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Markus Andrezak & Henning Wolf 09. Juli 2019

Agiles Mindset und Kultur! Aber wie?

Das Dilemma mit der Kulturveränderung

Hätte es doch Edward Norton Lorenz nie gegeben! Hätte er doch einfach nicht diese dynamischen, komplexen Systeme erkannt und beschrieben! Dann wäre heute alles ganz einfach. Es kam aber alles anders und jetzt ist alles komplex. Jemand muss ja schuld sein.

Hans Meier kommt aus einem Meeting. Dem Meeting. Jede Woche geht es schief. Und jede Woche ärgert sich Hans Meier schwarz über das Meeting. Er muss dann erst einmal eine Runde gehen, um sich zu beruhigen. So sehr wühlt es ihn auf. In dem Meeting passiert immer dasselbe. Eigentlich ist das Meeting dafür gedacht, kritische Abhängigkeiten zwischen Teams herauszufinden und somit den Teams zu ermöglichen, besser zusammenzuarbeiten. Tatsächlich berichten alle wichtigen Leute einfach nur, wie gut sie waren. Von Zusammenarbeit keine Rede. Worum es geht, sind Eitelkeiten. Aber Hans Meier ist ratlos, wie er dem begegnen soll. Wenn er sich als einziger exponiert und versucht, das Meeting zu ändern, könnte das die anderen nerven. Nichts tun ist unbefriedigend – das macht er ja schon. Handeln wäre angesagt, nur: wie? Hier versagt Hans Meier's Wissen, ihm fällt nichts ein und jede Option, zu handeln, wirkt riskant: Man weiß nicht, was passiert. Hans Meier ist klar, dass es sich hier um ein "kulturelles" Problem handelt. Und heißt es nicht, Kultur äße Strategie zum Frühstück? Genau so fühlt es sich an.

Hans Meier geht es wie vielen. Wir hören heute, dass Kultur sich nicht einfach so beeinflussen lässt. Es gehen Mythen um wie: Kultur ist wie ein Schatten und man könne sie nur indirekt beeinflussen. Kultur könne man gar nicht explizit beeinflussen. Wenn man Werte aufschreibe, gingen diese verloren. Negative Werte aufzuschreiben, scheint diese aber leider trotzdem nicht zu beseitigen. Dann wäre es ja einfach. Insgesamt ist das ein Konstrukt von Aussagen, die wenig Mut machen, im Bereich von Kultur zu handeln. Aber soll man deswegen alles hinnehmen?

Letztlich wird Kulturwandel als komplexes Problem gehandelt, und so muss man es wohl auch angehen. Überlegen wir uns daher, wie Handeln in Komplexität sinnvoll gestaltet werden kann.

Die Komplexität der Kultur

Komplexität ist in aller Munde und seine Arbeitsumgebung nicht als komplex anzusehen, ist schon reduktionistisch. Manche sagen, sobald Menschen mitmachen, ist unser System, unsere Umgebung komplex. Und wenn unsere Umgebung komplex ist, dann ist sie nicht vorhersagbar. Wenn aber meine Aktionen keine vorhersagbaren Effekte haben, kann ich dann Verantwortung für meine Handlungen übernehmen? In komplexen Systemen beschleicht uns oft das Gefühl, etwas falsch zu machen. Kurz: In komplexen Systemen handeln wir immer in Unsicherheit und mit unvollständigen Informationen. Unter diesen Umständen ist es ein natürlicher Reflex, mehr, bessere und detailliertere Informationen bekommen zu wollen, bevor man handelt. Weil die Unsicherheit groß ist, möchte man gerne einen Plan haben – und lieber einen guten. Je mehr man aber Informationen einholt und plant, umso weniger wird man das Gefühl los, dass das nie ein Ende nimmt und hier irgendetwas nicht stimmt. Kennen Sie das? Es fühlt sich an, als müsste man 30 Korken auf einmal unter Wasser halten – und das mit zwei Händen. Immer wenn 29 Korken unter Wasser sind, poppt der letzte wieder nach oben.

Die Suche nach einem sehr guten oder gar perfekten Plan oder Ergebnis hört einfach nicht auf. Mit noch mehr Informationen könnte der Plan doch morgen noch besser aussehen als heute. Warum nicht erst morgen handeln? Und so gibt es in dieser Situation zwei übliche Reaktionen: Entweder man wagt es und geht auf’s Ganze. Man baut einen großen Plan, dazu noch Plan B und Plan C und gibt alles. Oder aber man verfällt in Opferstarre und handelt gar nicht mehr. Ein Beispiel für einen unmöglichen, unglaublich großen Plan, der an seiner eigenen Komplexität erstickt ist, ist vielleicht unser Hauptstadtflughafen BER. Voller Willen hat man sich in den riesigen Plan geworfen und ist dem Plan recht stur gefolgt. Warum sich von der Realität beirren lassen, wenn der Plan so schön ist? Es hätte ja auch klappen können.

In beiden Fällen sind die Aktionen menschlich sehr verständlich. Und doch sehen wir, mit etwas Abstand, dass die gewählten Handlungen auch ihre Nachteile mit sich bringen. Im Falle von BER liegen die Milliarden verbuddelt im Märkischen Sand und werden womöglich niemals ihren Gegenwert bringen. Mit vielen kleineren Plänen hätte man vielleicht irgendetwas erreicht.

Handlungsoptionen im Komplexen

Der Trick im Komplexen ist, das System kennenzulernen, in dem wir uns befinden. Das beste Mittel dafür ist es, Proben zu nehmen, diese mit dem erwarteten Ergebnis zu vergleichen und aus diesem Vergleich zu lernen. Verhält sich das System wie gedacht, oder eben doch ganz anders? So lernen wir im Allgemeinen (wissenschaftliches Prinzip) und so lernen wir insbesondere im Komplexen.

Das Thema Unternehmenskultur ist ein komplexes Problem. Das hat sich inzwischen herumgesprochen. Und so scheint sich ein naiver Umgang mit Unternehmenskultur zu verbieten. Auch hier gilt: Die Effekte meiner Handlungen sind unvorhersagbar – und damit können sie gewollte sowie ungewollte Nebeneffekte zeitigen.

Schauen wir uns also kurz an, was Unternehmenskultur ist, um zu verstehen, warum sie komplex ist. Vielleicht hilft uns das, Handlungsoptionen zu finden. Das war ja im Komplexen die dritte und beste Option: Einfache, bedachte Handlungen, um das System zu verstehen.

Die heute vielleicht gängigste Definition von Unternehmenskultur ist die von Edgar Schein [1]. Schein unterscheidet drei Ebenen.

Die erste Ebene ist sichtbar und damit direkt beobachtbar. Sie besteht aus den Verhaltensweisen, Ritualen und Artefakten, die wir im Unternehmen beobachten können: Welche Meetings gibt es und wie laufen sie ab? Wer redet? Wer schweigt? Gibt man sich prinzipiell recht oder wird gestritten? Darf gestritten werden, soll oder muss gestritten werden? Einigt man sich wieder? Wie sehen die Büros aus? Haben die Besprechungszimmer riesige Whiteboards, Fenster, hängen Motivationsposter an den Wänden, gibt es Blumen? Wie ziehen wir uns an? In Religionen würden wir uns hier die Kirchen und Gottesdienste anschauen.

Auf der zweiten Ebene stehen in diesem Modell die kollektiven Werte, oder auch das "Gefühl für das Richtige", die Werte, für die das Unternehmen behauptet einzustehen. Sehen wir uns dafür verantwortlich, nachhaltig mit der Umwelt zu wirtschaften, wollen wir einen "fairen" Umgang mit den Kollegen, Zulieferern und der Konkurrenz, wollen wir – "America First!" – um jeden Preis gewinnen? Diese Werte eines Unternehmens findet man oft in öffentlichen Äußerungen, Broschüren, Marketing usw. Nehmen wir wieder die Kirche als ein Beispiel für Kultur, so wären das z. B. die christlichen Werte, die in den 10 Geboten kompakt ausgedrückt werden. In der Kirche, wie in jeder anderen Kultur, müssen Ebene 2 und Ebene 1 nicht passgenau sein. Die Handlungen entsprechen nicht immer den Werten ("heuchlerische" Handlungen). Je nach Kultur werden die Unterschiede zwischen "offiziellen Werten" und gelebter Kultur mehr oder minder repressiv nachverfolgt.

Auf der dritten Ebene in Scheins Modell finden sich die Grundannahmen einer Kultur. Diese werden einfach hingenommen und nicht mehr hinterfragt. Sie sind letztlich nicht bewusster Bestandteil der Kultur und können daher von Teilnehmern der Kultur gar nicht mehr formuliert werden. Angenommen, es gäbe eine beste Kultur. Dann könnte diese sich also selbst gar nicht vollständig beschreiben. Deshalb ist es auch schwer, die besten zu kopieren. Die Grundannahmen sind also eine Art blinder Fleck in der Kultur, dennoch aber kulturprägend.

Schein sagt, dass die Ebenen miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen. Es läge also nahe, Verhalten durch geäußerte Werte verändern zu können und umgekehrt. Oder gar Verhalten ganz indirekt durch Änderung der Grundannahmen zu beeinflussen. Aus der Beschreibung des Modells heraus wird schnell klar, dass es schwer sein dürfte, Grundannahmen überhaupt direkt zu beeinflussen, da sie unbewusst und nicht geäußert oder gar dokumentiert sind. Es scheint, als könnten diese nur indirekt – über Bande – beeinflusst werden, indem man an den Werten oder am Verhalten dreht.

Schauen wir auf die Ebenen 1 und 2, um zu entdecken, wo unser größter Hebel für Kulturänderung liegt. Wenn wir auf Ebene 2 – den gemeinsamen Werten – anfangen, so stellen wir fest, dass diese sehr abstrakt und oft missverständlich sind. Das führt dazu, dass sie zum einen sehr qualitativ und damit schwer "messbar" sind und somit vor allem subjektiv vom Individuum bewertet werden. Damit werden sie auch von verschiedenen Individuen unterschiedlich bewertet. Genau das ist aber eine hervorragende Quelle für Streit und führt im Konfliktfall nicht weiter. Werte einer anderen Person oder Gruppe ändern zu wollen führt zu Diskussionen wie, "ich finde, du hast dich hier zu dominant verhalten", "nein, finde ich gar nicht, du hättest selbst mehr tun müssen". Diese Diskussionen sind schwer auflösbar. Meist sind sie überhaupt nur durch Macht lösbar: Eine Meinung wird richtiger und eher befolgt, weil die Person, die sie äußert, besseren Zugriff auf Repressionen hat, als die andere. Die Person mit mehr Macht kann sich hier durchsetzen, weil sie letztlich auf ein Ritual der Bestrafung zugreifen kann.

Wir sind selbst über den Ausdruck "Macht" gestolpert. Tatsächlich wäre es schön, wenn die Macht gewählt statt aufgesetzt wäre. Am Ende mussten wir aber feststellen, das Macht hier ein gutes Mittel ist, um den Zweck zu erfüllen "handlungsfähig" zu werden. Es mag schönere Optionen geben. Aber in Umfeldern, die wir beobachten, scheint Macht ein immerhin vorhandenes Mittel zum richtigen Zweck zu sein. Auf keinen Fall wollen wir hier natürlich dafür appellieren, prinzipiell Macht einzusetzen, um wieder handlungsfähig zu werden. Es wäre schön, wenn es in der betreffenden Organisation anders ginge.

Der Umweg der Kulturveränderung geht also über Ebene 1, die Rituale und beobachtbares Verhalten umfasst. Getestet wird dann, ob die Person sich nun "richtig verhält". Das "richtige" Denken oder Fühlen bleibt schwer überprüfbar. Auch wenn ein Gefühl von "der macht das nur aus Vernunft, nicht aus Überzeugung" bleiben mag. Gedanken sind schwer bewertbar, Äußerungen in Wort und Tat schon eher.

Bis hierher wäre also das Fazit, dass Kultur am ehesten auf der sichtbaren Ebene von Artefakten, Handlungen und Ritualen beeinflussbar ist. Das ist auch der Konsens einer Fraktion von Kulturforschern. Einige nennen das die Handlung auf der "Vorderbühne" – vielleicht ein schönes Bild. Zusätzlich können Kulturen einer sehr hohen Reife auf der Ebene von Werten kommunizieren und dadurch auf dieser Ebene direkt beeinflussbar sein. Das ist aber eher selten und bedarf eines sehr ausgeprägten, expliziten Wollen und Bemühens, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Ein Vorschlag für eine Regel, die oft hilft, obwohl sie nicht exakt ist: "Kultur lässt sich am besten auf Ebene 1, der Ebene beobachtbarer Dinge, Handlungen und Rituale beeinflussen." Die Regel ist deswegen nicht ganz exakt, weil es durchaus möglich ist, auf den anderen Ebenen zu agieren, allerdings ist dies schwieriger und nicht in jedem Kontext machbar. Ein tieferer Blick in die verschiedenen Modelle und Herangehensweisen hilft wenig und verwirrt eher mehr.

Warum Nicht-Handeln nicht hilft

Die anfangs erwähnten Mythen um Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Beeinflussung von Kultur haben alle einen gewissen wahren Kern. Ohne Erklärung und ohne Kontext vertiefen sie das ohnehin bestehende emotionale Problem, in Unsicherheit und Komplexität handeln zu wollen. Aus den drei Optionen a) immer mehr Daten und Informationen sammeln zu wollen, um perfekte Entscheidungen zu treffen, b) nicht zu handeln oder c) nachzudenken, zu handeln und Erwartetes mit Erlebtem zu vergleichen, treiben uns die halb-wahren Mythen direkt in die Arme der schlechteren Optionen a und b. Die bessere Option c zu ergreifen, Stück für Stück durch bedachtes Handeln etwas über unsere Umwelt zu erfahren, wird durch die Mythen nicht erleichtert. Zusammen mit dem klassischen Bild von Management, nämlich der direkten Beeinflussung des Systems in Verbindung mit guter Vorhersagbarkeit, ist das Dilemma perfekt.

Wer keine Entscheidungen trifft, macht keine Fehler...

Gehen wir die Optionen einmal durch und vergleichen sie mit Beobachtungen aus dem Alltag:

  • Wenn meine Entscheidungen in Bezug auf Kultur vorhersagbar sein sollen, dann sieht "keine Entscheidung" erst einmal sehr gut aus: Ich mache keine "Fehler". Das ist das klassische Beamtenmikado – wer sich zuerst bewegt, hat schon verloren. Offensichtlich führt diese Option zum Stillstand. Und damit ist Änderung und Lernen ausgeschlossen.
  • Die Option, weiter einen guten Plan zu schmieden, ist verführerisch: Könnten meine getroffenen Entscheidungen in Bezug auf Kultur nicht noch besser werden, wenn ich ein bisschen warte? Diese Option führt zwar immerhin schon zum Nachdenken, aber noch nicht zum Handeln, und auch sie bedeutet in letzter Konsequenz Stillstand.

Auf unseren Betrachtungsgegenstand Kultur übertragen bedeuten diese beiden Optionen: Einen Missstand laufen lassen ("wird schon") oder aber in der Tiefe analysieren ("das müssen wir erst einmal ganz genau analysieren"), bevor man handelt. Die Konsequenz der ersten Option ist offensichtlich nicht erfolgreich: Es wird passieren, was eben passiert. Die Wirkung auf die Organisation entspricht einem Schulterzucken – "ist mir doch egal". In Situationen, in denen Kultur fehlsteuert – mangelnde Qualität, Pünktlichkeit, Sorgfalt, Sparsamkeit, zu starre Regeln, zu wenige Regeln – lässt man es jetzt laufen. Die zweite Option sieht erst einmal vernünftig aus, kann aber zum ewigen Denken verleiten.

Die beste Option mit Kultur umzugehen – Mythen hin oder her – ist also, bedacht zu handeln und den beabsichtigten Effekt mit dem erzielten Effekt zu vergleichen. Da es sich bei der Arbeit an Kultur oftmals um "Eingriffe" handelt, die nicht zurückzudrehen sind, bleibt es, das Gebot minimaler Eingriffe zu beachten. Große Eingriffe könnten schon mehr kaputt machen, als das Lernen wert ist. Extreme Beispiele solcher Eingriffe, die sorgsam mit genügend anderem Lernen vorzubereiten sind, wären etwa "Gehalt transparent machen" oder "Soziokratie einführen".

Im Folgenden wollen wir daher aufgrund unserer Analyse pragmatische Lösungsvorschläge zu Kulturänderung geben. Die Basis ist unser Ergebnis, dass Kultur am ehesten geändert werden kann, indem wir die Dinge vor dem Kopf unseres Gegenübers ändern und nicht die Dinge in seinem Kopf. Wir versuchen also, Denken über Handlung, Rituale und Artefakte zu beeinflussen. Der Ausgang bleibt offen – das können wir aber im Komplexen, also auch bei Kultur – nicht ändern. Nicht zu handeln ist keine Alternative, da wir hiermit ins Passive verfallen. Und so ist der Rat, wie fast immer im Komplexen: Kleine Änderungen auf der Ebene der Handlungen und Dinge sind am vielversprechendsten. Wir verstehen unser System über kleine Versuche.

Handlungsmuster für Kulturveränderung

Auf unsere  Analyse im ersten Teil wollen wir nun im zweiten Teil konkrete Handlungsmuster für beispielhafte Situationen in kultureller Änderung zur Illustration beschreiben. Wir verwenden dabei folgendes Muster: Wir formulieren erst das Problem und schildern dann den Kontext, in dem es auftritt. Danach geben wir eine Lösung auf der Handlungsebene, um schließlich mit einem erklärenden Beispiel zu enden. Wir hoffen, so kleine Lösungen zu erzählen, die man einfach umsetzen kann.

Indirekte Verhaltensänderung über Rituale und Artefakte begleiten

Kultur kann oft beeinflusst werden, indem wir die Dinge vor dem Kopf – Rituale und Artefakte – ändern, statt zu ändern, was im Kopf der Menschen ist.

Problem
Wir stellen fest, dass wir mit unserer bisherigen Kultur bzw. unseren bisherigen Verhaltensweisen immer wieder in eine bestimmte Sorte Probleme laufen. Wir nehmen an, dass etwas an dieser Kultur geändert werden muss, damit diese Probleme nicht mehr auftreten.

Kontext
Wir haben ein in gewisser Weise stabiles System, in dem Menschen sich nachvollziehbar auf eine bestimmte Weise verhalten, weil sie expliziten Regeln und Prozessen, aber auch einer im System etablierten Kultur und einem gemeinsamen Wertesystem folgen.

Lösung
Wir ändern Rituale oder Artefakte, anstatt neue Werte oder eine neue Kultur zu proklamieren (oder begleiten die Proklamation mit solchen Änderungen). Geänderte Rituale folgen weniger der bisherigen Kultur, sondern sind neu und ungewohnt und erlauben oder erzwingen, einer neuen Logik zu folgen. Ebenso kann es sich mit neuen Artefakten verhalten. Es wäre allerdings naiv, zu glauben, dass einfach nur das Ändern der Dokumentvorlagen, Prozesse oder Rituale per Erklärung erfolgreich sein könnte. Es bedarf zwingend einer guten Begleitung bei der Änderung und immer wieder Erklärungen, warum jetzt anders vorgegangen wird (und dass man es damit ernst meint). Siehe hierzu auch den Abschnitt "Klare Absichten".

Beispiel
In einer Organisation gibt es ein monatliches Abstimmungsmeeting mehrerer Teams. Bisher wird dort vor allem berichtet, wie viel Rendite die einzelnen Teams machen. Die Organisation bemerkt, dass die Teams wenig kooperieren und ein ausgeprägtes Bedürfnis haben, sich von den anderen Teams abzugrenzen. Das führt zu egoistischem Handeln der Teams, weniger Kommunikation mit anderen Teams und wenig Weitergabe von Informationen. Das Abstimmungsmeeting wird dahingehend geändert, dass nur noch die gemeinsame Rendite aller Teams in ihrer Entwicklung betrachtet wird und die Teams zusätzlich berichten, wie sie mit anderen Teams kooperiert haben und was die positiven Effekte dieser Kooperation waren. Darüber wächst das Interesse an den anderen. Teams helfen bereitwilliger, entdecken gemeinsame Chancen und lernen voneinander.

Gegenbeispiel: Kicker macht Start-up-Kultur
Wer sein will wie ein Start-up und glaubt, man könne die Start-up-Kultur über das Aufstellen eines Kickers oder einer Tischtennisplatte herstellen, der wird vermutlich schnell lernen, dass es so nicht geht, zumindest nicht ohne weitere begleitende Maßnahmen.

Klare Absichten

Indem wir absichtsvolles Handeln explizit machen und in jeder Situation erklären, was wir beabsichtigen, werden Unsicherheit, Unklarheit und Missverständnisse vermieden und dadurch Vertrauen und soziales Kapital aufgebaut.

Problem
Wir beurteilen uns selbst anhand unserer Absichten, die anderen jedoch anhand ihres Verhaltens. Kein Wunder, denn meist kennen wir die Absichten der anderen nicht. Eventuell unterstellen wir sogar anderen nicht immer die besten Absichten, deuten ihr Verhalten entsprechend, so dass Missverständnisse und Konflikte vorprogrammiert sind. Mit dem Befolgen von Prozessen oder Regeln und Anweisungen verhält es sich ähnlich: Wenn wir deren Sinn, Zweck und Absicht nicht kennen, entsteht Unsicherheit und Unklarheit, insbesondere, wenn es einmal nicht nach Plan läuft.

Kontext
Der Kontext für klare Absichten ist sehr weit: Vom Organisationsziel bis zu jedem einzelnen Agenda-Punkt jedes Meetings oder jedes kleinen Schritts jedes Prozesses schafft absichtsvolles Handeln Klarheit.

Lösung
Klarheit führt zu Stärke. Wenn also jedem jederzeit klar ist, wofür er etwas tut, ist er potenziell handlungsfähiger, als wenn er es nicht weiß. Machen wir also so oft wie möglich unsere Absichten explizit und sprechen sie aus. Erklären wir am besten für jede Regel und jeden Prozess, warum sie/er da ist und was wir mit ihr/ihm bezwecken. Sprechen wir am Anfang jedes Meetings darüber, was wir mit diesem Meeting beabsichtigen. Am besten fragen wir nach, wenn wir bei einem Kollegen Verhalten sehen, dessen Zweck wir nicht verstehen: "Was bezweckst du damit?"
In der Praxis gerät das explizite Benennen von Absichten in Vergessenheit, weil es überflüssig scheint, wenn doch sowieso jedem klar ist, warum wir etwas tun. Allerdings muss sich nicht viel ändern und es gerät in Vergessenheit. Die neue Kollegin weiß es nicht, der alte Kollege hat es vergessen oder verwechselt es. Schon sind wir bei Aussagen wir: "So haben wir es immer gemacht." "So ist es am effizientesten." "Weiß ich nicht (mehr)." Diese Aussagen weisen letztlich auf blinde Flecken hin, in denen das gemeinsame Bewusstsein über die Gründe des Handelns der Organisation abhanden gekommen ist.   

Beispiel
Das Daily Scrum eines Scrum-Teams verkommt zu einem Reporting: Die Teammitglieder berichten dem Scrum Master, was sie erledigt haben. Eine neue Kollegin bemerkt das Problem und hinterfragt den Zweck. Man erinnert sich gemeinsam: Das Daily Scrum dient der Koordination der Teammitglieder untereinander. Zukünftig erinnert der Scrum Master zu Beginn jedes Daily Scrums daran und die Teammitglieder passen an, was sie sagen. Sie setzen jetzt einen Fokus darauf, was die anderen wissen sollten oder was sie von den anderen noch an Informationen benötigen. Sie besprechen im Optimalfall explizit, was sie heute gemeinsam erreichen oder erarbeiten können.

Gewinnen in einer Welt der Fülle: Win-Win-Win

Indem wir die Welt als eine Welt von Fülle und nicht von Mangel sehen und behandeln, vermeiden wir vertrauen-zerstörende Konflikte.

Problem
Wir nehmen die Welt mitunter als eine Welt des Mangels wahr. Das beeinflusst unser Denken. Wir glauben, dass wir nur gewinnen können, wenn jemand anderes dafür verliert. Das führt zu Konflikten und harten Auseinandersetzungen in Organisationen, wenn Einzelne ihren Willen gegen den Willen anderer durchsetzen und nicht mehr nach Kompromissen suchen, die für beide Seiten und die Organisation gut sein können.

Wir neigen dazu, Polaritäten zu sehen, wo keine sein müssten.

Kontext
Gerade rund um begrenzte Ressourcen wie Entwicklungsteams, Geld, die Aufmerksamkeit des Vorstands oder den begrenzten Platz auf der Startseite im Netz wird in Organisationen viel gerungen, mitunter regelrecht gekämpft.

Lösung
Bevor wir mit einem Verteilungskampf beginnen, sollten wir uns unserer individuellen Ziele klar sein (s. "Klare Absichten") und uns vorstellen, wie wir diese gemeinsam erreichen könnten. Wir neigen dazu, Polaritäten zu sehen, wo keine sein müssten. Es geht nur flexibel oder geplant? Nein, wir könnten für Flexibilität planen oder flexibel genug sein, um zu planen. Dabei geht es nicht um faule Kompromisse und ein gleichmäßiges Aufteilen von Ressourcen, sondern um ein gemeinsames Ausrichten, das Beste für alle herauszuholen.

Beispiel
In einer Organisation gibt es eine ganze Reihe von Reiseregelungen: Ab wann darf geflogen werden? Was darf das Hotel kosten? Fährt man Bahn in 1. oder 2. Klasse? Wenn man Kosten sparen möchte, muss man das wohl tun. Um den Mitarbeitern die Reisen so angenehm wie möglich zu machen, müsste man etwas anderes tun. Wir haben also einen verkürzten Blick auf die Ressource Reisekosten.
Um gemeinsam gewinnen zu können, müssen wir den Blick etwas weiten. Wenn wir gänzlich auf Reiseregelungen verzichten, dafür die Reisekosten für alle transparent machen, kann dabei etwas herauskommen, was den Mitarbeitern erlaubt, nach ihren Vorstellungen zu reisen, es erleichtert ihre Reisebuchungen. Steigen die Kosten? Vielleicht, aber der Nutzen auch: Die Mitarbeiter verwenden weniger Zeit auf das Buchen zur Regelung passender Reisen. Sie vermeiden aber vor allem seltener notwendige Reisen und schaffen so mehr Nutzen für die Organisation.    

Das Mindset der Anderen (ist egal; ihr Verhalten nicht)

"Hätten meine Kollegen doch nur das richtige Mindset" ist ein häufig zu hörender Satz. Tatsächlich behaupten wir, dass Handlungen wichtiger sind als Mindset, um Kultur zu prägen.

Problem
Wir reden uns den Mund fusselig, führen tolle Prozesse, Vereinbarungen, Methoden ein und erklären immer und immer wieder, warum das so toll, agil und am besten für uns ist! Trotzdem versteht nicht jeder, was wir von ihm wollen (oder will es einfach nicht). Wir unterstellen dann den anderen, dass ihr Mindset, ihre Gedankenwelt, ihr Denken noch zu sehr im Alten – vermeintlich Falschen – verhaftet ist und glauben inständig, dass das unser Problem wäre. In dieser Logik ist das zu lösende Problem die Einsicht Anderer, die Lösung scheint schwierig, weil gute Gehirnwäsche nicht nur teuer, sondern gar nicht zu kaufen ist. Da helfen keine Scrum-Kurse, nicht mal mit Zertifikat.  

Kontext
Das Phänomen der Anderen mit falschem Mindset taucht in vielen Spielarten auf: Das andere Team, die andere Abteilung, die Kunden, die Managerin, die Mitarbeiterinnen. Hinzu kommt eine Vielzahl möglicher richtiger oder falscher Mindsets: Nicht agil genug, nur agil-religiös, nicht kostenbewusst, nicht innovativ genug.

Lösung
Puh, wie soll eine Lösung aussehen, wenn man beim Totschlag-Argument Mindset angekommen ist? Nun, je nach selbst vertretendem Mindset muss die Frage erlaubt sein, ob wir mit unserer zutiefst menschlich nachvollziehbaren Beschuldigung, die anderen hätten nicht das richtige Mindset, eigentlich unserem eigenen Mindset gerecht werden. Für uns wäre z. B. Teil des agilen Mindsets, sich eine Offenheit allen anderen Ideen gegenüber zu bewahren. Und selbst wenn "andere beschuldigen" in unserem Mindset okay wäre, stellt es sich in puncto Veränderungsbereitschaft nicht als besonders nützlich heraus.
Legen wir also das Mindset beiseite; führen konkrete Diskussionen um konkrete Wünsche; bitten um das, was wir wollen; streiten für Kompromisse; führen Experimente durch und übernehmen Leadership dafür, dass sich überraschenderweise die meisten Probleme im Kleinen und weniger Grundsätzlichen sehr wohl lösen lassen. Beurteilen wir lieber anhand des Verhaltens und nicht anhand eines unterstellten Mindsets die anderen und nehmen diese Sicht auch auf uns selbst an. Dann wird uns vielleicht klarer, warum uns an bestimmten Stellen andere nicht vertrauen: Sie verstehen unsere Vorgehensweise nicht. Dann erklären wir erneut und lassen uns auf eine Diskussion ein, was denn genug Vertrauen schaffen könnte, damit wir das Neue (und sei es nur als Experiment) ausprobieren können.      

Beispiel
Die Softwareentwicklung in einem Konzern ist bereits agilisiert. Die Personalabteilung ist es nicht. Das führt zu Reibung vor allem im Einstellungs- und Onboardingprozess, bei dem bisher ein Kollege aus der Personalabteilung den neuen Kollegen und seinen Vorgesetzten Abteilungsleiter lose begleitet hat. Jetzt sollen nach Wunsch der Softwareentwicklung die Teams stärker involviert werden. Das regt Widerstand bei der Personalabteilung, deren Prozesse darauf nicht ausgelegt sind.
Nach einer Weile des Verhakens und Verharrens entscheidet sich ein agiler Coach aus der Entwicklungsabteilung, davon abzurücken, der Personalabteilung das falsche Mindset oder das nicht verstandene agile Mindset vorzuwerfen. Im konkreten Gespräch wird klar, dass die Personalabteilung selbst nicht die Kapazitäten hat, um sich auf Teams statt die Vorgesetzten einzulassen. Sie sind ziemlich froh, dass die Vorgesetzten relativ stabil bleiben in der Organisation, weil sie wissen, welchen Aufwand eine Zusammenarbeit mit einem neuen Vorgesetzten bedeutet. Sie können sich aber darauf einlassen, dass erst einmal ein Vorgesetzter, begleitet von einem agilen Coach, für alle neuen Kollegen die Schnittstelle Richtung Personalabteilung übernimmt und wiederum Wissen in Richtung Teams vermittelt, was für Einstellung und Onboarding nötig ist. Parallel arbeitet der Bereichsvorstand für Softwareentwicklung mit dem Bereichsvorstand Personal an einer Lösung, um die Kapazitäten der Personalabteilung für die Softwareentwicklung zu erhöhen und testweise ein agiler Coach Aufgaben auf Seiten der Personalabteilung übernimmt.    

Abschluss

Wir sind alle Hans Meiers. Der Blick auf kulturelle Probleme verwirrt uns und macht uns scheinbar ohnmächtig. Kultur zu ändern ist ein komplexes Problem und es ist verführerisch, nur unter Verwendung großer, richtiger Pläne zu handeln. Ebenso fühlt es sich richtig an, einfach nicht zu handeln.

Das richtige Mindset einzufordern, steht uns nicht zu und behindert auch Erfolg.

Der Kulturbegriff von Schein hat uns geholfen, zu zeigen, dass bedachtes Handeln im Jetzt eine gute Option ist. Handlungen sollten dann kleine Eingriffe ins System sein. Diese helfen uns dabei, das System zu verstehen, in dem wir leben. Dies ermöglicht ein Arbeiten im Komplexen, unterstützt von empirischen Verbesserungsansätzen wie PDCA oder Build-Measure-Learn. Damit lernen wir unser System besser kennen und schaffen es, besser mit dem Kultursystem umzugehen und hoffentlich die größten Negativ-Erfahrungen zu vermeiden. Die Eingriffe sollten auf der ersten Kulturebene erfolgen, auf der Ebene sichtbarer Artefakte und Handlungen.

Mit Leuten über das richtige Mindset zu reden und dies einzufordern, steht uns nicht nur nicht zu. Es behindert auch Erfolg. Wann haben Sie das letzte Mal eine Einstellung erfolgreich und glücklich geändert, weil man das von Ihnen gefordert hat?

Rituale geben uns eine Möglichkeit, Verhalten vorzuleben statt zu erklären. Gleichzeitig helfen Rituale als sozialer Raum, Verhalten zu beurteilen und damit in gemeinsame Bahnen zu lenken.

Mit all dem wollten wir zeigen, dass bedachtes Handeln und das Registrieren der Effekte unserer Handlungen ein guter Weg ist, Kultur zu beeinflussen. Die Beispiele sollen dabei helfen, direkt ins Handeln übergehen zu können. Wir wünschen ein leckeres Strategie-Frühstück!

Quellen
  1. E. Schein, 1985: Organizational Culture and Leadership

Autoren

Markus Andrezak

Markus Andrezak arbeitet seit 20 Jahren an großen und kleinen Internetprodukten. Mit seiner Firma überproduct hilft er Firmen bei Strategie, Portfolio, Produkt und Innovation.
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Henning Wolf

Henning Wolf arbeitet bei it-agile als Trainer und Coach für agile Methoden (Scrum, Kanban) und Leadership-Themen (Certified Agile Leadership, The Responsibility Process™).
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