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Andreas Slogar 29. Juni 2021

Der agile Denkfehler

Die Dogmen von Wachstum und Effizienz stellen die größten Bedrohungen für Unternehmen dar und verhindern die Entwicklung agiler Organisationen zur Nutzung Schwarzer Schwäne.

Messlatte

Woran glauben Vorstände und Unternehmer gemessen zu werden? Wie stellen sie ihren unternehmerischen und persönlichen Erfolg fest? Einfach und schlicht: an Kennzahlen wie Unternehmenswachstum, -profitabilität und -effizienz. Je größer der Marktanteil, je zweistelliger die Margen, je gesünder die Cost Income Ratio, desto erfolgreicher das Unternehmen, desto wirksamer und erfolgreicher der Unternehmer. In den letzten Jahren wurden Aspekte wie ein nachhaltiger Umgang mit Umweltressourcen, soziale Verantwortung, Gleichberechtigung und Integrität ergänzt und immer stärker betont. Dennoch wird der Begriff "Erfolg" unverändert an den drei genannten "Klassikern" festgemacht.

Nach wie vor bleibt der Aktienkurs eines Unternehmens stabil, wenn die Unternehmenspolitik unzureichend nachhaltig ist oder das Gehaltsgefüge Frauen benachteiligt. Bricht jedoch der Umsatz ein, ist die Profitabilität bedroht, dann werden die Märkte und Anteilseigner schlagartig nervös.

Trend

Da verwundert der Trend in der Softwareentwicklung der vergangenen 15 Jahre nicht: hin zur agilen Kooperation und iterativen Vorgehensweise. Die Effekte aus inkrementeller Herstellung von IT-Lösungen, die kontinuierlich Anpassungen und veränderte Anordnungen aufnehmen und verarbeiten und darüber Produktivität und Lieferfähigkeit steigern konnten, sind mittlerweile etabliert und gängige Praxis. Wer heute Software noch sequenziell entwickelt, gilt als Sonderling. Agile Kooperation ist aus der IT nicht mehr wegzudenken.

Außerdem hat sich ein ganzer Industriezweig um dieses Themengebiet entwickelt. Da werden Methoden erfunden und sogenannte Frameworks geschaffen. Beratungsunternehmen haben sich in rasender Geschwindigkeit herausgebildet und Zertifizierungsangebote neue Qualifikationsmesslatten für Mitarbeiter kreiert. Wer sich in der IT oder als Berater nicht Scrum Master oder Agiler Coach nennen kann, kommt in Erklärungsnot.

Träume

Und Sie ahnen es schon – es kam, wie es kommen musste: Kann man auch ganze Unternehmen in einen derart produktiven Zustand versetzen, wie es in der Softwareentwicklung möglich war? Kann man ganze Unternehmen "scrumifizieren"? Bei Spotify hat das doch auch funktioniert! Was passiert, wenn wir uns einfach die gleiche Organisationsstruktur geben wie Spotify? Mit Squads und Tribes, Gilden einführen und so weiter? Mit agilen Methoden arbeiten? Dann funktioniert das sicher überall. Und siehe da: Eine Flut an Firmen hat in den letzten Jahren weltweit und mit unbeschreiblichem Eifer Schlagworte wie New Work, agile Teams oder Servant Leadership aufgeschnappt und eingeführt. Die einen erst zaghaft, als Graswurzelbewegung eigeninitiativer Mitarbeiter, die anderen haben als Big Bang zum Stichtag gleich einen ganzen Konzern agilisiert. Auf Kongressen im In- und Ausland, in Selbsterfahrungsvideos auf YouTube und in Podcasts kann man die Erfolge und Erkenntnisse der Pioniere agiler Organisationen bewundern. Doch irgendetwas fehlt. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen.

Denkfehler

Sieht man etwas genauer hin, stellt man fest, dass möglicherweise Äpfel und Birnen miteinander vergleichen oder gar verwechselt wurden. Um diese Verwechslung aufzuklären, müssen wir kurz noch einen kleinen Schritt zurück zur Softwareentwicklung gehen. In dieser Zunft hat sich das Konzept inkrementeller Vorgehensweisen aus einem ganz einfachen, aber triftigen Grund entwickelt: Die Entwicklung von Software war in den Zeiten von Wasserfall und sequenziell-strukturierten Arbeitsweisen ein teures, unabsehbar riskantes und in 90 Prozent aller Vorhaben frustrierendes Glücksspiel.

Software entpuppte sich als hochgradig komplexes Themengebiet, das mit den traditionellen Denkmodellen der Ingenieure nicht beherrscht werden konnte. Die vergleichsweise junge Informatik weist viele Gemeinsamkeiten mit der Mathematik oder der Physik auf. Trotzdem sind ihr Kontext und ihre Dynamik nicht mit der eines Maschinen- oder Anlagenbauers gleichzusetzen. Agiles und iterativ-inkrementelles Vorgehen ist also das Resultat eines Reifeprozesses: Dieser hat es der Informatik erlaubt, der Phase der Pubertät, des sich Ausprobierens und Austobens, zu entwachsen.

Soweit der Blick auf die Äpfel. Nun zu den Birnen: Was die betriebswirtschaftlich sozialisierten Unternehmenslenker aus der Adoleszenz der IT abgeleitet haben, war Folgendes: Agiles Arbeiten senkt die Kosten für Softwareentwicklung, reduziert das Risiko von Fehlinvestitionen in der IT und produziert kontinuierlich messbare und verwertbare Arbeitsergebnisse.

Bingo! Jackpot! Mit agiler Arbeitsweise können ganz offensichtlich Effizienz und Effektivität von Organisationen gesteigert werden! Das machen wir jetzt im ganzen Unternehmen!

Wir nähern uns allmählich dem Denkfehler. Ursache ist das ursprüngliche Dilemma der Informatik – Wirkung sind die Effekte agiler Kooperation – zumindest aus Sicht der Betriebswirte. Dabei steht beides in keinem kausalen Zusammenhang. Beispielsweise war das zentrale Anliegen der Scrum-Erfinder, die Kluft zwischen Business und IT zu verringern, um überhaupt brauchbare Softwarelösungen herstellen zu können. Betriebswirtschaftlich motivierter Zweckrationalismus spielte nicht die erste Geige.

Effekt

Verfolgt man die nach und nach sichtbaren Ergebnisse und Erkenntnisse von Unternehmen, die den Entschluss gefasst haben, eine agile Transformation durchzuführen, kann man bereits zwei grundlegende Beobachtungen machen. Unter den Mitarbeitern, die selbstorganisierte Zusammenarbeit praktizieren, steigen individuelle und kollektive Zufriedenheitswerte: Agile Rituale, wie sie auch genannt werden, Arbeitsweisen regelmäßig in Retrospektiven reflektieren, sich gegenseitig Feedback-Geschenke geben und eine Arbeitskultur gegenseitigen Respekts – das alles trägt dazu bei. Der Prozentsatz der innerlich gekündigten Angestellten sinkt, der Krankenstand auch. Alles in allem scheint es so, als steige der Spaß an der Arbeit kontinuierlich an. Selbstwertgefühl durch Selbstwirksamkeit ist offensichtlich ein Faktor mit positiver Wirkung auf die Kooperationskultur in Unternehmen.

Bestehende Leistungsanalysen sind nicht in der Lage, Nutzen und Auswirkungen von Agilität zu bewerten.

Aber wie steht es um die ökonomische Seite dieser Entwicklung? Zahlt sich die Investition der Unternehmer hinsichtlich Produktivität, Profitabilität oder Effizienz auf die gesamte Organisation betrachtet aus? Schwappt die Beobachtung aus der IT auf das gesamte Unternehmen über? Macht der Vertrieb mehr Umsatz und gewinnt neue Kunden, wenn er seine Teamarbeit mit Kanban organisiert? Bucht die Buchhaltung günstiger, wenn sie wöchentlich an ihrem Backlog arbeitet? Hat die Controllerin eine bessere Transparenz über Kosten und Investitionen, wenn sie sich im Daily Stand-up mit ihren Kolleg:innen austauscht?

Einfach ausgedrückt: Die Unternehmen wissen nicht wie, weil ihre bestehenden Leistungsanalysen nicht in der Lage sind, den Nutzen und die Auswirkungen von Agilität zu messen und zu bewerten.

Blinder Fleck

Wir sind an dem Punkt angelangt, den wir als blinden Fleck, als Missverständnis oder als Irrglauben bezeichnen können. Der beschriebene Denkfehler oder die Denkfalle ist ebenso offensichtlich wie fatal: Agile Kooperation hat nie das Ziel verfolgt, zweckrational-ökonomische Effekte zu heben, zu erreichen oder zu steigern.

Es geht bei agiler Kooperation darum, mit Überraschungen hoher Frequenz umgehen zu können.

Agile Kooperation hatte immer zum Ziel, Agilität als Fähigkeit in Organisationen zu etablieren. Und dabei wird Agilität wie folgt definiert: die Fähigkeit, sich auf unvorhersehbare Veränderungen einer dynamischen, also komplexen Umwelt einzustellen und dieser zu entsprechen. Es geht bei agiler Kooperation schlicht und ergreifend darum, mit Überraschungen hoher Frequenz umgehen zu können. Oder seinerseits die eigene Umwelt mit innovativen Ideen, Produkten oder Dienstleistungen zu überraschen.

Konsequenz

Die tayloristisch-betriebswirtschaftlich fokussierten Anforderungen und Erwartungen von Unternehmern und Vorständen werden nun nach und nach enttäuscht werden müssen. Es stellt sich nämlich heraus, dass die auf agiles Arbeiten projizierten Hoffnungen auf noch mehr Profitabilität, Produktivität und Wachstum deplatziert waren.

Das wäre sicherlich zu verschmerzen, wenn hieraus nicht gleichzeitig ein grundsätzliches Problem resultieren würde: Eben diese Entscheider und Unternehmenslenker verspielen eine Entwicklungschance aufgrund mangelhafter Kenntnisse. Langfristig stigmatisieren sie sie sogar.

Überlebenswichtig sind in der uns bereits heute umgebenden Dynamik einer globalen Wirtschaft und Gesellschaft weder eine stetig steigende Profitabilität noch ein immer weiterwachsender Marktanteil. Wir befinden uns längst in der Ära des Postwachstums, da alle Ressourcen anerkanntermaßen endlich sind.

Ob ein Unternehmen zukünftig in seinem Markt besteht oder das Schicksal von Nokia, Motorola oder Kodak teilt, entscheidet vor allem die Fähigkeit zu Anpassung und Veränderung. Sie bildet den Kern agiler Kooperation.

Das Phänomen der Schwarzen Schwäne, wie Nassim Taleb sie in seinen Ausführungen zur Antifragilität nennt, und damit die Auswirkungen exponentieller Veränderungen sind die zentralen Einflussfaktoren, mit denen sich vor allem international tätige Unternehmen befassen müssen [1]. Man kann die Möglichkeiten agiler Arbeits- und Organisationsformen weiterhin wie Äpfel mit Birnen als ähnliches Kernobst verwechseln. Aber dann hat man die disruptive Wirkung digitaler Geschäfts- und Expansionsmodelle wie die von Google, Apple, Amazon und Co. immer noch nicht verstanden. Und hat auch nicht erkannt, wie fragil unser globales Wirtschaftsgefüge ist, wenn schon ein einziger, im Suez-Kanal querstehender Frachter das internationale Getriebe aus den Angeln heben kann.

Quelle

Autor

Andreas Slogar

Andreas Slogar war in 24 Ländern, den USA, Europa, dem Mittleren Osten und Afrika tätig und hat u. a. als CIO umfassende Erfahrung in strategischer und operativer Managementarbeit aufgebaut.
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