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Maik Wojcieszak 04. Oktober 2023

Agiles Risikomanagement – Komplexität und Unsicherheit sind die neue Norm

"In einer zunehmend unbeständigen Welt war Risikomanagement noch nie so wichtig wie heute" heißt es in einem Artikel von Ariane Chapelle vom 08. September 2023 im Harvard Business Review [1].

Vernetzung, Digitalisierung von Geschäftsprozessen und neue Technologien schaffen immer schneller immer mehr Möglichkeiten. Unternehmen können so bessere, individuellere Dienstleistungen und Produkte anbieten, neue Kunden gewinnen und Märkte erschließen. Natürlich entstehen dadurch auch neue, unbekannte Risiken.

Komplexität und Geschwindigkeit von Veränderungen sorgen für Unsicherheit, die zu Fehlentscheidungen führt. Dabei ist keine Entscheidung zu treffen auch eine Entscheidung. Risikomanagement hilft, dieser Unsicherheit zu begegnen.

Leider gibt es das unglückliche Klischee, dass Risikomanagement langweilig ist und Risikomanager Pessimisten und Panikmacher sind. Doch das muss nicht sein. Agiles Risikomanagement hilft, diese verbreitete Sichtweise zu überwinden.

Was muss sich ändern?

Agile Methoden erfordern die tägliche Zusammenarbeit und eine geeignete und regelmäßige Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Das Hinterfragen bereits getroffener Bewertungen und Einschätzungen und ggf. die Anpassungen an neue Situationen oder neue Informationen sind unerlässlich. Unerwartete Ereignisse und ständige Veränderungen der äußeren Umstände gehören zum Tagesgeschäft und sollen das Erreichen der Geschäftsziele nicht gefährden.

Agil zu sein bedeutet, sich schnell auf neue Situationen einzustellen. So können Herausforderungen besser gemeistert und Chancen effektiv genutzt werden. Agile Werte, Prinzipien und Methoden helfen dabei, dies zu erreichen.

... wir sollen Risiken eingehen. Wir denken also nicht an Risikomanagement als Versuch, Risiken zu minimieren. Das ist eigentlich der Weg, Kreativität zu verhindern. Vielmehr geht es darum, riskante Dinge zu tun und dann, wenn sie sich in eine unvorhersehbare Richtung entwickeln, muss man in der Lage sein, darauf zu reagieren.

Ed Catmull - Mitgründer von Pixar und Präsident von Pixar und Disney Animation Studios.[2]

Wenn sich Unternehmen auf die Minimierung von Risiken konzentrieren, verringern sie gleichzeitig die Chancen. Um Chancen zu nutzen, brauchen wir Kreativität und Mut. Mut erfordert Vertrauen. Auch wenn das Zitat von Ed Catmull aus einem Podcast aus dem Jahre 2008 stammt, so ist es heute immer noch aktuell. Risikomanagement muss sich ändern, damit Unternehmer und Mitarbeitende ihre Komfortzone verlassen und neue Dinge ausprobieren können. Nur so können Chancen effektiv genutzt werden.

Alle sind gefragt

Jede:r wird gebraucht, um die bestmöglichen Informationen zu erhalten. Jede:r stellt sein Fachwissen für den eigenen Arbeitsbereich zur Verfügung, um Risiken und Chancen zu erkennen, zu bewerten und bessere Entscheidungen zu treffen. Die Kommunikation ist dabei ein entscheidender Faktor. Bevor wir unser Wissen effektiv mit anderen teilen können, brauchen wir ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Sprache, die Missverständnisse vermeidbarer machen.

Bei Risikobewertungen sind Wahrscheinlichkeitsbegriffe wie gering, mittel oder hoch üblich. Bei der Beschreibung der Auswirkungen reichen die Begriffe von vernachlässigbar bis katastrophal. Doch was bedeutet das? Jeder versteht etwas anderes darunter. So sind Missverständnisse vorprogrammiert, die zu falschen Entscheidungen führen können.

Die Abbildung zeigt eine typische Verteilung von Antworten von Workshopteilnehmer:innen auf die Frage, wie sie die Wahrscheinlichkeit in Prozent für die links genannten Begriffe definieren.

Die Ergebnisse legen nahe, dass allein die impliziten Unterschiede der persönlichen Definitionen einen Vergleich von Einschätzungen unmöglich machen. Um das zu vermeiden, helfen Zahlen und vergleichbare Skalen.

Wahrscheinlichkeiten und Meinungen

Wahrscheinlichkeiten werden in Prozentwerten von 0 % (unmöglich) bis 100 % (sicher) ausgedrückt. Die meisten Menschen haben gelernt, dass der Prozentwert die relative Häufigkeit des Auftretens eines Ereignisses angibt. Die Wahrscheinlichkeit, eine 6 zu würfeln, ist zum Beispiel eins zu sechs oder 16,6 %. Natürlich wissen wir das für beliebige Ereignisse nicht, weil uns viele Informationen fehlen. Hier kommt das Bayssche Wahrscheinlichkeitskonzept ins Spiel. Der Prozentwert ist ein Maß für unsere Überzeugung. Wir drücken unsere Überzeugung in einer Zahl aus, die sie mit anderen Einschätzungen vergleichbar macht.

Während der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten für uns häufig eine Herausforderung darstellt, gibt es einen Wert, der uns sehr wohl vertraut ist: der Geldwert!

Was kostet es?

Was sind die Kosten oder der Gewinn, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt? Da es nicht einfach ist, eine konkrete Summe zu nennen, definieren wir ein Intervall, in dem der tatsächliche Wert wahrscheinlich liegen wird. Auf diese Weise können Abschätzungen der Auswirkungen leicht verglichen werden. Die Kommunikation von Überzeugungen und Einschätzungen ist auf diese Weise weniger mehrdeutig.

Ist es von Vorteil, Überzeugungen und Schätzungen in Zahlen auszudrücken und zu vergleichen? Die Antwort lautet: Ja, denn auf diese Weise werden Erfahrung und Intuition sichtbar und für die Entscheidungsfindung wertvoll.

Der Wert der Intuition

Unser Gehirn kann Muster in komplexen Zusammenhängen erkennen. Diese Fähigkeit ist auch als Intuition oder Bauchgefühl bekannt. Sie ermöglicht es uns, schnell und zielsicher Entscheidungen zu treffen, wo rationales Denken und Analyse zu lange dauern würden. Allerdings gibt es auch Grenzen. Entwicklungsgeschichtlich gesehen hat der Mensch die meiste Zeit in Situationen gelebt, die über einen langen Zeitraum hinweg stabil waren. Unsere Vorfahren hatten genügend Zeit zu lernen, ihre Intuition so zu nutzen, dass sie in genau diesen Situationen Ergebnisse lieferte.

Ändern sich die äußeren Umstände, liefert unser Bauchgefühl Ergebnisse, die in der vorherigen Situation richtig waren, aber in der veränderten Situation katastrophal falsch sein können.

Wir vertrauen auf unser Bauchgefühl, damit wir nicht zögern, möglicherweise lebenswichtige Entscheidungen umzusetzen. Hinterfragen oder Analysieren konnte für unsere Vorfahren in der Wildnis den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Heute nutzen Athleten diese Fähigkeit in Mannschaftssportarten wie Fußball oder Basketball, wo schnelle Reaktionen gefragt sind. Das Üben von Spielzügen und das Analysieren vergangener Spiele helfen dabei, intuitiv und ohne langes Nachdenken die richtige Entscheidung zu treffen.

Der Einsatz von Intuition und Erfahrung bei der Entscheidungsfindung in Projekten oder im Unternehmen ist nicht neu. Die Situation hat sich jedoch verändert. Die Gründe dafür sind die exponentiell fortschreitende Vernetzung, die Digitalisierung und eine zunehmend instabile politische Lage. Infolgedessen verändern sich Märkte viel schneller.

Verglichen mit dem Sport ist es so, als würden bei jedem Spiel neue Regeln gelten, über die die Spieler aber nicht informiert werden. Diese neue Situation ist für alle Marktteilnehmer gleich, so dass sich für Unternehmen viele neue Möglichkeiten ergeben, sich zu positionieren und den ständigen Wandel effektiv zu nutzen.

Binäres Denken

Die Frage ist: Welchen Nutzen hat Intuition in einer komplexen, sich schnell verändernden Welt für Projekte und Geschäftsentscheidungen? Schnell bedeutet schneller als andere. Da viele Unternehmen immer noch sehr lange Entscheidungsprozesse haben, kann schon eine kleine Verbesserung einen erheblichen Vorteil bringen.

Wenn man die Intuition nicht isoliert betrachtet, sondern die Ergebnisse mit anderen Experten vergleicht, ist es, als würden sich verschiedene Puzzleteile zu einem vollständigeren Bild zusammenfügen.

Natürlich ist es nicht hilfreich, auf dem eigenen Standpunkt zu beharren. Ein Meinungswechsel fällt leichter, wenn das binäre Denken, d. h. richtig und falsch oder ja und nein, durch eine beliebige Anzahl von Abstufungen dazwischen ersetzt wird. Auf diese Weise ist die eigene Einschätzung nicht sofort falsch, sondern vielleicht nur ein paar Nuancen weniger richtig.

Risiko Aversion

Wie kommt es aber, dass verschiedene Experten denselben Sachverhalt unterschiedlich bewerten? Eine Möglichkeit sind mentale Verzerrungen.

Zum Beispiel hat jeder Mensch eine individuelle Einstellung zum Risiko. Manchen Menschen fällt es leicht, Risiken einzugehen, während andere davor zurückschrecken. Dies führt zu entsprechend unterschiedlichen Einschätzungen. Diese persönlichen mentalen Verzerrungen werden durch den Vergleich und die Kombination mit den Ergebnissen der anderen ausgeglichen.

Weitere mögliche Gründe sind unterschiedliche Erfahrungen, Informationsstände und Perspektiven.

Information und Konsistenz

Je nachdem, wie informiert eine Person ist und wie die jeweiligen Informationen gewichtet werden, weisen die Bewertungen erhebliche Unterschiede auf. So wird beispielsweise eine Information zu hoch bewertet, weil jemand am selben Tag eine passende Nachricht im Internet gelesen hat. Dieses Phänomen wird Verfügbarkeitsverzerrung genannt.

Experten, deren Einschätzungen und Bewertungen bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, können lernen,  ihre Leistung zu verbessern, indem sie ihre Denkprozesse analysieren und gegebenenfalls anpassen.

Auch die Konsistenz mit verfügbaren Informationen spielt eine wichtige Rolle. So lassen wir uns beispielsweise leicht von fallspezifischen Informationen ablenken und ignorieren vorhandene, relevante statistische Informationen, wie allgemein bekannte Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse oder Stichprobengrößen. Diese Tendenz wird Basisratenirrtum (base rate fallacy) genannt.

Je besser die verfügbaren Informationen genutzt werden und je mehr Experten bereit sind, ihre Schätzungen auf der Grundlage neuer Informationen zu hinterfragen und zu korrigieren, desto effizienter sind die Ergebnisse. Diese bilden die Grundlage für Entscheidungen, und eine solide Grundlage ermöglicht gute Entscheidungen.

Aber woher wissen wir, wie gut unsere Einschätzungen und damit die Basis für Entscheidungen sind?

Feedback

In der agilen Produktentwicklung bitten wir die Nutzer häufig um Feedback. Anhand des Feedbacks überprüfen wir Entscheidungen und korrigieren sie, wenn nötig. Auf diese Weise lernen wir mehr über das komplexe Umfeld, in dem wir eine erfolgreiche Lösung präsentieren wollen.

Bei der Schätzung der Wahrscheinlichkeiten von Zufallsereignissen gibt es diese Möglichkeit nicht. Dennoch ist es notwendig, ein gewisses Feedback zu erhalten, damit eine kontinuierliche Verbesserung der Ergebnisse durch Lernen möglich ist.

Der 1950 von Glenn W. Brier vorgeschlagene Brier Score[3] kann dabei helfen. Grundlage für die Berechnung des Brier Scores sind die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten von Ereignissen in einem bestimmten Zeitraum, z. B. im nächsten Jahr. Am Ende des Zeitraums wissen wir, ob ein Ergebnis eingetreten ist (1) oder nicht (0). Der Brier Score wird aktualisiert und liefert einen Wert zwischen 0 und 1. Der beste Wert ist 0, der schlechteste 1.

Anhand des Brier Scores lässt sich die Qualität der geschätzten Wahrscheinlichkeiten objektiv überprüfen und mit früheren Ergebnissen vergleichen. Die Schätzung der Auswirkungen von eingetretenen Ereignissen wird mit den tatsächlichen Kosten oder Einnahmen verglichen. Bei künftigen Bewertungen können wir dieses Wissen anwenden, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

Was für ein Zufall

Komplexität bedeutet auch, es reicht nicht, Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse und Auswirkungen unabhängig voneinander zu betrachten. Es ist schwierig, Kombinationen von Zufallsereignissen intuitiv zu erfassen. Statistische Methoden können helfen, erfordern aber spezielle Kenntnisse.

Eine Alternative dazu ist die Verwendung quantitativer Modelle, die z. B. mit Excel oder Jupyter Notebook erstellt werden. Eine Simulation mit zufällig generierten Werten für das Auftreten und die Auswirkungen von Ereignissen ermittelt die Wahrscheinlichkeit von Verlusten oder Gewinnen auf der Grundlage der Kombination aller Ereignisse und Zufallswerte. Diese Methode wird Monte-Carlo-Simulation genannt. Die Ergebnisse können als Verlust-Überschreitungskurve dargestellt werden und bilden die Grundlage für weitere Entscheidungen.

Solche Modelle helfen, das Phänomen des Zufalls besser zu verstehen.

Grenzen von Modellen

Modelle ermöglichen die analytische Betrachtung vieler miteinander verflochtener Risiken und Chancen. Doch jedes Modell hat seine Grenzen. So sind beispielsweise einige Risiken inakzeptabel, weil sie mit ethischen und moralischen Grundsätzen kollidieren. In diesen Fällen ist es hilfreich, ethische und moralische Verhaltensrichtlinien als Grundlage für eine fundierte Entscheidungsfindung heranzuziehen.

Fazit

Risiken und Chancen sind wie zwei Seiten einer Medaille. Eine sich schnell verändernde Welt und immer komplexere Märkte bieten neue Möglichkeiten für Unternehmen. Um diese Chancen zu nutzen, ist es notwendig, Risiken einzugehen. Unternehmen, die sich schnell auf neue Situationen einstellen, haben einen entscheidenden Vorteil. Gute Entscheidungen sind dafür unerlässlich.

Agiles Risikomanagement bietet einen Rahmen für einen modernen, inklusiven Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, Informationen, unbewusstem Wissen und Erfahrungen, um Einschätzungen, Bewertungen und Entscheidungen kontinuierlich zu verbessern. Agiles Risikomanagement stellt die Menschen in den Mittelpunkt unternehmerischen Handelns. Der Prozess wird individuell gestaltet und ständig an neue Gegebenheiten angepasst.

Wer keine Antwort auf die Frage findet, welchen Nutzen das derzeitige Risikomanagementsystem im Unternehmen hat, sollte jetzt aktiv werden. Denjenigen, die Risikomanagement jetzt noch für unnötig halten, kann man nur viel Glück wünschen.

Autor

Maik Wojcieszak

Maik Wojcieszak gründete getNext IT, ein praxisorientiertes Beratungsunternehmen. Mit getNext IT hilft er Menschen, Teams und Unternehmen, in unserer komplexen und sich schnell verändernden Geschäftswelt zu wachsen.
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