Mikrotraumata und strukturelle Gewalt: Bedeutung und Aufarbeitung
Unternehmensveränderungen sind oft notwendig, um wettbewerbsfähig zu bleiben, sich den Anforderungen des Marktes, der Dynamik der Digitalisierung anzupassen oder diese zu nutzen. Doch Veränderungen und damit einhergehende Transformationen dürfen sich nicht allein auf strukturelle oder organisatorische Anpassungen beschränken.
Gerade die Auseinandersetzung mit vergangenen, negativen Erfahrungen der Mitarbeitenden spielt eine kritische Rolle. Dieser Artikel beleuchtet die Bedeutung der Aufarbeitung von Mikrotraumata und struktureller Gewalt in Unternehmenstransformationen. Wie kann diese ein Scheitern verhindern und zu positiven Veränderungen beitragen?
Bedeutung der Aufarbeitung
Mikrotraumata sind kleine, oft unbemerkte, aber belastende Ereignisse, die sich über die Zeit ansammeln, aufstauen und die individuelle Haltung und psychische Gesundheit negativ beeinflussen können. Strukturelle Gewalt beschreibt wiederkehrende Verhaltensmuster von ungerechter, übergriffiger, aggressiver Behandlung bis hin zu Missbrauch in der Arbeitsumgebung. Emotionale Schäden unter den Mitarbeitenden prägen das kollektive Gedächtnis und die individuelle Haltung der Belegschaft dem Unternehmen gegenüber.
Ignorierte Beschädigungen aus der Vergangenheit und ungelöste strukturelle Gewalt können das Vertrauen der Mitarbeitenden in das Unternehmen nachhaltig beschädigen und sogar erschüttern, Misstrauen manifestieren und damit die Umsetzung von Veränderungen durch eine negative Sozialisierung erschweren oder verhindern.
Auswirkungen von Mikrotraumata und struktureller Gewalt
Mikrotraumata können zu anhaltendem Stress, Angstzuständen und Burn-out führen. Dabei sind die Ursachen der meist psychosomatischen Symptome oft schwer nachvollziehbar. Mikrotraumata sind unzählige kleine Nadelstiche, die sich beispielsweise Führungskräfte und Mitarbeitende in Organisationen gegenseitig zufügen. Jeder einzelne Stich mag bedeutungslos sein. Die Summe aller Stiche, Sticheleien, Beleidigungen, Demütigungen, Erniedrigungen oder Bloßstellungen führt irgendwann zum plötzlich überlaufenden Fass. Wie es zum Überlaufen kam, ist dann nicht mehr nachvollziehbar.
Strukturelle Gewalt kann eine emotional belastende oder sogar toxische Arbeitskultur schaffen, die eine konstruktive Zusammenarbeit be- oder sogar verhindert und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden beeinträchtigt. Wenn beispielsweise ungleiche Bezahlungen, der Missbrauch von Machtpositionen, intransparente Beförderungs- und Aufstiegschancen oder bewusste Arbeitsüberlastung und Arbeitsverdichtung gängige Praxis in einem Unternehmen sind, wie sollen Mitarbeitende von einem glaubwürdigen Veränderungswillen ausgehen und sich dem anschließen?
Dadurch verursachte negative Auswirkungen können zur Lähmung der Fähigkeit eines Unternehmens führen, Veränderungen erfolgreich umzusetzen. Veränderungsprozesse können ohne ein vertrauensvolles und Fehlern gegenüber konstruktives Kooperationsverhältnis nur eingeschränkt durchgeführt werden.
Entscheidende in Unternehmen übersehen oder ignorieren diesen Umstand überraschend oft. Sie stellen regelmäßig fest, dass sich die von einer Reorganisation oder Transformation erhofften Effekte der Effizienz-, Qualitäts-, Produktivitätssteuerung oder Veränderungsfähigkeit (auch Agilität genannt) nicht einstellen wollen.
Das bloße Organigramm, die Zuordnung der Mitarbeitenden zu Abteilungen, Bereichen oder Wertströmen, Tribes, Squads oder Communitys mögen neu, die eingesetzten Methoden innovativ und kreativ sein, aber die bisherigen Konflikte, Demütigungen, Verunsicherungen und Verletzungen wirken davon unbeeindruckt und unvermindert weiter.
Eine Reorganisation oder Transformation kann im schlechtesten Fall sogar Schäden hinzufügen, wenn beispielsweise Stellen neu besetzt werden und Mitarbeitende dadurch eine Herabstufung oder mangelnde Würdigung ihrer Leistung erfahren oder wahrnehmen.
Vorgehensweise zur Aufarbeitung
Eine Aufarbeitung erfordert Sensibilität und Engagement seitens der Unternehmensleitung. Offene Kommunikation, Zuhören, professionelle Unterstützung durch Psychologen und qualifizierte und erfahrene Beratungskräfte sowie individuelle Gespräche sind entscheidende Schritte. Schulungen und Workshops können das Bewusstsein schärfen und den Mitarbeitenden Werkzeuge zur emotionalen Verarbeitung des Erlebten an die Hand geben.
Folgende Zusammenstellung von Aspekten ist als Anregung hilfreich, wenn eine konsequente und umfassende Aufarbeitung als notwendig anerkannt ist.
- Workshops und Seminare, die von geschulten Moderatoren oder Mediatoren durchgeführt werden, bieten eine Plattform, um Mitarbeitende über psychische Gesundheit, psychologische Sicherheit und Konflikt- und Stressmanagement zu informieren. Diese Formate können Diskussionen, Fallstudien und praktische Übungen beinhalten.
- Gruppengespräche in Kleingruppen bieten Mitarbeitenden die Möglichkeit, in einem vertrauten, vertraulichen (Las-Vegas-Regel) und unterstützenden Umfeld über ihre Erfahrungen und Bedenken zu sprechen. Diese Gespräche sollten von Fachleuten moderiert werden.
- Webinare und Online-Schulungen ermöglichen es Mitarbeitenden, Informationen und Anregungen in ihrem eigenen Tempo zu verarbeiten. Diese Formate sind besonders nützlich, wenn Mitarbeitende an verschiedenen Standorten tätig sind.
- Storytelling und Erfahrungsberichte ermöglichen es, Geschichten von Menschen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht und erfolgreich bewältigt haben. Das kann inspirierend und ermutigend wirken. Diese Geschichten können in Form von Vorträgen oder Videoclips präsentiert werden. Als Homo narrans ist die Wirkung von Geschichten soziologisch und psychologisch nicht zu unterschätzen und wertvoll, auch wenn der Aspekt auf den ersten Blick im Organisationskontext ungewohnt erscheint [1].
- Rollenspiele und Simulationen können Mitarbeitenden dabei helfen, praktische Situationen zu simulieren und Techniken zur Bewältigung von Stress und Mikrotraumata zu erproben. Diese Aktivitäten fördern das aktive Lernen und die Anwendung neuer Fähigkeiten.
- Reflexion und Perspektivwechsel der Führungskräfte müssen in Unternehmen, in denen die Entscheidungshoheit und damit die Machtkonzentration in der Führungshierarchie angesiedelt sind, konsequent und langfristig erfolgen. Das Selbstverständnis der Führungskraft hin zur Orientierungskraft, die Entscheidungskompetenz auf die Mitarbeitenden überträgt, ist eine probate Entwicklungsrichtung.
- Peer-Unterstützungsgruppen ermöglichen es Mitarbeitenden, sich gegenseitig zu unterstützen und Erfahrungen auszutauschen. Diese Gruppen können regelmäßige Treffen oder virtuelle Plattformen für den Austausch bieten.
- Experten-Vorträge über Dysstress am Arbeitsplatz, psychische Gesundheit und verwandte Themen, können den Mitarbeitenden wertvolle Einblicke, Impulse und Informationen bieten.
- Schriftliche Ressourcen wie Broschüren, Handbücher und Leitfäden können Mitarbeitende bei der Bewältigung von Traumata und der Förderung der psychischen Gesundheit im Selbststudium unterstützen.
- Ein Spaziergang des Verzeihens kann durchgeführt werden, sobald ein grundsätzliches Fundament über die vorhergehenden Heuristiken aufgebaut ist. Im Rahmen eines Spaziergangs können durch den Akt des gegenseitigen Verzeihens der Verarbeitungsprozess gefestigt und der Weg zu einem vertrauensvollen und konstruktiven Miteinander geebnet werden.
Stärkung der Mitarbeitenden
Erst die Aufarbeitung von Mikrotraumata und das Auflösen von Verhaltensmustern, die strukturelle Gewalt verursachen, geben Mitarbeitenden eine Stimme und ermächtigen sie, aktiv an Veränderungsprozessen teilzunehmen oder sich sogar dafür zu engagieren. Dies führt zu einer Form des Empowerments, die eine gesteigerte Motivation und Identifikation mit dem Unternehmen fördern kann, was wiederum eine positivere Einstellung gegenüber Veränderungen ermöglicht.
Vermeidung negativer Konsequenzen, auch ohne Transformationsabsichten
Ohne die vorgenannte Aufarbeitung müssen Veränderungsprozesse wie eine Reorganisation oder Transformation damit rechnen, auf Widerstand und geringe Beteiligung der Mitarbeitenden zu stoßen. Aber nicht nur Veränderungsprozesse sind in negativer Form von einem derartigen Verhalten betroffen.
Eine unverarbeitete Vergangenheit kann insgesamt
- zu hoher Fluktuation,
- einer angespannten oder gar aggressiven Unternehmenskultur,
- Vertrauensverlust gegenüber Kolleg:innen und Vorgesetzten,
- eingeschränkter Innovationsfähigkeit,
- schwacher Teamdynamik,
- geringer Bereitschaft zur Selbstorganisation und
- geringer Offenheit und Akzeptanz gegenüber dem Unternehmen an sich führen.
Um diese negativen Effekte zu vermeiden, ist eine bewusste Auseinandersetzung mit negativen und emotional verletzenden Erfahrungen generell ratsam.
Der vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) veröffentlichte Fehlzeiten-Report 2023 zeigt, dass die beruflichen Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen von 2012 bis 2022 um 48% zugenommen haben.
Beispiel IT-Teams
Das hier behandelte Phänomen und die beschriebene Herangehensweise in Transformationsprozessen eines Unternehmens sind von genereller Bedeutung. Die Identifikation und Klärung emotionaler Verletzungen sind natürlich auch außerhalb eines Veränderungsvorhabens im operativen Geschehen ausgesprochen relevant. Das soll am Beispiel zweier IT-Teams expliziter dargestellt werden.
Die Klärung emotionaler Verletzungen oder Microtraumata ist in IT-Teams, insbesondere in DevOps-Teams und Cybersecurity-Teams, von entscheidender Bedeutung, um eine produktive Zusammenarbeit zu gewährleisten. DevOps- und Cybersecurity-Teams operieren in sehr spezifischen und dynamischen Umfeldern.
DevOps-Teams müssen sich schnell an veränderte Anforderungen und neue Technologien anpassen können. Ungeklärte Belastungsursachen in der Beziehung der Teammitglieder können diese Anpassungsfähigkeit behindern, da daraus resultierende Konflikte und Spannungen die Aufmerksamkeit von wichtigen Aufgaben ablenken und die Kommunikationsqualität belasten kann. Zusätzlich zeichnen sich DevOps-Teams oft durch kreative Lösungsansätze, eine hohe Problemlösekompetenz und Innovationsfähigkeit aus. Belastungen der Kooperationsbeziehungen könnten eben diese Charakteristiken negativ beeinflussen und die Fähigkeit des Teams, innovative Lösungen zu entwickeln, beeinträchtigen.
Aus der Perspektive von Cybersecurity-Teams ist der letzte Punkt, der sich auf Kreativität, Problemlösungskompetenz und Innovation bezieht, von besonderer Bedeutung. Cybersecurity-Experten stehen vor der permanenten Herausforderung, neue Bedrohungen und Angriffsmethoden erkennen und bekämpfen zu müssen. Das führt soweit, dass Cybersecurity-Teams im Falle einer Cyberattacke im Krisenmodus operieren und in Echtzeit komplexe Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen müssen, die einer hohen Veränderungsdynamik unterliegen und eine reibungslose Kommunikation erfordern.
Diese exemplarischen Szenarien sollen verdeutlichen, dass ein möglichst hoher Grad an interpersoneller Vertrautheit und gegenseitigem Vertrauen gegeben sein muss, um eine vorbehaltlose und krisenstabile Kooperation aller Mitglieder im Team zu gewährleisten. Je eingespielter ein Team operiert und je freier von Missverständnissen die osmotische Kommunikation der Expert:innen untereinander ist, umso produktiver und konstruktiver können z. B. Terminengpässe oder kritische "Echtzeitüberraschungen" gemeistert werden.
Führungskraft als Konfliktlöser
Dieser Artikel richtet sich vor allem an Führungskräfte und weniger an Mitarbeitende. Damit sollen Fachexpert:innen nicht ihrer Verantwortung enthoben werden, über direktes Feedback und das individuelle Verhalten zwischenmenschliche Konflikte und emotionale Verletzungen anzusprechen und untereinander zu klären.
Allerdings tragen Führungskräfte die Gesamtverantwortung für die reibungslose Kooperation in Teams oder Abteilungen. Dies schließt die Gewährleistung eines respektvollen und wertschätzenden Arbeitsumfelds ein. Indem sie sich aktiv mit emotionalen Konflikten auseinandersetzen, zeigen Führungskräfte ihre Verantwortung für das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit aller Teammitglieder.
Dazu kommt, dass Führungskräfte oft mehr Macht und Einfluss in einer Organisation besitzen, als Mitarbeitende. Ihre aktive Beteiligung an der Konfliktlösung kann dazu beitragen, emotionale Belastungen effektiver zu lösen und darüber Verletzungen auf der zwischenmenschlichen Ebene vorzubeugen oder diese zu erkennen und zu verarbeiten.
Das ist wesentlich, da Mitarbeitende sich möglicherweise nicht trauen, Konflikte untereinander anzugehen. Im Rahmen der agilen Transformation und agilen Kooperationsmodellen wird die Führungskraft meist als Coach der eigenen Mitarbeitenden verstanden, der die Qualität der Zusammenarbeit aller Teammitglieder beobachtet und eine reibungslose Kooperation unterstützt. Konfliktursachen zu identifizieren ist eine der wichtigsten Verantwortungen in diesem Selbstverständnis einer Führungskraft. Natürlich gilt dies auch für "klassische" Führungsmodelle.
In Unternehmen werden Mitarbeitenden vermehrt Angebote wie z. B. Yoga- und Meditationsseminare offeriert oder es werden Achtsamkeits-Apps für das Smartphone zur Verfügung gestellt. Letztere sollen dabei helfen, die sogenannte Work-Life-Balance zu pflegen. Vor dem Hintergrund einer immer weiter fortschreitenden Selbstoptimierungsindustrie ist diesem Trend mit Vorsicht oder sogar mit Skepsis zu begegnen. Derartige Angebote führen potentiell dazu, dass die Ursache für emotionale Belastungszustände auf die Mitarbeitenden verlagert wird. Damit wird die Symptomebene zur Quelle des Problems umgekehrt, was die Führungskräfte aus der vorgenannten Verantwortung entlässt. Eine nachhaltige und glaubwürdige Lösung kann das nicht darstellen.
Schlussfolgerung
Die Aufarbeitung von Mikrotraumata und struktureller Gewalt ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu erfolgreichen Unternehmensveränderungen. Unternehmen, die sich dieser Verantwortung stellen, schaffen eine unterstützende Arbeitsumgebung, die Vertrauen und Engagement fördert. Das legt den Grundstein für nachhaltige Transformationen, ganz gleich ob agiler oder klassischer Prägung, die von einer gestärkten und anschließend resilienteren Belegschaft getragen wird.