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Maret Karaca 22. März 2022

How-to: Agil mal so richtig gegen die Wand fahren!

How-to: Agil mal so richtig vor die Wand fahren!: Das war der Titel meiner Session bei den Agile-Tagen im Januar 2022. Bei dem Titel denkt man sicherlich, dass ich in einem Vortrag Rezepte zum Besten gegeben habe, wie Agiles Arbeiten und Agile Projekte auf jeden Fall scheitern. Doch genau das habe ich eben nicht gemacht, denn als Liberating-Structures-Advokatin weiß ich: Die Gruppe trägt die Lösung in sich!

Doch der Reihe nach: Ich wurde für einen Vortrag angefragt und dachte: "Warum nicht eine interaktive Session machen, in der die Teilnehmer:innen nicht nur passiv zuhören, sondern in der sie etwas für sich mitnehmen können?". Natürlich sollten auch Liberating Structures zum Einsatz kommen. Passend zum Motto "Agil Scheitern" kam mir sofort ein TRIZ in den Sinn und damit auch der Titel der Session. Jetzt fragen sich wahrscheinlich viele: Was sind Liberating Structures? Und was ist TRIZ?

Liberating Structures (LS) sind eine kleine, aber feine Sammlung von Mikrostrukturen, um unsere Interaktionen so zu gestalten, dass alle sich einbringen können und die Weisheit der Gruppe voll zur Geltung kommt. Kuratiert und zusammengestellt wurden diese Mikrostrukturen von Keith McCandless und Henri Lipmanowicz [1]. Inzwischen gibt es eine große internationale Community, und viele Menschen nutzen LS auch im Arbeitsumfeld, um die Art, wie sie zusammenarbeiten und kommunizieren, positiv zu beeinflussen. TRIZ, eine dieser Mikrostrukturen, beruht auf dem russischen Ansatz "теория решения изобретательских задач (teoriya resheniya izobretatelskikh zadatch)" – Theorie der erfinderischen Problemlösung. In der LS-Version geht es darum, Probleme sichtbar zu machen, indem man sich ihnen auf eine lockere Art und Weise nähert, um sie anschließend mithilfe von kreativer Zerstörung anzugehen.

Genau das wollte ich den Teilnehmer:innen auch in meiner Session ermöglichen. In kleinen Gruppen mit jeweils 3-4 Personen arbeiteten sie sich in drei Runden durch das TRIZ. Den Auftakt machte die erste Runde mit der Aufforderung: "Macht eine Liste mit allen Dingen, die ihr tun könnt, um Agil (= Agiles Arbeiten, agile Projekte, agile Transformationen etc.) mal so richtig vor die Wand zu fahren!". Hier sollten die Teilnehmer:innen in nur einer Minute alles sammeln, was ihnen in den Kopf kam und sich dann anschließend in ihrer Gruppe darüber austauschen. Das fiel ihnen überhaupt nicht schwer, und auf dem Board erschienen schnell eine Menge Post-its. Die Zettel sprachen eine deutliche Sprache. Viele drehten sich darum, dass Agil nur als Kosmetik genutzt wird, und im Grunde genauso weitergearbeitet wird wie vorher, nur unter agilem Deckmantel: Es werden unzählige agile Tools angeschafft, aber am Ende diktiert immer noch die Führungskraft, wo es langgeht. Die notierten Punkte zeigten, dass sich nicht mit den Grundlagen agilen Arbeitens auseinandergesetzt wurde: Da ist eine ehemalige Projektleitung nun Product Owner und Scrum Master in einem, oder die Schätzungen erfolgen anhand von Personentagen anstatt Komplexität. Auch die klassischen Mythen konnten die Teilnehmer:innen aus eigener Erfahrung treffend formulieren: "Scrum hilft uns bestimmt, Kosten zu sparen!", oder "Agil = Einfach mal machen!", alias "Ohne Konzept und Plan arbeiten". Der Einstieg mit dem schlimmsten Szenario baut schnell Hemmungen ab, indem man sich mit einem Augenzwinkern traut, auch negative Punkte anzusprechen.

Weiter ging es in der zweiten Runde mit der Fragestellung: "Was davon mache ich/machen wir aktuell eigentlich selbst?". Hier geht es darum, schonungslos ehrlich zu sein und sich vor allem selbst an die eigene Nase zu fassen. Es ist leicht, andere für Missstände verantwortlich zu machen, und schnell verfallen wir dann in das typische "Man müsste mal...", "Man könnte mal...". Um das zu vermeiden, steht im TRIZ eben die Frage im Vordergrund, was davon man selbst macht. Nur dann können wir das Thema nämlich auch nachhaltig angehen, daraus lernen und vor allem: Verantwortung übernehmen. Also genau das, was auch das Ziel meiner Session war, nämlich dass die Teilnehmer:innen mit konkreten Ideen, was sie selbst tun können, aus der Session gehen können. Dafür war die Reflektion in der zweiten Runde die Voraussetzung. Die Teilnehmer:innen waren durch die erste Runde sogar so inspiriert, dass sie neue Post-its hinzufügten: So gaben sie zu, das Backlog als "Merkerliste" zu missbrauchen und sich nicht genug Zeit für die Vor- und Nachbereitung der agilen Rituale zu nehmen.

Wenn alles wichtig ist, ist nichts mehr wichtig.

In der dritten Runde ging es schließlich in Richtung "Lösung", und zwar mit der Frage "Was ist die eine Sache, mit der ich aufhören möchte?". Hier stand die Liberating Structure "15% Solutions" Pate, in der es darum geht, einen ersten kleinen Schritt zu formulieren, quasi seine "15 %", mit denen man jetzt und hier starten möchte und kann. Die Verbindung zum TRIZ: Es ist leicht, immer neue Maßnahmen zu formulieren und zu starten, und oft steht am Ende einer Retro ein ordentlich gefüllter Maßnahmenkatalog, von dem letztendlich dann gar nichts umgesetzt wird, weil es einfach zu viele Maßnahmen waren und alle den Überblick verloren haben. Wenn alles wichtig ist, ist nichts mehr wichtig. Deshalb: Lieber priorisieren und in kleinen Schritten starten. Und was ist noch einfacher, als etwas zu starten? Richtig: Etwas, was man schon tut, einfach weglassen! Zugegeben, das klingt einfach und wäre es auch, wenn wir nicht immer den Drang hätten, ein Meeting bzw. eine Retro mit immer neuen Maßnahmen zu beschließen. Aber hier gilt tatsächlich: Weniger ist mehr. Probiert es einfach mal aus und schaut, welche eine Sache ihr weglassen könnt anstatt etwas Neues zu starten.

Die Teilnehmer:innen haben durch den Austausch einerseits gesehen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind und bekamen durch die Perspektiven der anderen auch gleichzeitig neuen Input. Damit konnten sie für sich konkrete Ideen mitnehmen, die sie direkt umsetzen konnten. Und genau deshalb war es mir ein Anliegen, die Session interaktiv zu gestalten: Der Austausch kann stärkend sein und motivieren, die Probleme anzugehen. So nahmen sich die Teilnehmer:innen zum Beispiel vor, damit aufzuhören, die Schätzungen anhand von Personentagen vorzunehmen, oder sich nicht genug Zeit für die Vor- und Nachbereitung der Rituale zu nehmen.

Es ist nicht nur ein Framework, sondern eine Haltung.

Wieder einmal zeigte die Session, wie hilfreich Liberating Structures sein können, um gemeinsam Probleme anzugehen und konkrete Lösungen zu finden. Doch genau wie beim agilen Arbeiten ist auch hier wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen: Es ist nicht nur ein Framework oder eine Methode, sondern auch eine Haltung und muss mit Leben gefüllt werden, indem man sie immer wieder übt und sich selbst immer wieder reflektiert. Wer mehr zu LS erfahren möchte, kann sich online auf der deutschen und englischen LS-Website [2] informieren. Und wer noch tiefer in das Thema einsteigen möchte, kann sich Literatur zu Gemüte führen: Es gibt das Buch von Keith McCandless und Henri Lipmanowicz in englischer Sprache sowie das 2021 erschienene deutschsprachige Buch von Daniel Steinhöfer [3]. Zudem gibt es einen einführenden Artikel hier bei Informatik Aktuell von Patrick Möbius [4](Anm. d. Red.).

Bei LS gilt allerdings: Lesen und Informieren sind gut für einen Überblick und Einstieg, aber am besten ist es, LS zu erleben und selbst auszuprobieren. Hierfür gibt es viele Möglichkeiten und Angebote. Einen ersten Einstieg bieten die Usergroups, die es in vielen deutschen Städten gibt [5]. Und wer mehr möchte, kann intensivere Erfahrungen in Workshops und Programmen sammeln, die man bei vielen Anbietern in ganz Deutschland und international buchen kann.

Und vielleicht konnte dieser Artikel euch dazu inspirieren, selbst einmal ein TRIZ oder eine der anderen Liberating Structures durchzuführen. Egal, wie ihr euch dem Thema nähert: Viel Spaß und Freude beim Ausprobieren!

Quellen
  1. H. Lipmanowicz, K. McCandless, 2014: The Surprising Power of Liberating Structures: Simple Rules to Unleash A Culture of Innovation
  2. Holisticon: Liberating Structures – Innovation durch echte Zusammenarbeit
    Englischssprachige Liberating Structures-Website von K. McCandless & H. Lipmanowicz
  3. D. Steinhöfer, 2021: Liberating Structures
  4. Informatik Aktuell – P. Möbius: Agile Transformation mit Liberating Structures leicht gemacht
  5. Deutsche Usergroups

Autorin

Maret Karaca

Maret Karaca ist Holistikönnerin bei der Holisticon AG und Agiler Coach aus Überzeugung. Davor war sie in der (Geistes-)Wissenschaft unterwegs und zwar in der Linguistik.
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