performance-Teams sind immer hoch-synchron und beherrschen ihr Zusammenspiel sozusagen "im Schlaf". Eine aktuelle Methode in diesem Sinne ist z. B. "mob programming" in der Softwareentwicklung, in dem einen Aufgabe von einer Kleingruppe (z. B. fünf bis sechs Teilnehmer) an einem PC gemeinsam bearbeitet wird [1]. Stimmt die "Chemie", stimmen die Ergebnisse.

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans locker immer noch.

Um gemeinsame Aufgaben im Team selbstorganisiert bewältigen zu können, braucht es als fünftes Element entsprechende Kompetenzen auf mehreren Ebenen. Sofort nachvollziehbar ist natürlich, dass die fachliche Kompetenz, die die Aufgabe erfordert, in möglichst hohem Maße vorhanden sein muss. Ebenso braucht es methodische Kompetenzen wenn, wie z. B. in einem Format wie Scrum, eine komplett neue Vorgehensweise erlernt und umgesetzt werden muss. Drittens ist organisatorisches Wissen bezüglich der Prozesse der Selbstorganisation, wie z. B., Rollenverhalten, Meetinggestaltung usw., zwingend nötig. Und nicht zuletzt soziale Kompetenzen, um das Zusammenspiel aller Beteiligten (s. Synchronisation) zu gewährleisten. Zentral ist hier vor allem Know-how zum Thema Kommunikation, wenn man davon ausgeht, dass Selbstorganisation über soziale Interaktionen und dialogische Kommunikation geschieht. In Bezug auf Kompetenzen kann und sollte laterale Führung partiell in die Rolle des "Trainers" schlüpfen und in gezielten Einheiten Lernimpulse anbieten. Lernen jeder Art ist ein neurologischer Vorgang, der Zeit und vor allem Wiederholung und Übung braucht. Mitarbeiter, die diese Führungsrolle übernehmen, werden ja meist deshalb ausgewählt, weil sie in diesen Kompetenzfeldern bereits mehr Wissen und Erfahrung mitbringen als andere. Dazu werden sie (oder sollten sie zumindest, oft aber in der Praxis allerdings zu wenig), vor der Übernahme dieser Rolle spezifisch geschult. So sollte und kann jede Gelegenheit, z. B. Meetings, Workshops, situative Problemlösungssessions (bewusstes und unbewusstes kollegiales Lernen) genutzt werden, um nötige Kompetenzen weiter zu entwickeln. Ebenso sollte laterale Führung die Mitarbeiter unterstützen, gezielt interne und externe Weiterbildungsangebote zu nutzen. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans locker immer noch.

Ein wesentlicher Grundwert des agilen Modells [2] ist es, Entwicklung als permanentes Element von Selbstorganisation zu implementieren und aktiv zu praktizieren. Teams in agiler Selbstorganisation reflektieren ihr Agieren auf den unterschiedlichsten Ebenen in permanenten, kleinen und überschaubaren Einheiten mit Lösungsorientierung. Dies dient der Optimierung und Anpassung des Systems an innere und äußere Herausforderungen, die in der fluiden und komplexen Arbeitswelt mehr als je zuvor permanente Realität sind. Laterale Führung ist hier als Beobachter und Innovator gefragt. Um Routinen (die ja per se nicht negativ sind), auf ihre Noch-Funktionalität zu hinterfragen, hat laterale Führung, die ja in der Regel sehr nahe an Arbeitsprozessen und Menschen ist, die Möglichkeiten, positive Irritation zu erzeugen und neue Lösungen zu generieren. Ob situativ oder geplant, z. B. in Retrospektiven, muss kontinuierlich Weiterentwicklung aktiviert werden. "Aus Fehlern wird man klug, deshalb ist einer nicht genug". (Wilhelm Busch)

Fazit

Laterale Führung ist nicht völlig neu. Der klassische Projektleiter hatte schon immer diesen spezifischen Führungsstatus. Auch im Zuge verschlankter Hierarchien in den 90er Jahren hat man diese Führungsform verstärkt eingesetzt, um zu große Führungspannen auszugleichen. Häufig wurde jedoch laterale Führung als "zahnloser Tiger" oder als "lahme Ente" eher belächelt als wertgeschätzt und effektiv eingesetzt.

Aktuell ist Führung ohne disziplinarisches Mandat ein zentraler Faktor von Prozessen der agilen Selbstorganisation in Teams aller Art. Sie ist, wenn sie entsprechend legitimiert und kompetent umgesetzt wird, ein unverzichtbares Element agiler Selbstorganisation. Weniger im Sinne von Macher (Manager), sondern tatsächlich im Sinne des Impulsgebers und Begleiters. Das heißt konkret, präsent und initiativ sein, "Zähne zeigen" und "spürbare Dynamik" entwickeln, aber auch partielle Distanz und bewusstes Loslassen praktizieren. Die oben aufgezeigten sechs Elemente sind dabei das "Spielfeld" für wirkungsvolles laterales Führungshandeln im Interesse selbstorganisierter Teams und Unternehmen.

Autor

Dieter Rösner

Dieter Rösner ist freiberuflicher Berater, Trainer und Business Coach sowie Partner der VECTIS Consulting GmbH Nürnberg.
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