Agile Transformationen neu gedacht
Agile Frameworks sind wie Diäten: Jedes Jahr gibt's neue, aber all die Frameworks, die Zertifizierungen und Coaches dahinter haben nicht den erwünschten Erfolg bei agilen Transformationen erzielt. Mit einem Blick auf die letzten 10+ Jahre fällt auf, dass das Individuum, die Mitgestaltung und die Kultur – wenn überhaupt – nur am Rande im Fokus sind. Der Artikel zeigt auf, wo blinde Flecken bei Beteiligten und vor allem Coaches liegen und welche noch recht wenig beachteten Methoden und Modelle hier Hilfe anbieten.
"Agnes, du befasst dich doch nun seit 20 Jahren mit agilen Methoden, oder?", fragt Lisa und tippelte nervös an ihrem Montagmorgen-Kaffee. Und ohne auf eine Antwort zu warten, fährt sie fort: "Sag mal, kannst du mir in meiner Rolle als Transformations-Lead Tipps geben, was aus deiner Erfahrung heraus innovative Ansätze sind, um meine festgefahrene Transformation wieder in Schwung zu bringen?"
"Gerne, Lisa. Also, da ihr eine komplette Abteilung transformiert und daraus 3 Tribes formt, würde ich zuallererst mal prüfen, wie agile Teams und Leadership ins Coaching eingebunden sind", erwidert Agnes mit einem Stapel Schulungsunterlagen unter dem Arm. "Und vor allem wie ihre Haltung zur Transformation ist! Gerade Key Player innerhalb und außerhalb der Teams sind wichtige Multiplikatoren. Diesen widmen wir vor lauter Skalierung und Frameworks oft nicht genügend Aufmerksamkeit. Sprecht am besten mit allen Beteiligten auch über eure Ziele und die anvisierten Werte!"
Lisa schaut etwas verwirrt, "Wir haben gelernt, was Rollen, Events, Abläufe und Artefakte im Agilen sind. Mit Werten haben wir nichts gemacht. Was würde das helfen?"
"Das ist die Grundlage von Being agile over doing agile und damit für ein tieferes Verständnis und eine effektivere Anwendung von agilen Methoden. Du holst nicht nur den Einzelnen ab, sondern nimmst die Werte und weitere Faktoren mit in die Arbeit an der Kultur auf. Das hilft dir nicht nur, die Frage nach dem Sinn der Transformation, sondern auch Sinn von Agilität und dem Dasein deiner Abteilung zu klären."
"Puh, das ist viel. Also nehmen wir einfach die Werte, also neue Inhalte in unsere Schulungen und Coaching auf?" antwortet Lisa und macht sich fleißig Notizen. "Meinst du das?"
"Leider nein!", entgegnet Agnes schmunzelnd. "Essenziell an allen neuen, vermittelten Inhalten ist, wie sie in die Transformation integriert werden und wie der Einzelne in eine Rolle als Beteiligter und Mitgestalter kommt. Das erfordert spezielle Methoden und Fähigkeiten von Coaches!"
Lisa antwortet in einem irritierten und sehr nachdenklichen Tonfall: "Ok, das hört sich nach einer ganz anderen Vorgehensweise an, als unserer. Grundlage bei uns sind Coaching und unser Playbook. Das ist aber richtig, oder?"
"Äh, ja… teilweise…"
Einige Zeit später verabschiedet sich Lisa mit Erkenntnissen zu möglichen blinden Flecken in ihrer agilen Transformation und vier neuen Leitprinzipien von Agnes:
- Von der Skalierung von Agilität zur De-Skalierung – zurück zum Individuum.
- Vom Anwenden von Praktiken zur Arbeit mit Werten und an Kultur.
- Vom Schulen, Coachen, Beraten und Bewerten durch Experten zu Mitgestaltungsprozessen durch Moderatoren.
- Von Frameworks hin zu holistischen und perspektiven-basierten Modellen.
Blinder Fleck #1: Das Individuum
Im Hype der Skalierung scheint der Blick für das im agilen Manifest betonte "Individuum" verloren gegangen zu sein: Der Blick auf den Menschen – was er braucht, was er denkt, was für ihn bei einer Transformation drin ist und wie er im gegebenen Arbeitsumfeld zu dem wurde, was er ist.
Das Individuum stellt die unterste Struktur- bzw. systemische Ebene dar, auf der eine agile Transformation stattfindet. Für die darüberliegenden Team- und Team-of-Teams- (Tribes, Agile Release Trains) Ebenen existieren viele Frameworks, Schulungen und Zertifizierungen. Über der Team-of-Teams-Ebene steht die Organisationsebene, die Unterstützungsfunktionen wie Personal, Recht, Einkauf, Marketing usw. ergänzt. Eine erst seit kurzem ausdefinierte Ebene ist die gesellschaftliche (eng. societal) Agilität, die auf Aspekte wie soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit in der Gesellschaft abzielt. Die Visualisierung der Entwicklung dieser Ebenen über einen Zeitstrahl seit den ersten agilen Methoden bzw. dem Agilen Manifest verdeutlicht, dass viel Energie in der agilen Community in die Ausgestaltung weiterer "Makro-Ebenen", d. h. Skalierungsebenen, geflossen ist.
Das Individuum verschwand sicher nie ganz aus dem Fokus. Jedoch floss in vielen Transformationen ein Großteil des Aufwands und des "Brains" der Beteiligten hauptsächlich in Dinge wie z. B. das Organisationsdesign, Schulungen, Methodenhandbücher. Dass es sogar Sinn machen kann, das Individuum von einem "darin enthaltenen" Selbst zu unterscheiden, greifen wir in einer späteren Hypothese auf.
Blinder Fleck #2: Werte und Kultur
In Schulungen, beim Coachen und auch in den bekannten Skalierungsframeworks werden drei Arten von Inhalten vermittelt: Praktiken, Prinzipien und Werte. Alle drei Arten sind nützlich: Praktiken sind direkt anwendbar, aber kontextabhängig. Prinzipien sind allgemeiner und daher nicht immer direkt greifbar und damit nicht ohne weiteres praktisch umzusetzen. Werte sind abstrakter und auf einer Ebene von Haltungen und Denkweisen. Damit sind sie meist nicht sichtbar, schwer zu beeinflussen und ihr Einfluss auf die Handlungsebene nur schwer nachvollziehbar.
Den Fokus auf die drei Arten, mit denen das agile Wissen transportiert wird, über die Zeit bis heute zeigt Abb. 3. In den frühen Tagen von Agilität standen direkt umsetzbare Praktiken im Vordergrund (s. "Nokia Test" und frühe Versionen von Henrik Knibergs Scrum-Checklist). Es war wichtig, den ersten Anwendern einfach verständliche und direkt anwendbare Regeln und Abläufe an die Hand zu geben. Da die Liste der Praktiken durch immer wieder neue Konstellationen und Herausforderungen in der Praxis nie vollständig werden konnte und immer weiter wuchs, entwickelte sich ein Trend neben einem Basissatz von Praktiken, diese durch Prinzipien zu ergänzen. Beispiele sind das Ersetzen der 3 Fragen im Daily Scrum und die Einführung von Prinzipien in den bekannten Skalierungs-Frameworks. "Werte" hingegen erlebten diesen Trend nicht. Wenn uns aber Werte und Kultur ("being agile") wichtiger sind als Praktiken und Verhaltensweisen ("doing Agile"), dann brauchen Werte als elementare Grundlagen sowie das "Warum" viel mehr Beachtung und Fokus in Transformationsinitiativen.
Blinder Fleck #3: Beteiligung und Mitgestaltung
Ist es wirklich effektiv und nachhaltig, wenn bei Schulungen, Assessments, Coachings und Beratungen in agilen Transformationen die Coaches, Berater oder Change Agents – im Folgenden verkürzt nur "Coaches" – in ihrer Expertenrolle alle Antworten haben? Sind es nicht die Beteiligten und Betroffenen, die ihre Nöte, Geschichte und Kontext am besten kennen? Oft agieren Coaches vor allem in der Rolle als Experte oder Berater. Mit einer geschickten Beteiligung, Involvierung und Mitgestaltung in der Lösungsfindung wären sie in der Lage, passgenauer und individueller auf die Beteiligten einzugehen. Als weitaus wichtigere Konsequenz kann das eine höhere Akzeptanz der gemeinsam entwickelten Lösungen schaffen und so das Transformationsvorgehen effektiver und nachhaltiger machen. Um das zu unterstützen, bringen diese Coaches neben der heute meist übertonten Inhaltsfokussierung mehr Methodenvielfalt zur Vermittlung und Erarbeitung der Inhalte, Erfahrung aus unterschiedlichen Kontexten und einen neutraleren Blick von außen mit.
Ein Bereich, in dem Beteiligung schon sehr erfolgreich eingesetzt wird, sind agile Assessments. So agiert bei vielen Assessments der Coach als Moderator und Experte für die Fragen, die Bewertung kommt von den Beteiligten der Transformationsinitiativen. Coaches ergänzen und interpretieren Perspektiven mit ihrem Fachwissen und schlagen passende Maßnahmen zu identifizierten Schwachpunkten vor. Sie brauchen dazu breitflächig ein Methodenwissen für die Beteiligung und die Mitgestaltung und eine offene und einladende Haltung dazu.
Blinder Fleck #4: Auswahl und Anwendung von Frameworks
Keine Frage: Frameworks sind hilfreich. Keiner will das Rad neu erfinden. Jenseits der Wahl des Frameworks ist die Anwendung bzw. Haltung dazu wichtig. Wie offen sind die Beteiligten und der Coach für eine angemessene Auswahl oder Erweiterung eines Frameworks? Wie dogmatisch wird es angewendet und wie wird mit blinden Flecken bzw. Schwachpunkten im Framework oder in der Wahrnehmung bzw. dem Wissen des agierenden Coaches umgegangen? Frameworks decken meist vor allem den Bereich der Prozesse und Strukturen ab. Sie sind meist knapp beim Umgang mit Individuen, den Beziehungen und Gepflogenheiten der Organisation und der Ende-zu-Ende-Organisations-Architektur. Da all diese Perspektiven für einen gelingenden Transformationsprozess relevant sind, braucht es eine größere Breite in Wissen und Erfahrungen sowie eine ganzheitlichere Wahrnehmung der gegebenen Situation. Solche Anforderungen gehen oft über die eines rein agil-versierten Coaches hinaus – vor allem dann, wenn er als Einzelner und nicht im (interdisziplinären) Coaching-Team agiert.
Hypothese #1: Von der Skalierung von Agilität zur De-Skalierung – zurück zum Individuum
Aus dem blinden Fleck #1 ging hervor, dass das Individuum und das noch dahinterliegende "Selbst" in Transformationen weit weniger im Fokus stehen als die Prozesse und Strukturen der Skalierung. Das Modell von Thomas Gallwey bildet Individuum und Selbst im "Inner und Outer Game" ab [1]: Das für andere sichtbare Outer Game kommt zum Einsatz, um externe Herausforderungen zu überwinden und Ziele zu erreichen. Das Inner Game findet im Kopf statt. Hier wird gegen Herausforderungen wie Angst, Selbstzweifel, Ablenkungen und einschränkende Annahmen gespielt. Meistert das Individuum das "Inner Game", so ergeben sich völlig neue Wirkpotenziale für agile Teams, die Motoren einer agilen Organisation [2].
Eingeschränkt durch den ihnen gegebenen Auftrag und oft auch ihre Fähigkeiten sind agile Coaches oft auf das "Outer Game" fokussiert. Ausgebildete Business- bzw. systemische Coaches, oft z. B. qualifiziert durch ICF oder DVCT, verstehen sich auf die Arbeit am "Inner Game". Das ist aber erst eine Seite der Medaille, denn oft empfinden die Empfänger eines solchen Coachings dieses als zu privat, persönlich und unangenehm. Ablehnung oder ein Nicht-Ernstnehmen ist die Konsequenz. Als Workaround z. B. für eine erste Bestandaufnahme und erste Erkenntnisse zum "Inner Game" helfen Persönlichkeits- und Rollenmodelle bzw. -tests. Die notwendigen Folgemaßnahmen bedürfen dann aber wieder eines ausgebildeten Coaches. Eine solide Basis und meist auch einen Schnellstart für Coaches – gerade die mit wenig agilen Kenntnissen – bieten speziell für Agile Leadership und Change geschaffene Modelle wie das Leadership Wheel oder der Leadership Circle [3].
Weitergehende Methoden zielen noch stärker auf das innere Selbst ab: Woher ziehen wir unsere Energie, was sind unsere Prioritäten und wie bleiben wir in unserer emotionalen, inneren Balance? Der Weg dorthin geht eher über Meditation oder geführtes Selbstcoaching, z. B. Servant bzw. Selfless Leadership Coaching [4], Mesource (emotionales Re-sourcing), um innere Energiequellen für sich zu finden und zu aktivieren. Ein Coaching-Ansatz (vs. eines therapeutischen Vorgehens) für das Selbst findet sich in dem von Dirk Eilert geschaffenen integrativen Emotions-Coaching zum Abbau emotionaler Blockaden, emTrace [5]. Während all diese Methoden Veränderungen und Wirkungen im Äußeren herbeiführen wollen, konzentrieren sie sich in ihrem Bearbeitungsprozess auf das Innere des Individuums, das Selbst als Basis bzw. Wurzel.
Der Erfolg solcher Methoden ist neben der Wirkung auf Mitarbeiter nachweislich auch ökonomisch messbar, wie der Weg von Bodo Janssen, CEO des Hotel- und Urlaubsanbieters Upstalsboom zeigt. Er fand sein inneres Selbst über eine Reise zur Achtsamkeit in Klosteraufenthalten. Er investierte daraufhin in Kulturarbeit mit dem Corporate Happiness Framework [6], in dem er seine Mitarbeiter und internen Coaches dazu schulen ließ.
Um eine Balance zwischen den hohen Kosten eines auf breiter Fläche angebotenen Einzelcoachings und dem Wunsch des Erreichens einer großen Menge von Personen zu schaffen, empfehlen sich folgende Strategien:
- Fokus: Konzentration des Coachings auf Personen, die die größte Reichweite, Sichtbarkeit und Einfluss, sowie das richtige Basis-Mindset ("Growth Mindset") haben: Die meist effektivste Lösung ist, das Leadership bzw. Management einer Organisation zu coachen, so dass diese dann in ihrer Vorbildrolle als Multiplikator agieren.
- Multiplikatoren: Aufsetzen eines Coach-the-Coaches-Programms, das existierende Coaches ausbildet, um Kultur-/Wertearbeit, Arbeit mit Stärken, Energiearbeit und Achtsamkeit intern, in kleineren Gruppen zu gestalten. Startpunkte können einfache Einführungen in systemisches Coaching wie z. B. der 3-tägige ICA Agile-Coach-Kurs oder eine Corporate-Happiness-Ausbildung sein.
- Involvierung: Verstärktes Nutzen von Methoden zur Mitgestaltung und Beteiligung einzelner, z. B. integrative Moderationsmethoden, Design Thinking etc.
Hypothese #2: Von der Arbeit an Werten und Kultur
Werte sind aus der Agilität nicht wegzudenken. Das übergreifende Konzept ist die Kultur, die sich aus vielen verschiedenen Einflussfaktoren wie Unternehmenswerten, -vision, -mission und -identität, sowie Regeln wie Führungsprinzipien, Karriereregeln und Incentivierungen ergibt.
Der Umgang mit Unternehmenswerten gleicht aber eher einer soliden, geteerten Einbahnstraße: Werte werden von oben nach unten mit wenig Mitgestaltung über die Hierarchien definiert und einmalig festgelegt. Neben Plakaten in Meetingräumen gibt es meist keinen kontinuierlichen, integrativen Ansatz, um an bzw. mit ihnen zu arbeiten. Ergebnis ist oft, dass kaum ein Angestellter die Werte seiner Firma benennen kann – geschweige denn diese handlungs- und verhaltensleitend sind. Die Ebene, in der Werte noch am ehesten zu finden sind, ist im Bereich von Teams, z. B. über ein Team-Canvas. In der Annahme, dass der Ursprung aller agilen Magie von agilen Teams ausgeht, ist das eine gute Investition. Auf den Skalierungsebenen – "Team of Teams" –, gibt es aber kaum Mechanismen, um vergleichbare Wertearbeit und Kultur zu gestalten.
Ein Weg für nachhaltige Wertearbeit erfolgt nach dem zirkulären Wirkprinzip: (Neues) Verhalten schafft (neue) Erfahrungen und diese wiederum prägen Werte. Dabei sind die Balance zwischen Top-down und Bottom-up, sowie eine breite Verankerung von Werte-Arbeit im Alltag, z. B. Corporate Identity, Führungskräfteausbildung, Marketing, etc., wichtige Begleitelemente [7]. Die Definition der Sollwerte erfolgt am besten mit einem ersten Impuls aus dem Leadership oder unter Nutzung von Umfragen. Weitere Verfeinerungen finden iterativ zwischen Leadership und in Gruppendiskussionen über alle Hierarchien statt.
Sind die Werte in einer ersten Version erarbeitet, finden regelmäßig "Werte-Retrospektiven" in den Teams und auf allen Ebenen statt. Welcher Wert ist gerade verletzt oder zu wenig ausgeprägt? Welches nutzbringende und diesen Wert stärkende Verhalten können wir uns für die kommende Etappe vornehmen? Der Ansatz wird dann unternehmensweit effektiv, wenn auch das Management in "Management-Teams" agiert, d. h. nicht nur eine Gruppe von Personen ist, sondern ebenfalls gemeinsame Aufgaben, Ziele, Mission und Vision hat – dann gibt’s auch dort ein Team-Canvas und als unterstützendes Element kann mit nur gemeinsam zu erreichenden OKRs (Objectives & Key Results) gearbeitet werden.
Kulturarbeit kann neben diesem eher einfachen Beispiel auch auf einer noch mehr strategischen und an übergreifenden Zielen orientierten Ebene starten. Für eine Analyse und Bewertung einer Kultur, z. B. Differenz zwischen Soll- und Wunschkultur, kann das "Competing Values Framework" von Cameron/Quinn oder Tribal Leadership herangezogen werden [8]. Ideen und Forschungsergebnisse zur Gestaltung agiler Kultur finden sich in den Büchern Culture Code [9] und Tribal Unity [10].
Hypothese #3: Vom Schulen, Coachen, Beraten und Bewerten zur Mitgestaltung und Beteiligung
Inhaltliches Wissen von Beratern und Coaches ist essenziell. Immer wichtiger werden aber Methoden, um mit einer Gruppe gemeinsam nachhaltig von einem Ausgangspunkt zum nächsten anvisierten Zielpunkt zu kommen. Interventionen, um mit den Beteiligten gemeinsam ins Ziel zu kommen, würden dann beispielsweise nach den folgenden Paradigmen gestaltet:
- Von Experten-Assessments zu geführten Selbstreflexionen.
- Vom agilen Coaching zum Business-Coaching und Moderation.
- Von (Frontal-)Schulungen zu Simulationen und gehirngerechten Lernmethoden.
- Vom Consulting-Ansatz zur Co-Kreation.
Die heutige Fokussierung auf die reine Vermittlung von Inhalten beim agilen Coaching sollte – wo sinnvoll – durch Business-/systemisches Coaching komplementiert werden. Das stärkt die Selbstorganisationsfähigkeit und empfundene Selbstwirksamkeit und damit das Selbstbewusstsein des Coachees. Neben der Arbeit im 1:1-Coaching stiften systemische Methoden auch in der Organisationsentwicklung für Teams einen Mehrwert. Eine sehr gut für den agilen Kontext geeignete Form des systemischen Coachings ist das Organisations- und Beziehungssystem Coaching (ORSC – Organisation & Relationship Systems Coaching).
Schulungen werden bereits häufig durch Simulationen oder Rollenspiele angereichert. Die berühmte "Lego-City-Simulation", in der mit Lego und weiteren Elementen im skalierten Scrum-Modus eine Stadt gebaut wird, gleicht mehr einem Spiel als einer Schulung. Lediglich ein Minimum an Methodenwissen wird vorab vermittelt, dann wird "gespielt", gefolgt von ausführlicher Nachlese mit Fragen, Lessons Learned und Retrospektive. Hirnforschung und Lernpsychologie liefern Ideen für eine Lern(er)-gerechte Gestaltung von Schulungen, um den Lernerfolg zu maximieren. Einer der bekanntesten Ansätze für das Design von Schulungen ist Sharol Bowmans "Training from the Back of the Room" [11]. Ältere, aber nicht weniger relevante Ansätze stammen von Vera Birkenbihl zum "brain-friendly" bzw. gehirn-gerechten Lernen [12].
In der Beratungspraxis werden noch viele Konzepte hinter verschlossenen Türen erstellt. Wie viele Agile Playbooks oder Methodenhandbücher wurden von Experten geschrieben und dann nie gelesen? Wie viele Strategien für organisatorische Veränderungen wurden – sogar vor Beschluss ihrer Einführung – nie mit jemandem aus der Organisation besprochen? Die Effizienz/Output und Experten-Fixierung erzeugt eine enorme Verschwendung, während die Antwort Kooperation, Mitgestaltung und Beteiligung lautet. Durchdachte Moderationsmethoden wie Design Thinking oder Liberating Structures sind hier erst der Anfang. Das Feld reicht bis hin zu komplexen, sozialen Techniken wie der Theory U.
Speziell auf (agile) Transformationen zugeschnitten sind sogenannte "Engagement-Modelle". Sie bieten ein Set von meist aufeinanderfolgenden Methoden und damit einen Ende-zu-Ende-Prozess für den Ablauf einer Transformation. Engagement-Modelle sind in ihrer Grundstruktur unabhängig bzw. flexibel vom ausgewählten agilen Ziel-Framework (z. B. SAFe) aufgebaut. Sie helfen, Entscheidungen für das Ziel-Design, d. h. zu Ergebnissen wie die finalen Strukturen, Arbeitsabläufe, Rollen in einem agilen Operating-Model hinzumoderieren, den Prozess zu strukturieren und darin Entscheidungen zu treffen. Dazu bauen sie auf regelmäßige Selbstreflexion und den Erkenntnisgewinn der Beteiligten. Es gibt zahlreiche bekannte Modelle speziell für agile oder Kultur-Transformationen (z.B. #unfix, Open Space Agility, Agendashift, agile BOSSA nova oder Path to Agility© [13]). Während also viele der bekannten agilen Frameworks ein mögliches Zielszenario für ein agiles Arbeitsmodell und Varianten an definierten Stellen mitbringen, führen Engagement-Modelle über einen integrativen, zielbasierten und reflektierten Entscheidungsprozess zu einem auf Menschen, Situation und Umfeld passenden Zielszenario (geführtes "Tailoring" des Frameworks).
Von agilen Frameworks hin zu holistischen, perspektiven-basierten Meta-Modellen
Während in der agilen Community immer noch eine Diskussion um deskriptive vs. mehr prinzipien-orientierte Frameworks stattfindet, entwickeln sich als eine Art Container sogenannte Meta-Frameworks bzw. Meta-Modelle. Diese bringen zwei Dinge mit sich: Sie spannen das Portfolio über wichtige, nicht zu vergessende Perspektiven einer Transformation auf und bieten für je diese Perspektiven eine Auswahl existierender und passender Frameworks an. Aus der Vielzahl von Meta-Modellen, die gerade in vielen Beratungshäusern gerne Anwendung finden, sticht das Integral Agile Transformation Framework (IATF) heraus. Das IATF von M. Spayd und M. Madore basiert auf bzw. integriert ein breites Spektrum von Organisations-, systemischen und Coaching-Ansätzen [14].
Eine zentrale Botschaft des IATF ist, dass seine vier Perspektiven, dargestellt als Quadranten, gleichermaßen und parallel betrachten werden sollten, um Agilität nachhaltig und mit einer ökonomischen Wirkung zu realisieren. Die Quadranten sind nach den Achsen "sichtbar" für Elemente wie Praktiken, Methoden, Prozesse und Strukturen und "unsichtbar" im Sinne von Beziehungen, Haltungen und Kultur aufgeteilt. Die zweite Achse, kollektiv vs. individuell, macht klar, dass der Fokus des Modells von der Mikro- bis zur Makroebene reicht: Von Individuen und welche Praktiken sie anwenden, bis hin zu Gruppen und Organisationen.
Beispiele für Ansätze, Frameworks, Methoden und Praktiken der 4 Quadranten sind:
- Mindset & Leadership: Leadership Agility, Business/Systemisches Coaching, Software Craftmansship
- Beziehungen & Normen: Gewaltfreie Kommunikation (GFK), Schneider-Kulturmodell, Satir-Change-Modell
- Praktiken & Verhalten: Jede einzelne technische oder methodische Praktik, Elemente aus XP oder Scrum
- Organisationsarchitektur: Alle Skalierungsframeworks, Beyond Budgeting, Systems Thinking, Value Stream Mapping
Das Modell adressiert auch die Bereiche der vorher genannten vier blinden Flecke. Eine nicht über die Quadranten sichtbare Ausnahme ist die "Mitgestaltung und Beteiligung". Diese Qualität ist im IATF unter dem Stichwort "Veränderung bewusst entwickeln" als eine Art Bedienungsanleitung und umgebender Rahmen enthalten. Zentrale Leistung dieses Prozesses ist, die sichtbaren mit den nicht sichtbaren Elementen nachhaltig zu verweben.
Das IATF als Modell ist nicht nur ein Container. Die 4 Quadranten können Coaches ihre bevorzugten Perspektiven, mit der sie auf die Welt schauen, und damit wiederum ihre eigenen blinden Flecken, aufzeigen: Typischerweise gilt, dass es den meisten von ihnen mit ihren (intuitiven) Präferenzen und angeborenen Fähigkeiten sehr leichtfällt, Gegebenheiten aus ein oder zwei der Quadranten wahrzunehmen. Blickt man andererseits darauf, in welchen Methoden sie (in der Tiefe) ausgebildet und geschult sind, dann sind das auch ebenfalls wiederum ein bis zwei der Quadranten.
Eine erste Erkenntnis für Coaches und Transformation-Leads ist oft, dass sich diese Quadranten aus Wahrnehmungsfähigkeiten und erlernten Lösungsmethoden nicht überschneiden. Eine zweite Erkenntnis ist, dass eine Einzelperson allein nicht alle Perspektiven und damit eine ganzheitliche Transformation qualifiziert abdecken kann. Eine dritte Erkenntnis kann sein, dass jeder die Welt durch seinen persönlichen Wahrnehmungsfilter und damit limitiert und beeinflusst durch seine persönlichen Erfahrungen sieht. Damit aber ist möglicherweise die Sichtweise der im Transformationsvorgehen Betroffenen nicht abgedeckt. Den Change Agents entgehen Information, was zu falschen Schlussfolgerungen und Maßnahmen führen kann.
Gute Coaches schaffen es, sich in die "Schuhe" derjenigen zu versetzen, denen sie in ihrer Transformation helfen möchten. Um diese verschiedenen Sichten zu integrieren und zu meistern, hilft Diversität im Transformations-Team, aber auch Feedback, Schulung in Achtsamkeit, Awareness und Prüfung eigener Annahmen. Die Anforderungen an die Reife und Reflektiertheit an Coaches sind damit hoch.
Agile Transformation – quo vadis?
Eine These aus diesem Artikel und vielen Transformationserfahrungen ist, dass agile Transformationen mit all den Frameworks, Prozessen und Praktiken – auch denen, die wir in der Zukunft noch entwickeln – nicht unbedingt erfolgreicher werden: das wäre mehr vom Gleichen. Erst ganzheitlichere bzw. (Perspektiven-)integrierende Modelle helfen die wenig beachteten Elemente wie z. B. Individuen und deren geeignete Form der Einbeziehung in den Transformationsprozess besser zu berücksichtigen. Holistischere Modelle und Frameworks, wie das Integral Agile Transformation Framework, schärfen den Blick des Leaderships, der Planer und Umsetzer von agilen Transformationen auf notwendige Perspektiven inklusive der des Individuums und der Kulturarbeit.
Hinter diesem klaren Blick steckt für die Hauptakteure nicht weniger, als die nicht einfache Arbeit an ihrem inneren, nicht-sichtbaren Selbst. Das Ziel dahinter ist, einen individuum- und kultur-fokussierten und orientierten sowie "selbst"-losen (im Sinne von "bewusst-reflektierenden") Wandel wirkungsvoll initiieren zu können.
Die große Hypothese, ja sogar Hoffnung, ist, dass divers- und breitaufgestellte Transformationsteams durch die Nutzung von holistischen und Engagement-Modellen Organisationen wirkungsvoller und nachhaltiger zu ihrer nächsten Evolutionsstufe in Business Agility führen können.
- T. Gallwey: Inner Game Coaching, Alles im Fluss Verlag, 2012
- S. Denning: The Age of Agile, Amacom, 2022
- R. J. Anderson, A. Adams: Mastering Leadership, Wiley, 2015
- K. van Oudheusden: Selfless Leadership, Eigenverlag, 2022
- D. Eilert: Integratives Emotionscoaching mit emTrace, Jungfermann, 2021
- Dr. O. Haas: Corporate Happiness, Erich Schmidt Verlag, 2014
- M. Permantier et al.: Werte wirken, Vahlen, 2021
- D. Logan: Tribal Leadership, Harper, 2011
- D. Coyle: Culture Code, Bantam, 2018
- E. Campell-Pretty: Tribal Unity, Eigenverlag, 2016
- S. Bowman: Training from the back of the room, dpunkt.verlag, 2021
- V. Birkenbihl: Trotzdem LEHREN, 2007
- D. Mezick: Das Open Space Agility Handbuch | peppair, 2019 | Open Space Beta (S. Herrmann/N. Pfläging) | Agendashift (M. Burrows) | agile BOSSA nova (J. Eckstein / J. Buck) | Path to Agility©
- M. K. Spayd, M. Madore: Agile Transformation, Addison-Wesley, 2020