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Melanie & Dietmar Wohnert 30. Mai 2017

Agile Your Mind – Agilität beginnt im Kopf

Die agile Idee hat zu einem rasanten Höhenflug angesetzt. Zumindest auf dem Papier erscheint der Upscale hin zur agilen Organisation als nahezu vollbracht. Trotz dieser Euphorie erleben wir aktuell eine Entwicklung der zwei Geschwindigkeiten. Die Entwicklung des agilen Mindsets in den Menschen hinkt der agilen Organisationsentwicklung hinterher. Wollen wir diese wunderbare Idee zum Erfolg führen, so müssen wir hier den Anschluss wieder finden.

Dieser Beitrag zeigt einen Weg auf, wie agiles Denken trainiert und nachhaltig entwickelt werden kann: Durch eine völlig neue Verknüpfung agiler Methoden, Mindfulness und neurobiologischer Grundlagen. Der rote Teppich ist ausgerollt.

AGILE – ein Sprintstar mit Hinkebein

Wissen Sie noch? Damals, im Jahre 2001, ließen 17 "Organizational Anarchists" in einem Skigebiet in Utah für ein paar Tage ordentlich die Köpfe rauchen. Heraus kam etwas, was wir im Rückblick durchaus als kleine Revolution bezeichnen können: Agile wurde geboren! Und mit im Gepäck: die 12 Gebote der agilen Softwareentwicklung [1]. Wow!

Wenn 17 Anarchisten Skifahren gehen

Da konnte man so Dinge lesen wie "Individuals and interactions over processes and tools", "Responding to change over following a plan", "Simplicity is essential", "The best architectures, requirements, and designs emerge from self-organizing teams", usw.

Ganz ehrlich: Selbst heute, über 15 Jahren nach dem Ausruf des agilen Manifests und der 12 Prinzipien der agilen Softwareentwicklung, haben diese Worte nichts an Ihrer Wirkung verloren: "Das leuchtet mir ein.", "Daran glaube ich.", "So will ich arbeiten." – Meine Damen und Herren, so werden Herzen gewonnen!

Agile ist sexy

Und heute? Agile hat eine echte Erfolgsstory hinter sich. Alles dreht sich heute um agiles Vorgehen. Agile ist aktuell DIE Antwort auf steigende Produktkomplexität und sich wandelnde Bedürfnisse der neuen Arbeitnehmergeneration. Agile wird zu Recht als die Organisationsform der Zukunft gehandelt. Die agile Speerspitze hat den agilen Upscale auf Organisationsebene längst eingeläutet. Entsprechende Frameworks stehen zum Einsatz bereit. Das ist richtig und gut so.

In diesem Streben nach oben dürfen wir jedoch eines nicht übersehen: Vielerorts knirscht es noch gewaltig bei der Umsetzung von Agile auf Teamebene. Es ist ein Kampf mit einem schwer greifbaren Gegner. Das Angebot an unterstützender Fachliteratur und Schulungen ist unüberschaubar geworden. Scrum Coaches – ein relativ junges Berufsbild – werden eingesetzt. Jeff Sutherlands bekannte Aussage "Scrum is easy to understand, but difficult to master" hat uns längst eingeholt [2]. Doch wo genau hakt es eigentlich?

Wie agil bist Du?

Sie finden diese Frage provokant? Mag sein, aber sie führt uns zur Wurzel des Problems.

Agile Menschen bilden agile Unternehmen – und nicht umgekehrt.

Dazu schauen wir uns an, was es eigentlich heißt, agil zu sein. Ein Blick in die 12 Gebote der agilen Softwareentwicklung gibt hier Aufschluss. Ein Extrakt daraus könnte so lauten:
Jeder Mensch trägt serienmäßig ein gewaltiges kreatives Potential in sich. Freigesetzt wird dieses Potential, wenn Menschen mit einem agilen Mindset in selbstorganisierten Teams zusammenarbeiten. Gemeint ist damit ein Schlag von Mensch, der berufliche Erfüllung, Wertschätzung und Motivation primär in der Qualität und Innovation des gemeinsam entwickelten Produkts und in der Zufriedenheit des Kunden findet. Ein Schlag von Mensch, der tief verinnerlicht hat, dass solche Produkte nur unter den Motto "Team first", "Welcome Change" und "Fehler und Konflikte sind Geschenke, die uns helfen, besser zu werden" entstehen können. Es sind Menschen, die Wettbewerb nur auf Produktebene mit anderen Unternehmen kennen. Menschen, die fest darauf vertrauen, dass jeder bereit ist, sein Bestes zu geben. Und, diese Menschen können und wollen vor allem zwei Dinge: Zuhören und verstehen. Lassen wir uns das mal auf der Zunge zergehen.

Und jetzt schauen wir in den Spiegel und sind ehrlich zu uns selbst. Tragen wir wirklich dieses Mindset in uns? Irgendwie schon... Kommt drauf an... Manchmal, aber nicht immer... Und das eine oder andere vielleicht auch gar nicht. 

Wir lernen vieles richtig gut. Nur nicht agil zu sein.

Ehrlich gesagt, wäre es ein glattes Wunder, wenn jetzt alle aufspringen und sich auf die Brust klopfen. Denn wir leben in einem höchst unagilen Umfeld. Lauschen wir doch einmal in uns hinein. Hallt da nicht die eine oder andere sicherlich gut gemeinte Parole nach:

  • Funktioniere! Und zwar im bestehenden, bewährten System. Und dieses System ist zum überwiegenden Teil eines mit fest vorgegebenen Hierarchien, Rollenbildern, Verantwortlichkeiten und Werten.
    Was wir dabei nicht lernen: Arbeiten in Selbstorganisation, tabuloses Denken, Verantwortung zu übernehmen, unternehmerisch zu handeln.
     
  • Das Leben ist ein Kampf, kein Wunschkonzert! Nur der Beste kommt weiter. Nur wer oben ist, kann gestalten.
    Was wir dabei nicht lernen: Echte Teamarbeit.
     
  • Es gibt Gut und Schlecht! Was gut und was schlecht ist, wird uns über Jahre hinweg mit auf den Weg gegeben. Alle Wahrnehmungen laufen automatisch und unmerklich schnell durch diesen Filter. Das vermeintlich Schlechte wird sofort als solches erkannt und entsprechend behandelt.
    Was wir dabei nicht lernen: Zunächst wertfrei wahrnehmen, was uns alles zugetragen wird. Offen und neugierig auf Neues und Unkonventionelles reagieren.
     
  • Alle Vorhaben müssen von Anfang bis Ende "gut durchdacht" sein! Was dahinter steckt, ist die Angst vor einem Risiko. Was nur, wenn es am Ende schief läuft? Karriere am Ende! Risikobehaftete Ideen also bitte weiträumig umschiffen. Bedenkenträger laufen in so einem Arbeitsklima zur Höchstform auf.
    Was wir dabei nicht lernen: Risikobereitschaft und Fehlertoleranz. Einfach mal machen. Unbekanntes Terrain betreten. Raus aus dem Wohlfühlbereich. Try - Fail - Try again. Stolpern, Krönchen zurechtrücken und weitergehen. Echtes Erleben und Lernen statt Kopfkino.
     
  • Immer sachlich bleiben! Emotionen zeigen heißt, Schwäche zeigen. Du lässt Dir in die Karten schauen. Das Pokerface ist das Ideal.
    Was wir dabei nicht lernen: Sich ganz einbringen, als ganzer Mensch. Authentisch sein. Emotionen sind eine wichtige Informationsquelle bei der Kommunikation. Ein Pokerface sendet nur ein Drittel der Information. Dies verunsichert und verwirrt das eigene Umfeld. Empathie und Vertrauen gehen verloren. Die reine Sachlichkeit ist der Tod aller Begeisterung.
     
  • Efficiency first! Task-hopping, E-Mails schreiben im Meeting, Telefonieren beim Autofahren, Internetsurfen beim Kaffeetrinken, immer online sein. Wer immer busy ist, ist wichtig. Multitasking wird gefördert. Zeit ist knapp. Wer zwei Sachen gleichzeitig macht, gilt als effizient. 
    Was wir dabei nicht lernen: Bewusstes Tun, Kontakt zu uns selbst aufnehmen, Fokus halten, Aufmerksamkeit, Stoppen, Innehalten, Zurücktreten, Klar sehen, Kurs anpassen, dann weitermachen.
     
  • Es gibt immer einen Schuldigen. Wenn etwas schiefgeht, steht die Frage nach dem Schuldigen meist als erstes im Raum. Einen Schuldigen zu finden scheint mindestens genauso wichtig, wie eine Lösung des Problems. Angst und Vertuschung sind nachvollziehbare Reaktionen.
    Was wir dabei nicht lernen: Eine angstfreie Fehlerkultur, Lösungsorientierung, aus Fehlern zu lernen.
     
  • Wir brauchen einen Prozess! Seltsamerweise ist Vielfalt im Ablauf über kurz oder lang ein Ärgernis. Einheitlichkeit ist das Ziel. Unmerklich setzt Regulation ein. Über Jahre kann dies zur Zementierung führen. Regeln sind schnell eingeführt, werden aber kaum hinterfragt, geschweige denn angepasst und so gut wie nie beseitigt. Das Klammern an Regelwerke und Prozesse nimmt den Menschen das Verantwortungsgefühl.
    Was wir dabei nicht lernen: Vielfalt und Reformation in der Vorgehensweise, Blick über den Tellerrand, Verantwortung übernehmen.
     
  • Zeig mir, was Du hast, dann sag ich Dir, wer Du bist! Gesellschaftliche Anerkennung richtet sich nach Status und Geld. Status und Geld sind auch die Kernelemente beruflicher Anreizsysteme. Das Glück wird im Außen gesucht. Viele Menschen richten sich auf diese Motivatoren aus.
    Was wir dabei nicht lernen: Kontakt zu uns selbst. Das Glück liegt im Innen. Freude und Motivation durch sinnbehaftetes Handeln.

Agile Your Mind ist Geistestraining

Die gesellschaftliche Konditionierung läuft dem agilen Geist zuwider. Und diese Prägungen, von Kindesbeinen an, haben in unserem Geist tiefe "Trampelpfade" gegraben. Und das Hirn ist eben auch faul, oder besser gesagt, effizient. Denkmuster folgen bevorzugt den Trampelpfaden. Leider kommt noch ein zweiter, verstärkender Aspekt hinzu: die Unbewusstheit.

Sämtliche Wahrnehmungen treffen in unserem Gehirn auf ein sehr individuelles Konglomerat aus gesellschaftlich geprägten und individuellen Werten, Erfahrungen und Assoziationen und werden in Sekundenbruchteilen danach beurteilt. Das Ergebnis ist eine Reaktion: In Denken, Sprechen und/oder Handeln.

Dieser Prozess läuft in den allermeisten Fällen völlig unbewusst und unmerklich schnell immer und immer wieder ab. So üben wir uns ständig in diesen Denk- und Handelsmustern. Die "Trampelpfade" werden damit immer tiefer und immer schwerer zu verlassen. Wer daher ein agiles Mindset entwickeln möchte, muss eine geistige Konterbewegung in Gang setzen: Die Agilisierung unseres neuronalen Netzes.

Doch es gibt eine gute Nachricht: Das neuronale Netz des Menschen ist mit zwei besonderen Features ausgestattet, die wir für diesen Wandel brauchen: Bewusstheit und Neuroplastizität.

Autopilot off – wir übernehmen das Gedankensteuer wieder selbst

Ganz vorne, hinter der Stirn, sitzt der sogenannte präfrontale Kortex. Er ist, evolutionär gesehen, eine der jüngsten Hirnregionen. Neben anderen wichtigen Features, wie planerischem Denken, ermöglicht dieser Teil des Gehirns die sogenannte Bewusstheit. Doch was steckt hinter dieser doch sehr abstrakten Fähigkeit? 

Damit kann man sicherlich Bibliotheken füllen. Wir wollen es einfach und plakativ halten: Wer bewusst denkt und handelt, ist sich im Klaren darüber, was er denkt und wie er handelt. Bewusstheit wird oft verglichen mit einer Art geistiger Beobachter, der dem Geschehen mit sicherem Abstand zusieht.

Bewusstes Denken und Handeln bedeutet also, voll bei der Sache zu sein. Kein gedankliches Abschweifen, nichts wird nebenbei erledigt. Bewusstheit ermöglicht das Innehalten und Erkennen, was im gegenwärtigen Moment abläuft. Und es ist genau dieses Innehalten, das uns die Zeit dazu verschafft, eben anders zu denken und anders zu handeln, wie bisher. Die Bewusstheit ermöglicht also den Ausbruch aus alten Denk- und Handlungsmustern. Wir durchbrechen damit den automatischen Reiz-Reaktions-Mechanismus und werden so wieder zum Gestalter unseres Selbst. Ist das ist nicht wunderbar?

Bewusstheit ermöglicht es mir, mich über die automatischen Skripte in meinem neuronalen Netz hinwegzusetzen. Das ist Freiheit!

Wie Sie sich vorstellen können, stellt sich dieser Erfolg nicht von heute auf morgen ein. Die alten "Trampelpfade" sind tief, haben wir sie doch über viele Jahre oder Jahrzehnte ausschließlich benutzt. Es bedarf regelmäßigem Training und Geduld. Doch dann stellt sich der gewünschte Erfolg auch ein – nach und nach. Diese Aussage spiegelt nicht nur die subjektive Erfahrung von Praktizierenden wider, sondern ist inzwischen auch neurowissenschaftlich erwiesen.

Bei diesem Prozess eilt uns eine weitere, wirklich erstaunliche, Eigenschaft unseres Gehirns zu Hilfe – die sogenannte Neuroplastizität. Regelmäßiges Geistestraining manifestiert sich in der physischen Struktur des Gehirns. Neue "Datenautobahnen", also Verknüpfungen neuronaler Bereiche, entstehen und werden gefestigt. Weniger benutzte Datenautobahnen bilden sich zurück. Neue Denkstrukturen lösen so alte ab. Ist das nicht fantastisch? Und auch dieser Effekt ist neurowissenschaftlich längst unbestritten. Bitte streichen Sie Omas Glaubenssatz "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." ein für alle Mal aus Ihrem Gedächtnis!

Soweit die Theorie. Doch wie sieht ein Trainingsplan für ein solch komplexes Vorhaben aus?

Wie gehen wir vor? Agil natürlich!

Das Gute liegt auch hier so nah. Für komplexe Projekte bietet sich eine agile Vorgehensweise an. Für die tägliche Umsetzung muss ein Framework her. Wir schlagen hier eine scrum-analoge Vorgehensweise vor und steigen gleich voll ein:

Scrum steht auf drei großen Säulen: Transparenz, Überprüfen und Anpassen. Die stetige Transparenz über Fortschritt und Hindernisse wird vor allem über das Daily Standup erreicht.

Das Daily Standup mit dem "inneren Team"

Stichwort: Daily Standup (auch "Daily Scrum"). Bei diesem Event geht es um die Kontaktaufnahme mit dem Team, um das aufmerksame Hinhören und Spüren, was das Team im Moment bewegt. Dafür gibt es klare Regeln: Jeder kommt zu Wort – nacheinander. Und alle anderen hören aufmerksam zu. Nur das, nichts nebenbei. Keine Diskussionen oder Lösungsansätze. Hier geht es um Transparenz und Klarheit. Verglichen mit dem sonstigen Arbeitsumfeld herrscht hier in gewisser Weise eine sehr diskrete Atmosphäre der inneren Stille. Die Bedeutung dieses Events äußert sich durch den täglichen Rhythmus.

Format und Zielsetzung des Daily Standups drängt sich geradezu auf für das Üben von Bewusstheit. Auch hierbei geht es um Kontaktaufnahme. Mit mir selbst, mit meinem Verstand, meinen Emotionen und meinen Körperempfindungen. Es sind meine inneren Ressourcen, sie bilden das "innere Team". Sie bestimmen mein Denken und Verhalten. Es geht um die Fähigkeit, mitzubekommen, was mein inneres Team im Moment bewegt. Nur wer mitbekommt, was gerade abläuft, kann den gewünschten Kurs einhalten. Der schwierigste Teil dieser Übung ist, die nötige Geistesruhe herzustellen. Denn nur eine ruhige Wasseroberfläche erlaubt den Blick auf den Grund. Über Jahre darauf trainiert, alles zu durchdenken, zu bewerten, Erinnerungen abzurufen, Zukunftsszenarien durchzuspielen, verhält sich unser Geist wie ein wilder Affe. Geistesruhe bedeutet, diesen wilden Affen dazu zu bringen, still zu sitzen und hinzuhören. Und das ist der schwerste und wichtigste Teil des gesamten Projekts.

Um seiner Bedeutung gerecht zu werden, ist auch beim Üben von Bewusstheit ein täglicher Rhythmus angesagt. Doch wie geht das nun konkret?

Eine klassische Atemmeditation, also das Üben auf dem Sitzkisen mit Fokus auf den Atem, ist sicherlich die bekannteste Übungsform. Und ja, es ist sicher eine sehr wirkungsvolle Übungsform, die im täglichen Übungsprogramm nicht fehlen sollte. Doch es ist ein weitverbreiteter Irrtum, sie sei die einzige. Bewusstheit kann grundsätzlich jederzeit und überall praktiziert werden und es gibt zahlreiche Varianten – auch abseits des Sitzkissens. Sei es der kurze Body-Scan auf dem Bürostuhl, eine Gehmeditation während der Mittagspause, der bewusste Gang zum Drucker, das Mindful Lunch in der Kantine, eine schön angeleitete Meditation im Bett oder am Liegestuhl, um nur einige zu nennen. Es ist für jeden Geschmack etwas dabei. Durchführbar an jedem beliebigen Ort. Und mehrfach über den Tag verteilt. Diese Vielfalt hat gerade am Anfang eine enorme Bedeutung, um dran zu bleiben. Denn es verhält sich wie beim Sport: Der Schlüssel zum Erfolg ist die Regelmäßigkeit und Häufigkeit. Und aller Anfang ist schwer. Doch was anfangs noch echte Disziplin erfordert, wird schnell zum Bedürfnis, sobald sich die ersten Erfolge einstellen. Ein Effekt, der das Üben erheblich erleichtert.

Gehen wir einen Schritt weiter im Framework. Zum Product-Backlog unseres Projekts. Dabei stellt sich zuerst einmal die Frage: Was ist eigentlich das Produkt beim Projekt "Agile your Mind"? Es hört sich vielleicht etwas skurril an, aber das Produkt sind Sie selbst! So, wie Sie gerne sein möchten. Und im Product-Backlog stehen Ihre selbstgesteckten Ziele. Zum Beispiel könnte dort stehen:
"Ich möchte empathisch sein.", "Ich möchte mich trauen, mehr zu riskieren." oder
"Ich möchte Veränderungen gegenüber offener sein."

"Das hat doch die Qualität gut gemeinter Silvester-Vorsätze", möchten Sie jetzt sagen? Danke für den Hinweis. Genau da hakt es oft. Die Vorhaben sind viel zu unspezifisch und zudem viel zu umfangreich. In der Projektwelt geht so etwas bestenfalls als "Epic" durch. Hier lohnt es sich, nochmals in die agile Werkzeugkiste zu greifen. Schneiden wir daraus doch lieber kleine, handhabbare Storys, die in kurzen Sprints umzusetzen sind. Ein Beispiel dazu:

Die Sache mit Herrn Meier

Der Wunsch, empathischer zu sein, könnte von daher rühren, dass es im Miteinander mit einigen Kollegen, Mitarbeitern oder Chefs irgendwie knirscht. Emotionsgeladene Gespräche, aneinander Vorbeireden, "Mit dem kann ich nicht", erhöhtes Konfliktpotential und "sich aus dem Weg gehen" sind sichere Anzeichen dafür. Wer kennt das nicht? Nennen wir einen dieser Kollegen einfach Herrn Meier.

Die passende Story zum Epic "Empathie" könnte dann lauten: "Als empathischer Mensch möchte ich beim nächsten Gespräch mit Herrn Meier gelassen bleiben, um die Beweggründe für sein Verhalten besser zu verstehen."

Im Product-Backlog stehen also die Antworten auf die Fragen "Wie möchte ich sein?" (Epics) und "Was möchte ich konkret dafür tun?" (Storys). Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch hier eine "Definition of Ready" und ein regelmäßiges Backlog-Grooming nicht nur möglich, sondern auch sehr empfehlenswert sind.

Die Sprintlänge sollte lang genug sein, um ein repräsentatives Sprint-Ergebnis erreichen zu können – und andererseits kurz genug, um dieses planungstechnisch so zu überblicken, dass ich mich auf die Ziele committen kann. Für das Projekt Agile your Mind empfehlen wir eine Sprintlänge von maximal einer Woche. Das Sprint-Planning erfolgt basierend auf den Storys des Product-Backlogs, wie gehabt. Wählen Sie sich für den Sprint-Backlog entsprechende Storys aus und überlegen Sie sich dazu konkrete Tasks. Um beim Beispiel zu bleiben, könnten zwei Tasks zur Story "Herr Meier" so lauten:

  • Task1: Wenn Herr Meier morgen anruft, bin ich voll im Moment und passe auf, was in mir vorgeht. Ich werde ganz bewusst nicht an die Decke gehen, auch wenn er zum hundertsten Mal fragt, wann der Foliensatz endlich fertig ist. Ich werde bewusst gelassen bleiben. Ich werde ihn fragen, was genau hinter der Dringlichkeit steckt. Ich möchte den Grund seines Verhaltens verstehen. Eventuell sitzt ihm ja selbst der Chef hart im Nacken. Ich möchte eine angemessene Lösung zusammen mit ihm erarbeiten.
  • Task2: Herr Meier und ich arbeiten ja recht häufig zusammen, kennen uns aber nur vom Telefon her. Beim morgigen Call werde ich Herrn Meier ein gemeinsames Mittagessen in der Kantine vorschlagen. Ich werde mit ihm berufliche Themen besprechen, aber auch ein paar private Worte mit ihm wechseln. So bekomme ich einen besseren Eindruck von seinem beruflichen Umfeld und von ihm als Mensch.

Präsent sein – Erkennen – Bewusst anders machen

Nach dieser intensiven Vorbereitung sind wir nun beim Sprint angekommen. Die Umsetzung der Tasks in der realen Situation steht an. Während des Telefonats mit Herrn Meier heißt es, voll präsent zu sein, um mitzubekommen, was in mir vorgeht. Ich spüre dann, wenn Herr Meier mit der wiederholten Frage nach dem "Wann endlich?" meinen "roten Knopf" drückt. Und in diesem Moment bin ich dann nicht im Autopiloten unterwegs. Ich stehe außerhalb meines alten Reiz-Reaktions-Musters. Ich reagiere bewusst nicht schroff und ungehalten. Ich verfalle bewusst nicht in Selbsterklärungen. Nein, ich entscheide mich bewusst gegen dieses Verhalten und mache es anders, so wie geplant.

Agile Praktik im Projekt-Team (Außen) in meinem Sein (Innen)
Daily Stand-up Austausch zu dem, was aktuell im Team ansteht. Inklusive Hindernissen. Alle dürfen sprechen, alle werden gehört. Time-boxed, meist 10-15min. Mit sich selbst in Kontakt treten — Austausch mit dem inneren Team. Emotionen, Körperempflndungen, Gedanken dürfen sich zeigen, werden gehört.Time-boxed, meist 10-45min.
Sprint Kurze Iterationen, schnelle Ergebnisse. Kleine Schritte, Zwischenerfolge würdigen.
Product-Backlog Wie soll mein Produkt sein? Konkrete, priorisierte Features. Wie möchte ich sein? Und was möchte ich dafür tun? Konkrete, priorisierte Vorhaben.
Backlog-Grooming Vorstellen und Abstimmen neuer Features. Konkretisieren, schätzen, priorisieren. Emotionale Abstimmung neuer Vorhaben. Will ich das wirklich? Was bin ich bereit, dafür zu investieren? Priorisieren.
Sprint-Planning Was wollen wir in diesem Sprint für das Produkt entwickeln? Was möchte ich diese Woche für meine Entwicklung tun?
Sprint Review + Demo Gemeinsam den Produktfortschritt sehen. Sich am Fortschritt freuen. Commitment und Feedback der Stakeholder abholen. Sich am eigenen Fortschritt freuen. Kleine Erfolge sehen und sich daran freuen. Mit Neugier beleuchten: Wo stehe ich gerade? Wollte ich da wirklich hin? Ggf. justieren.
Retrospektive Austausch im Team zur Zusammenarbeit im Sprint: Was lief gut? Was lief nicht optimal? Was wollen wir beibehalten? Wo möchten wir etwas anderes ausprobieren? Innere Reflexion. Sich dem inneren Team, den eigenen Gefühlen, Empfindungen, Gedanken stellen. Wie habe ich in dieser Woche tatsächlich an mir gearbeitet? Habe ich mein inneres Team tatsächlich gehört? Was war für mich stimmig? Was lief noch nicht optimal? Was möchte ich nächste Woche wieder tun? Wo möchte ich Neues ausprobieren?

Und es ist genau dieses Erkennen, dass da etwas Altes in mir mächtig drängt, und die bewusste Entscheidung, es diesmal anders zu machen, was zu neuen Hirnstrukturen führt. Die Neuroplastizität wird stimuliert. Immer und immer wieder, bis diese neuen Denk- und Handlungsweisen zu meinem Default werden. Auch hier heißt es wieder "Übung macht den Meister": Dieser ganze Vorgang erinnert an Reengineering: Statt einfach weiter in den alten Codemustern zu reagieren, lernen wir die Architektur unseres Denkens verstehen und gestalten bewusst unser neuronales Netz um.

Nicht ohne Grund haben die Urväter des Scrum am Ende des Sprints das Sprint-Review und die Retrospektive gesetzt. Das fertige "Inkrement" und die eigene Vorgehensweise sollen ja einem kritischen Blick unterzogen werden. Für unser Vorhaben erfolgen das Sprint-Review und die Retrospektive als Selbstreflexion.

Wir kommen auf das Beispiel mit Herrn Meier zurück: Nehmen Sie sich einen ruhigen Moment. Spüren Sie in sich hinein, ob und wie sich Ihre Einstellung zu Herrn Meier durch das Telefonat und das gemeinsame Mittagessen geändert hat. Haben Sie eventuell Dinge erfahren, die Verständnis für sein Verhalten bei Ihnen geweckt haben? Vielleicht ist bei Ihnen die Erkenntnis entstanden, dass Sie in seiner Situation ähnlich gehandelt hätten. Vielleicht kommen Sie auch zu dem Eindruck, dass Herr Meier ein stark selbstgetriebener Mensch ist, der überhöhten Karrierezielen hinterherrennt und so ein Gefangener seiner selbst ist. Dann haben Sie schon jede Menge Mitgefühl für Herrn Meier entwickelt und Empathie bewiesen. Dann sind Sie in Ihrem Projekt auf Kurs. Das wäre doch ein schönes Ergebnis des Sprint-Reviews, nicht wahr?

Die Retrospektive - Inspect and adapt!

Egal, wie das Sprint-Review gelaufen ist: Bitte vergessen Sie die Retrospektive nicht! Sie ist ein wichtiger Baustein Ihres Projekts. Die beschriebene Methode und die dahinterstehenden Gedankengänge sind alles andere als alltäglich. Auch das soll geübt sein, um es in Fleisch und Blut übergehen zu lassen. Sie können sich folgende Fragen stellen: War meine Vorgehensweise zielführend? Was waren die Erfolgsfaktoren? Was waren Hindernisse, egal welcher Art? Was möchte ich das nächste Mal anders machen? Was möchte ich beibehalten? "Inspect and adapt" gilt auch hier. Und noch ein Tipp: Machen Sie sich Notizen!

Agiles Mindset hat Stellenwert eines Betriebssystems

So, das war ein grober Umriss, wie Agile Your Mind funktionieren kann. Welche Gedanken schießen Ihnen durch den Kopf? "Unkonventionell", "Anstrengend", "Raus aus der Komfortzone", "Interessante Sache, aber für mich nicht umsetzbar", "Glaub ich erst, wenn andere das vormachen", "Nett, aber ich habe gerade andere Probleme", "Etwas für Hardcore-Agilisten", "Ok, aber ich sehe hier keine Dringlichkeit"?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen unsere Sicht auf die aktuelle Situation beschreiben: Agile ist ein grandioses Konzept mit gigantischem Potential. Das Potential ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Konzeptionell und strukturell gibt es bereits viele Aktivitäten. Im "Außen" sind wir schon weit gekommen. Das ist sehr erfreulich. Doch wir müssen die Menschen mitnehmen, die Macher von Agile. Im "Innen", also in den Köpfen der Menschen gibt es Aufholbedarf. Der Abstand darf nicht zu groß werden. Sonst laufen wir Gefahr, dass Agile scheitert oder es bei einem "Agile light" bleibt. Immer dann, wenn Menschen vom Konzept entkoppelt sind, setzen gewöhnlich zwei Effekte ein:

  • Zunehmende Regulierung von außen, um die Leute zu mehr Agilität zu disziplinieren. Dies wäre schlicht und einfach Verrat am agilen Konzept.
  • Oder der Schwenk auf etwas Neues, etwas noch Vielversprechenderes, was das endgültige Scheitern von Agile bedeuten würde. Wollen wir das?

Es geht inzwischen nicht mehr darum, Trendsetter zu sein, sondern vielmehr darum, den Anschluss nicht zu verlieren.

Das Kultivieren neuer Denk- und Handlungsweisen durch Bewusstheitsförderung war und ist nichts für Freaks oder Menschen, die sonst keine Probleme haben. Oder würden Sie Steve Jobs (Apple), Dustin Moscovits (Facebook), Marc Weiner (LinkedIn) und Marc Benioff (Salesforce) hier einordnen? Warum wohl rollen Unternehmen wie Bayer, dm drogerie, Google, Intel und SAP entsprechende Programme aus? Bestimmt nicht als Wellness-Programm für Ihre Mitarbeiter.

Das Potential von Mindfulness stützt sich schon längst nicht mehr nur auf rein subjektive Erfahrungsberichte einiger Langzeitpraktizierender. Es gibt inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Studien, die die Wirkung von Geistestraining dank bildgebender Verfahren belegen. Die Zahl relevanter Studien steigt aktuell exponentiell an.

Und hinsichtlich der Änderung unseres Bordcomputers hin zu mehr Bewusstheit gibt es noch eine gute Nachricht: Überall wird derzeit geklagt, dass es auf dem Arbeitsmarkt zu wenige wirklich agile Entwickler, Tester und Führungskräfte gibt.
Jetzt können wir viel Energie in die Suche stecken und in den Wettbewerb um die wenigen agilen Köpfe. Oder wir können eben Gelegenheiten schaffen, dass die Menschen ihr ureigenstes Potential erkennen und langsam entfalten. Und die meisten Menschen möchten genau das.

Sie können das in Ihrem Unternehmen ganz deutlich sehen: Wenn Sie einem Mitarbeiter die Chance nehmen, sich weiterzuentwickeln oder ihm dabei zumindest relevant im Wege stehen, wird er gehen. Wenn Sie Ihren Mitarbeitern die Möglichkeit eröffnen, wirklich zu wachsen, werden die Mitarbeiter bei Ihnen bleiben.

Unsere Prognose: In 10 Jahren wird ein IT-Unternehmen ohne ein Programm zur Förderung eines agilen Mindsets keine Bewerbungen mehr erhalten. Wir sind darüber hinaus der Überzeugung, dass Unternehmen, die es versäumen, hier tätig zu werden, auch massive Probleme bei der Innovationskraft und bei der Produktentwicklung bekommen werden.

Ein letzter, wichtiger Punkt noch: Natürlich haben Sie die Wahl. Es steht jedem frei, sich gegen diese Entwicklung zu stemmen und eben nicht zu üben. Bitte seien Sie sich aber bewusst: Sie üben trotzdem weiter, die alten Denk- und Handlungsmuster eben.

Wir üben immer – so oder so.

Immer, wenn ich wütend bin, werde ich besser im wütend-sein. Immer, wenn ich mich selbst verurteile, weil ich etwas "falsch" gemacht habe, werde ich besser im Selbstverurteilen. Immer, wenn ich vor der eigentlichen Gegenwart und mir selbst flüchte – z. B. indem ich mich in meinem Handy verliere – werde ich besser darin, mich selbst zu verlieren. Entscheiden Sie, was Sie üben.

Wir müssen nicht, aber wir dürfen umdenken.

Wir können zum Gestalter unseres körpereigenen Embedded-Systems werden. Und der erste Schritt dazu ist, sich dafür zu entscheiden.

Quellen
  1. Das Agile Manifest
  2. K. Schwaber, J. Sutherland: The Scrum Guide

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