Corona: Agile Unternehmen meistern die Krise
Träumst du nicht auch von einem Team, einer Organisation, wo alle an einem Strang ziehen und alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten – und das hoch motiviert? Wo alle mit Expertise, Wissen und Erfahrung ihre Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten erfüllen und am Ende gemeinsam Berge versetzen? Träumt nicht jede:r davon? Warum machen es dann die wenigsten Teams und Organisationen? Die Antwort darauf ist einfach und doch herausfordernd: Die Komplexität nimmt permanent zu. Die gute Nachricht: Es gibt Lösungen dafür.
Was aber noch viel wichtiger ist: Teams und Unternehmen, die sich dieser veränderten Anforderungen nicht annehmen und weiterhin klassisch hierarchisch geführt werden, wird es in 20 Jahren nicht mehr geben.
Die Komplexität nimmt überall zu!
Denk bitte mal an deinen heutigen Alltag und vergleiche ihn mit dem Alltag von vor zehn Jahren. Wir haben heute eine exponentiell höhere Komplexität als damals. Beispiele dafür gibt es unendlich viele. Gern möchte ich ein paar nennen:
- Das Telefon hat 75 Jahre gebraucht, um 50 Millionen Nutzer:innen zu erreichen, Facebook beim Start noch dreieinhalb Jahre und das Spiel Angry Birds 35 Tage [1].
- 2014 wurden die ersten Wearables verkauft, im Jahr 2020 wurden bereits 444 Millionen Stück weltweit verkauft [2].
- Im Jahr 2020 wurden im Schnitt in 60 Sekunden 190 Millionen E-Mails versendet, 764.000 Stunden Netflix geschaut, 4,1 Millionen Suchanfragen bei Google abgeschickt und 4,7 Millionen Youtube-Videos angesehen [3].
Doch was hat das alles mit der Arbeitswelt und deinem Unternehmen zu tun? Beide haben sich grundlegend geändert. Vor zehn Jahren haben wir Medien wie E-Mails, Word und Excel genutzt, um unseren Büroalltag zu strukturieren. Heute haben wir ERP-Systeme in der Cloud, CRM-Systeme, Marketing Automation, digitale und vor allem geteilte Aufgabenlisten, Jour fixe, Wochenmeetings, Strategietage, Fokustage, interne und externe Kommunikationstools, digitale Whiteboards, Informationsmanagementsysteme wie WIKIs und Intranets, Reporting-Systeme, Cloud-Speicher, arbeiten im Homeoffice oder Mobile-Office und vieles mehr. Projekte wurden früher zum Teil über Jahrzehnte geplant – jetzt eher in Quartalen und Halbjahren. Die Digitalisierung hat unseren Arbeitsalltag und die Zusammenarbeit grundlegend verändert und beschleunigt. Die Haltbarkeit von Wissen und Informationen nimmt rapide ab und die Produktlebenszyklen verringern sich ebenfalls. Veränderung ist die neue Konstante. Ob das gut oder schlecht ist, möchte ich hier nicht ausführen, aber die Veränderung ist nicht aufzuhalten und wird weitergehen.
Aber nicht nur die eigene Arbeitswelt hat sich geändert, sondern auch die Märkte und Kundenanforderungen verändern sich rasant. Themen wie Digitalisierung, Globalisierung, Plattformökonomie, Individualisierung, Transparenz und Nachhaltigkeit prägen unseren Alltag.
Warum verändert sich unsere Gesellschaft?
Bevor wir uns weiter dem Status quo annehmen, müssen wir einen Blick auf die Vergangenheit werfen, um das "Big Picture" zu verstehen. Wir leben heute in einer digitalen Revolution – andere sagen dazu auch Industrie 4.0. Doch welche Veränderung steckt dahinter? Wir haben einen Wandel von der Industriegesellschaft, in der möglichst viele Mitarbeiter:innen gleiche oder ähnliche Aufgaben in der hohen Qualität abarbeiten müssen, hin zu einer Wissensgesellschaft, wo es darum geht, überhaupt die richtigen Ergebnisse zu produzieren. Wenn man es überspitzt sagen möchte, ist es der Wandel von Effizienz hin zu Effektivität. Effizienz kennzeichnet sich durch den höchstmöglichen Output bei möglichst wenig Investitionen. Effektivität kennzeichnet sich durch die höchstmögliche Wirkung.
Das sieht man am deutlichsten am Anteil des Dienstleistungssektors in Deutschland. 1950 waren nur 32,5 Prozent aller Beschäftigten in der Dienstleitung tätig. 2020 sind es bereits 74,7 Prozent [4].
Der Arbeitsmarkt hat sich bereits grundlegend verändert und wird sich weiter verändern. Klassisch hierarchisch geführte Teams und Unternehmen werden dies nicht überstehen.
Was hat das alles mit Corona zu tun?
Corona hat diese Entwicklung beschleunigt, wie so viele andere Bereiche unserer Gesellschaft. Zu Hochzeiten waren 67 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland im Homeoffice. Die klassische Führung mit "Ich gehe von Platz zu Platz und verteile Aufgaben" hat nicht mehr funktioniert. Unternehmen, die bereits als agile Organisation funktionieren, fiel der Umstieg auf Homeoffice viel leichter. Dazu die Herausforderungen mit KITA-Schließungen, veränderter Arbeitszeit, Quarantäne, Kurzarbeit sowie die generellen Bedenken und Ängste in der Gesellschaft. So viele Faktoren haben auch hier die Komplexität erhöht [5].
Was bedeutet Komplexität?
Doch was hat das alles mit Agilität zu tun? Um dies zu erklären, möchte ich mir die Stacey-Matrix als Hilfe nehmen. Du siehst hier, wie Anforderungen oder Herausforderung kategorisiert werden können. Dabei hast du links die Skala, wie bekannt die Anforderung ist, und unten, wie bekannt die Technologie beziehungsweise der Lösungsansatz ist. Je weiter links unten eine Herausforderung ist, desto einfacher ist die Aufgabe. Je unbekannter die Anforderung oder der Lösungsansatz ist, umso komplizierter wird die Aufgabe – bis hin zu komplex und am Ende zu chaotisch.
Ein Beispiel aus der Praxis: Vor zehn Jahren wurde eine Stellenanzeige noch ganz konkret mit den Anforderungen und der Berufserfahrung beschrieben und diese auf der eigenen Website und vielleicht beim Arbeitsamt veröffentlicht. Dann hat das Unternehmen zehn Bewerbungen bekommen und sich für den geeignetsten Kandidaten oder die geeignetste Kandidatin entschieden. Die Aufgabe war einfach. Heute ist es oftmals anders: Es ist nicht mehr ganz klar, welche Kompetenzen und Berufserfahrungen die Bewerber:innen mitbringen müssen, weil es vielmehr um Passion, Ehrgeiz, Soft Skills und die Mission des Unternehmens geht, als vielmehr um die Kompetenzen auf dem Papier (die Bekanntheit der Anforderungen sinkt). Dazu ist heute gar nicht mehr klar, wo schalte ich diese Anzeige? Jeder Berufszweig hat inzwischen seine eigenen Plattformen, sein eigenes Forum, seine eigenen Messen und seine eigenen Konferenzen (die Bekanntheit der Lösung sinkt). Diese Aufgabe kann einfach, kompliziert oder sogar auch komplex sein.
Was bedeutet "agil" und was können wir von den agilen Vorgehensweisen lernen?
Die Softwareentwicklung hatte diese Herausforderung schon vor vielen Jahren. Als Lösung komplexer Aufgaben ist das agile Mindset entstanden, was sehr treffend im "Agile Manifest" zusammengefasst wurde. Es gibt Grundlagen, Herangehensweisen und Methoden, um die Komplexität zu beherrschen und dabei bessere Ergebnisse zu erzielen.
Die Grundlage: 4 Werte des Agilen Manifests
Wie das Agile Manifest helfen kann, wird in den vier Werten deutlich. Darin ist festgehalten, dass
- individuelle Interaktion wichtiger ist, als Prozesse und Werkzeuge,
- funktionierende Software, also Ergebnisse, wichtiger sind als eine umfassende Dokumentation,
- es mehr um eine Zusammenarbeit mit dem Kunden geht als um endlose Vertragsverhandlungen und
- dass es wichtiger ist, auf Veränderungen zu reagieren, als einen Zehnjahresplan zu verfolgen.
Die rechte Seite ist dabei nicht unwichtig. Der linken Spalte sollte nur immer die höhere Priorität eingeräumt werden – im Sinne der Ergebnisse.
Die Umsetzung: Die 12 Prinzipien des Agilen Manifests
Eine Stufe tiefer umfasst das Agile Manifest zwölf Prinzipien. An dieser Stelle möchte ich auf ein paar wenige eingehen:
- "Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne" – Es geht darum, in abgeschlossenen Phasen (Iterationen) zu denken und zu handeln. Nur so kann kontinuierlich der Fortschritt gemessen werden.
- "Fachexperten und Entwickler müssen während des Projektes täglich zusammenarbeiten" sowie "Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist im Gespräch von Angesicht zu Angesicht." – Alle relevanten Stakeholder, Teammitglieder, Projektbeteiligten benötigen einen sehr intensiven Austausch, sodass immer alle den gleichen Informationsstand haben und bestmögliche Entscheidungen treffen können.
- "Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen." – Als Führungskraft oder Verantwortlicher agiere ich als Coach für das Team, als helfende Hand und guter Geist. Ich unterstütze andere Kolleg:innen, besser zu werden, um ihre Potenziale entfalten zu können. Dafür sind klare und gemeinsame Visionen/Missionen/Ziele wichtig, damit eine deutliche Richtung und Orientierung erkennbar ist und somit alle Entscheidungen jedes Einzelnen darauf einzahlen.
- "Einfachheit – die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren – ist essenziell." – Versuche große, komplexe Herausforderungen in viele kleine aufzuteilen und konzentriere dich auf die wichtigsten. Reduziere Komplexität in deinen Lösungen und versuche einfache Wege zu gehen. Die Umsetzungszeit und gegebenenfalls das Budget helfen dir dabei, dich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ein nutzbares Zwischenergebnis muss nach einer Iteration fertig sein.
- "In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an." Reflexion, also die gemeinsame Lobpreisung von tollen Ergebnissen, Bestärkung von positiven Aspekten sowie die intensive Beleuchtung von Problemen, macht ein Team, Abteilung oder eine ganze Organisation mit jeder Iteration wirksamer.
Der Unterschied zwischen agiler Umsetzung und agiler Einstellung
Jetzt stellt sich doch ein bisschen die Frage: Was nehme ich mir eigentlich aus den agilen Werten und aus den agilen Prinzipien für mich mit? Wo sind Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede? Was ist mit Scrum, Kanban, User Stories, Sprints und Plannings? Einen Hinweis darauf liefert uns der agile Baum. Viele fangen mit agilen Praktiken wie Sprints, Kanban-Board und vielem mehr an. Das ist auch gut. Die Komplexität wirst du aber nur beherrschen, wenn du mittelfristig eine agile Einstellung annimmst.
Eine agile Einstellung ist also viel wichtiger als agiles Handeln, also das strikte Befolgen einer Methode.
Nur wie und wo starten?
Die größte Herausforderung und Hürde sind aus meiner persönlichen Sicht die klassisch hierarchischen Führungskräfte. Der Mensch hinter seiner Rolle. Denn viele von ihnen haben den Glaubenssatz, sie können oder sollten alles besser machen als ihr Team. Es gibt schon immer Führungskräfte, die auf Augenhöhe mit ihrem Team agieren und dessen Stärken und Schwächen kennen. Dabei setzen sie klare Ziele und tun alles für ihr Team, um ihm zu helfen. Es gab schon immer die "guten Chefs", die wir alle in Erinnerung haben. Es muss also mit der persönlichen Entscheidung und Haltung jeder Führungskraft anfangen.
Noch ein Gedanke zu dem Glaubenssatz "Agilität bedeutet keine Regeln". Das ist aus meiner Sicht völlig haltlos. Eine agile Organisation bedeutet für mich, dass innerhalb klar und gemeinsam definierter Regeln kreative Freiräume erlaubt und erwünscht sind. Entscheidungen sollten immer da getroffen werden, wo die größtmögliche Fachkompetenz vorhanden ist. Das unterscheidet innovative und schnell wachsende Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon, Apple und auch viele Start-ups von anderen starren und hierarchischen Unternehmen.
- Der Tag hat 24 Stunden. Nutze den Tag besser durch digitales Fasten
- Statista: Absatz von Wearables weltweit in den Jahren 2014 bis 2020
- t3n: Das passiert in einer Minute im Internet
- Statistisches Bundesamt: Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren
- J.-V. Alipour, O. Falck & S. Schüller: Homeoffice während der Pandemie und die Implikationen für eine Zeit nach der Krise