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Isabelle Rotter 04. Oktober 2023

Intervision: So funktioniert kollegiale Beratung

So gut wie jeder hat sich schon einmal mit der Frage auseinandergesetzt, wie er in seinem Job besser werden kann. Unzählige verschiedene Angebote unterstützen uns bei Entscheidungsfindung, Handlungsoptionen oder auch Fachwissen. Für jede Situation gibt es eine Lösung, aber nicht jede Lösung passt zu jeder Situation. In diesem Artikel will ich die kollegiale Beratung ins Zentrum stellen und zeigen, wie sie uns bei der Entscheidungsfindung in fachlich schwierigen Situationen zur Seite stehen kann. Denn Intervision kann genau das leisten: Menschen zusammenbringen, die Ahnung vom Fach haben, schon in ähnlichen Situationen waren und neue Blickwinkel beitragen.

Wieso, weshalb, warum

Coaching, Supervision, Organisationsberatung, Intervision – nur um ein paar Möglichkeiten zu nennen – haben alle ihre Daseinsberechtigung, weil sie unterschiedliche Probleme gut lösen können. Ein Coaching ist super, wenn man etwas mit einem Partner reflektieren möchte, der einen anderen fachlichen Hintergrund hat. Supervision ist wichtig, wenn es um Fragestellungen geht, die – z. B. aufgrund von Informationsgeheimnis – nicht im Unternehmen besprochen werden können, aber die dennoch einen fachlichen Sparrings-Partner brauchen. Die Organisationsberatung ist weniger für Individuen als vielmehr für Organisationen geeignet, die strategische Fragen haben. Und die Intervision ist besonders von Vorteil, wenn es um neue Denkanstöße für beruflich herausfordernde Situationen oder die eigene Rolle geht, die auch von anderen fachlich versierten Kollegen verstanden werden können. Dabei ist es wichtig, dass die Problematik von dem Ratsuchenden individuell beeinflussbar ist. Wenn kein Einzelner etwas tun kann, sondern stattdessen das ganze Team zusammenarbeiten muss, sind wir beim Teamcoaching. Für die Intervision eignen sich sowohl Sach- als auch Interaktionsthemen. Sie verfolgt drei Ziele: Reflektion der eigenen Rolle, Lösung von Praxisproblemen und Qualifizierung durch kommunikative Beratungskompetenzen.

Die Grundidee in der kollegialen Beratung, häufig auch Intervision genannt, ist, den Handlungsspielraum jederzeit größer zu machen und niemals einzuschränken – ganz frei nach Heinz von Foerster: "Handle stets so, dass die Zahl der Möglichkeiten größer wird."

Aber wie genau sieht es aus?

Klingt ja erstmal ganz gut. Damit es das auch tatsächlich wird, gibt es einen festen Ablauf, geregelt in sechs Phasen. Als erstes kommt das Casting. In dieser Phase werden die Rollen besetzt. Dabei gibt es immer einen Fallerzähler, der oder die von einem Fall aus der eigenen Praxis berichtet, in den sich die Anderen während der Beratung hineindenken. Der Moderator hat die Aufgabe, durch den Prozess zu führen. In selbstorganisierten Gruppen wechselt der Moderator jedes Mal, in organisierten Gruppen kann diese Rolle aber auch von der organisierenden Institution vorgegeben werden. Außerdem braucht es noch einen Sekretär, der für den Fallerzählenden alles aufschreibt. Sich viele gute Ideen in kurzer Zeit zu merken, kann sonst sehr schnell überfordernd werden. Der Rest der Gruppe übernimmt die Aufgabe des Beratenden. Die Gruppenmitglieder entwickeln später Fragen, Gedanken und Ideen, um weiterzuhelfen.

Steht nach etwa fünf Minuten die Rollenverteilung fest, geht es an die spontane Erzählung. In dieser Phase schildert der Fallerzähler die Situation mit allen relevanten Details, damit am Ende alle Teilnehmenden den Fall aus seiner Perspektive verstanden haben. Moderator und Beratende dürfen Fragen zum Verständnis stellen, was in dem einen oder anderen Fall schon neue Blickwinkel öffnet. Aus der Praxis hat sich dafür eine maximale Zeit von 10-15 Minuten gut bewährt. Dauert es länger, wird es häufig unnötig kompliziert. Bei kürzerer Erzählung vergisst man schon mal das eine oder andere wichtige Detail.

Aus dieser Erzählung leitet der Moderator mit Blick auf die Zeit zur Schlüsselfrage weiter, die der Fallerzähler nun benennt. Auch hier ist allerdings kein Vakuum: Nachdem der erste Vorschlag gemacht wurde, haben die Beratenden die Möglichkeit, weitere Fragen vorzuschlagen oder auf andere Aspekte aufmerksam zu machen.

Sind sich alle einig zu wissen, worüber gesprochen wird, sollte mindestens eine sinnvolle Methode ausgewählt werden. Es gibt einen ganzen Methodenkoffer, über den die Gruppe verfügt. Dazu später mehr.

Denn jetzt geht es an die eigentliche Beratung. Der Fallerzähler darf sich nun anhören, was die Gruppe an Ideen, Vorschlägen und Meinungen zur Verfügung stellt. Hier ist die wichtigste Devise, dass erstmal alles sein darf, egal wie verrückt der Vorschlag klingt. In manchen Gruppen gibt es zwischendurch immer wieder Rückfragen, ob es in die angestrebte Richtung geht, sodass es dem Fallerzähler auch etwas bringt. Erfahrungsgemäß dauert die eigentliche Beratung zwischen 10 und 15 Minuten.

Kommt der Ideenfluss zum Ende, leitet der Moderator die Abschlussrunde ein. Manchmal ist es hilfreich, wenn der Sekretär für alle zusammenfasst, was während des Prozesses mitgeschrieben wurde. In jedem Fall resümiert der Fallerzähler das Gehörte und hat die Gelegenheit, abschließend Stellung zu beziehen.

Die Methoden

Der große Vorteil der Intervision ist die persönliche Anteilnahme, gepaart mit dem Perspektivenwechsel. Es kann wirklich erfrischend sein, wenn Andere sich mal über die eigenen Probleme Gedanken machen. Das setzt allerdings voraus, dass jeder auch offen ist für die Vorschläge der Zuhörenden. Und um das sicherzustellen, gibt es einen Methodenkoffer, der aus verschiedenen Richtungen für mehr Handlungsoptionen sorgen soll. Da diese Methoden nicht exklusiv für die Intervision, sondern für jede Beratungssituation genutzt werden können, soll hier ein kleiner Blick in einige dieser Methoden geworfen werden. Um einen Einblick aus der Praxis mitzugeben, folgt jeder Methode auch eine typische Schlüsselfrage aus der Praxis, bei der die Intervision helfen kann, Licht ins Dunkel zu bringen.

Erster kleiner Schritt

Besonders in unübersichtlichen, komplexen Situationen kann die Fragestellung lauten: Was ist ein möglicher nächster Schritt? Die Antworten sind dabei nicht vielschichtig und lange durchdacht, sondern so klein wie möglich. Von Kaffeetrinken über Gespräch vorschlagen bis hin zu Code nochmal lesen – es geht darum, den Lösungsumfang und das -tempo zu reduzieren.
Schlüsselfrage: Ich verliere mich oft im Code. Wie kann ich meine Konzentration verbessern?

Resonanzrunde

Vor allem im Management fehlt es oft an Feedback. Wenn man sich nicht ganz sicher ist, ob man moralisch, stimmungstechnisch oder anderweitig auf dem richtigen Dampfer ist, bietet sich eine Resonanzrunde an. In diesem Fall berichten die Beratenden, was das Erzählte in ihnen auslöst. Hier können vor allem Nachfragen in eine neue Richtung weisen.
Schlüsselfrage: Mein Kollege schreibt schlechte Reviews und ich habe ihn direkt darauf hingewiesen. Hatte ich recht mit meiner Reaktion?

Kopfstandmethode

Wenn etwas wirklich aussichtslos aussieht, rollt diese Methode das Feld von hinten auf. Was müsste getan werden, um die Situation noch zu verschlimmern? Auf diese Weise wird der Handlungsspielraum eher nebenbei vergrößert. Manchmal finden Beratende so den Aufhänger für eine Negativspirale, die umgedreht werden kann.
Schlüsselfrage: Der Kunde versteht Scrum nicht, sodass die Kommunikation gegen die Wand fährt. Was können wir tun, um die Kommunikation in dieser aussichtslosen Situation zu verbessern?

Schlüsselfragen

In sehr komplexen Situationen wissen manche Ratsuchenden gar nicht, wo sie anfangen sollen. Der Kern des Problems bleibt unklar. Indem die Beratenden verschiedene Schlüsselfragen formulieren und vorschlagen, kann der Kern des Problems gesucht und in Worte gefasst werden.
Schlüsselsituation: Im Team ist die Stimmung im Keller, außerdem sind alle überarbeitet, der Release steht bevor und der Scrum-Master ist ohne Ersatz krank geworden. Die Situation ist also unüberschaubar und die Schlüsselfrage kann helfen, einzelne Themen zu identifizieren.

Inneres Team

Diese Methode schafft Abhilfe bei inneren Ambivalenzen. Ist der Fallerzähler in Unstimmigkeit mit seiner eigenen Position zu einem Thema, der Priorisierung von Handlungsmöglichkeiten oder in anderen inneren Konflikten, so können die Beratenden die inneren Stimmen und Kernaussagen des Fallerzählers zusammenfassen. Sie fungieren quasi als Teamleiter, die ganz agil jeden berücksichtigen und die verschiedenen Botschaften reflektieren. Auf diese Weise kann eine integrierte Position geschaffen werden, die den wichtigen Teammitgliedern gerecht wird.
Schlüsselfrage: Mein Kunde möchte ein Feature in den Sprint reindrücken, aber die Entwickler sind ausgelastet. Wie soll ich mich entscheiden?

Identifikation

Die Seite der anderen am Problem Beteiligten erschließt man mit der Methode der Identifikation. Sind dem Fallerzähler die Absichten oder Handlungen des Gegenüber unzugänglich oder unverständlich, können die Beratenden Vermutungen dazu äußern, warum eine beteiligte Person sich auf eine bestimmte Weise verhalten hat. Jeder Interaktionspartner erhält so eine Stimme und der Fallerzähler kann die vielschichtigen Perspektiven berücksichtigen.
Schlüsselfrage: Das Kundenteam ist sich nicht einig bezüglich neuer Features und ich verstehe die verschiedenen Positionen/Motivationen nicht. Was kann ich tun, um ihnen bei der Entscheidungsfindung zu helfen?

Das waren nur einige der Methoden, die in der Intervision genutzt werden können. Von Metaphern, Kreuzverhören oder auch Überraschungen und Umdeutungen können Fallerzähler auf verschiedene Arten profitieren. Wie erwähnt ist die einzige Devise, Handlungsoptionen zu vergrößern, nicht zu verkleinern. Alles ist erlaubt, solange es zum Ziel führen könnte. Die Methoden sollten allerdings vom Fallerzähler gewünscht sein. Fühlt er sich nicht wohl dabei, z. B. in das eigene Team schauen zu lassen, wird die Beratung schnell zur Tortur und die Offenheit gegenüber Hilfsangeboten verschwindet.

Es gibt auch einige Beratungssituationen, in denen mehrere Methoden hintereinander zum Ziel führen. Vielleicht muss zunächst die Frage selbst gefunden werden, um anschließend über erste kleine Schritte zu sprechen. Jeder Fall ist dabei individuell und darf vom Skript abweichen. Es kommt außerdem nicht selten vor, dass nach der Schlüsselfrage der Fall schon erledigt ist. Manchmal reicht es einfach, jemand anderem von einem Problem ganz frisch zu erzählen oder es kommt die eine Nachfrage, die dem Fallerzähler die Augen öffnet. In diesem Fall kann die Intervision ohne eigentliche Beratung direkt danach enden.

Alles eine Frage der Organisation

In festen Gruppen, die sich regelmäßig zu einer Intervisionsrunde treffen, ist der gesamte Prozess verinnerlicht und es geht deutlich schneller. Während frische Gruppen auch gut und gerne 1,5 Stunden für eine Beratung brauchen, sind eingespielte Gruppen meistens nach der Hälfte der Zeit fertig.

Intervision findet in vielen, vor allem größeren Unternehmen direkt in der Firma mit festen Teams statt. Der Vorteil ist, dass die Prozesse bekannt sind, manche Namen nicht erklärt werden müssen und das Hineindenken meistens leichtfällt. Aber genau da liegen auch die Nachteile. Eventuell traut sich der eine oder andere nicht, das Problem direkt zu beschreiben und dann ist die beste Hilfe nicht viel wert.

Deshalb präferiert der eine oder andere eine feste Gruppe außerhalb des Unternehmens. In der Regel empfiehlt es sich, 10-15 Menschen dauerhaft in der Gruppe zu haben. Meistens kommen nicht alle, sodass 8-12 anwesend sind. Diese Größe ist ideal für eine intime Stimmung, in der sich die Fallerzähler auch trauen, alles darzustellen. Allerdings ist sie auch so groß, dass es verschiedene Stimmen und viele Ideen gibt. Je nach Ziel der Runde findet man auch Intervisionsgruppen, in denen die Teilnehmenden nicht den gleichen Job haben. Software-Entwickler können sowohl mit Testern als auch UX-Designern zusammenarbeiten, wenn es um Code-Probleme geht. Fragestellungen wie "Wie kann ich an Problem X neutraler rangehen, ohne dem Kunden direkt meine Meinung aufzudrücken?" oder "Was kann ich tun, um meinem Product Owner zu vermitteln, dass das Feature X nicht umsetzbar ist?" sind gut in diversen Gruppen zu besprechen.

Typische Themen

Wer sich noch unsicher ist, ob kollegiale Beratung das Mittel der Wahl ist, kann für sich die Checkliste durchgehen:

  1. Habe ich selbst Einfluss auf die Situation?
  2. Ist die Problematik noch aktuell (macht es also jetzt gerade einen Unterschied)?
  3. Ist es mehr als nur Fachwissen, das fehlt?

Wenn alle drei Fragen mit Ja beantwortet werden können, dann sind die Voraussetzungen schon erfüllt und es kann durchaus sinnvoll sein, sich einer Gruppe anzuvertrauen. Dabei können die Fragestellungen selbst aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen. Von Architektur- und Designfragen bis hin zu kollegialen Beziehungen hat hier alles seinen Platz. Vor allem in IT-lastigen Gruppen hat der Moderator manchmal Schwierigkeiten, die Diskussion tatsächlich beim Thema zu halten. Geht es etwa darum, dem PO zu erklären, dass das geforderte Feature technisch oder fachlich langfristig nicht tragbar ist, sollte die Hilfestellung zum Code keine inhaltliche sein. Vielmehr ist es eine kommunikative Herausforderung. Diese Ausschweifungen sollte der Moderator einfangen und wieder auf die aktuelle Kommunikationssituation zurückführen. Ist die Fragestellung hingegen explizit auch eine technische, dann sind auch Whiteboards und Codebeispiele gewünscht.

Manche würden behaupten, dass es sich dann nicht mehr um Intervision, sondern um Pairprogramming handelt. Die Grenzen sind in solchen Fällen in der Tat fließend, aber das ist nicht schlimm. Auch wenn die Hilfe nicht zur perfekten Definition nach Lehrbuch passt, kann es dennoch genau das Problem lösen, vor dem ein Kollege steht. Ähnlich wie Scrum, welches von jedem Unternehmen angepasst wird, um zur optimalen Lösung zu führen, kann auch die kollegiale Beratung so angepasst werden, dass sie am besten weiterhilft. Erlaubt ist, was hilft.

Wer also voller Elan ist, die eigene berufliche Praxis zu reflektieren, kann einfach mal im Unternehmen oder Bekanntenkreis fragen, ob es noch weitere Interessenten gibt. Das zeitliche Commitment kann dabei von einmal in der Woche über monatlich oder noch seltener gesteckt werden. Auch hier gilt: Was auch immer für euch funktioniert, ist richtig. Es ist immer noch besser, einmal im Jahr gezielt zu reflektieren, als es nie getan zu haben. Gerade die ersten Sitzungen sind mit einem externen Moderator mit Erfahrung oft leichter durchzuführen, da dieser mehr Sicherheit im Format geben kann. Und wenn man so richtig motiviert ist, gibt es auch Ausbildungen, die zur Moderation von kollegialen Beratungen befähigen [1].

Ganz im Sinne der ersten Kleine-Schritte-Methode kommt hier abschließend noch ein Vorschlag, wie Du von kollegialer Beratung profitieren kannst und eventuell eine neue Gruppe gründest:

  • nach Gruppen in der Gegend suchen
  • mit Kollegen darüber sprechen
  • Vorgesetzten im nächsten Gespräch davon erzählen
  • in der Firma fragen, ob es schon eine Gruppe gibt
  • über Ausbildungen zum Intervisionsgruppenleiter informieren
  • weiter recherchieren
  • überlegen, wer wohl gut in so eine Gruppe passt
  • überlegen, wann es in den eigenen Zeitplan passen könnte

Ich stehe gerne Rede und Antwort zu dem Thema, wenn es Fragen oder Probleme gibt.

Autor

Isabelle Rotter

Isabelle Rotter hat schon während des Studiums bei der FLAVIA IT angefangen, wo sie mittlerweile das Recruiting-Team im Homeoffice leitet.
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