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Florian Eisenberg 25. April 2017

Parallele Arbeit begrenzen – kurz-, mittel- und langfristiger Nutzen

Vielen Menschen erscheint es erst einmal unintuitiv, die Menge paralleler Arbeit zu begrenzen. Natürlich wissen die meisten von uns mittlerweile, dass Multitasking nicht funktioniert und trotzdem versuchen wir es doch immer wieder: Man arbeitet ja nicht wirklich parallel, manche Sachen bleiben gefühlt einfach nur kurz liegen... Und dann ist da noch die Angst, dass alle Aufgaben irgendwie blockiert sind und man untätig herumsitzt – ein Horror in einer Arbeitswelt, die auf Auslastung setzt.

Die positiven Effekte der Begrenzung paralleler Arbeit sind allerdings vielfältig; es ist lohnenswert, sich damit auseinanderzusetzen. Wir können die Effekte in kurzfristige, mittelfristige und langfristige Effekte aufteilen und unabhängig betrachten.

Welche Arbeit begrenzt werden sollte

Aber was bedeutet eigentlich die "Begrenzung paralleler Arbeit"? Auch wenn man eigentlich kein Multitasking betreibt, haben die meisten vielleicht drei, vier, fünf oder sogar zehn  Dinge, die im Kopf, auf To-do-Listen und in Kalendern jongliert werden. Dabei zählt nicht nur die Arbeit, an der wir aktiv arbeiten, sondern auch die Arbeit, die sich in verschiedenen Ruhezuständen befindet. Das sind beispielsweise Dinge, die aktuell blockiert sind – man wartet auf Rückmeldung, Input oder das Freiwerden einer bestimmten Ressource wie beispielsweise eines Testsystems. Es sind aber auch Dinge, die warten müssen, weil wir uns gerade mit anderen Sachen beschäftigen: Beispielsweise schreibe ich gerade einen Text, deswegen muss die Antwort auf eine E-Mail noch ein bisschen warten.

Dann gibt es noch die Arbeit, die noch gar nicht angefangen wurde, die aber trotzdem noch erledigt werden muss – sie wartet auf uns. Man spricht bei diesen drei Zuständen von blockierter Arbeit, unterbrochener Arbeit und Arbeit in einer Warteschlange. Die Arbeit in diesen drei Wartezuständen sollte gemeinsam mit dem limitiert werden, woran wir aktuell arbeiten. Sie wird häufig auch als "Work in Progress" oder WIP bezeichnet.

Warum sollten wir also limitieren?

Kurzfristig gesehen sprechen zwei Dinge für eine Begrenzung: ein schnellerer Durchfluss und die Möglichkeit zum aktiven Reagieren auf auftauchende Probleme.

John D.C. Little bewies 1961 eine Gesetzmäßigkeit, die die durchschnittliche Länge L einer Warteschlange vor einem System, die durchschnittliche Verweildauer W und die durchschnittliche Ankunftsrate λ neuer Arbeitseinheiten in Beziehung setzte: L = λ * W[1]. Unter bestimmten Voraussetzungen (u. a. stabiles System – Eintrittsmenge ist gleich Austrittsmenge – und gleichverteilten Verweildauern im System) lässt sich Little's Gesetz von der Warteschlange vor dem System auf die Warteschlangen im System übertragen. Man formuliert es dann als: Durchsatz * Durchlaufzeit = Menge paralleler Arbeit. Wir haben also ein Gesetz, mit dem wir die Durchlaufzeit optimieren können.

Warum ist das relevant?

Mit längerer Durchlaufzeit steigt normalerweise das Risiko, dass unerwartet schlechte Dinge passieren. Jeder kennt das aus der Projektarbeit: Je länger ein Projekt läuft, desto wahrscheinlicher sind Anforderungsänderungen, technische Probleme oder Änderungen in den technologischen Anforderungen, weil die verwendeten Technologien veralten. Das bedeutet fast immer Nacharbeit. Eine Möglichkeit, auf diese Risiken zu reagieren, ist, die Durchlaufzeit einzelner Dinge möglichst kurz zu halten.

Die Reaktion auf zu lange Durchlaufzeiten ist nicht nur in der Produktentwicklung häufig: "Wir müssen effizienter werden! Mehr schaffen in kürzerer Zeit, damit wir die Nacharbeit besser unterbringen können." Wer hat das noch nicht gehört?

Dabei ist das unverständlich, denn Little's Gesetz besagt, dass nicht nur eine, sondern drei Stellschrauben existieren: der Durchsatz, die Menge paralleler Arbeit und die Durchlaufzeit an sich. Den Versuch, die Geschwindigkeit kurzfristig durch höheren Durchsatz zu steigern, kennt auch jeder: In der Hoffnung, dass sie dadurch insgesamt schneller werden, werden mehr Mitarbeiter an eine Problemlösung gesetzt. Die Mitarbeiter sind dann meist nicht sofort mit dem Problem vertraut oder kommen sogar von außen. Sie müssen also erst noch angelernt werden. Und das, obwohl es in kooperativen Prozessen eine schlechte Idee ist, durch mehr parallele Bearbeitung kurzfristig einen höheren Durchsatz erzielen zu wollen. Das zeigte schon Frederick Brooks in "Vom Mythos des Mann-Monats" [2]. Die Denkweise, dass es bei Supermarktkassen doch gut funktioniert, ist zwar richtig, aber auch naiv, denn die arbeiten unabhängig voneinander – ein völlig anderes Prozessmodell.

Es geht auch viel einfacher

Es gibt einen viel einfacheren Stellmechanismus, um die Durchlaufzeiten zu senken. Statt den Durchsatz mühsam zu erhöhen, kann man die Menge paralleler Arbeit optimieren. Das betrifft insbesondere die blockierten oder unterbrochene Arbeit und die Arbeit in Warteschlangen. Senken wir die Menge paralleler Arbeit, so wird nach Little's Gesetz die durchschnittliche Durchlaufzeit deutlich sinken:

  Durchlaufzeit = Work in Progress (WIP) / Durchsatz

Meine Erfahrung zeigt, dass die meisten Unternehmen über 50 Prozent zu viel Arbeit in ihren Arbeitssystemen haben. Senken wir die Menge der parallelen Arbeit in diesen Fällen, verkürzt sich die Durchlaufzeit auf die Hälfte; die Gefahr auftretender Risiken sinkt entsprechend.

Die Durchlaufzeit als dritten Punkt

Haben wir die Menge unterbrochener oder in Warteschlangen wartender Arbeit auf ein gutes Maß gesenkt, ist es Zeit, sich Gedanken um die blockierte Arbeit zu machen. Blockaden stören die Durchlaufzeit und deren Vorhersagbarkeit massiv. Blockaden treten häufig in Form von Abhängigkeiten zu Individuen, Abteilungen, technischen Ressourcen oder als Rückfragen und Klärungen auf. Es kann nicht an der Arbeit weitergearbeitet werden und es muss erst zusätzliche Information hinzugefügt werden, bevor es weitergehen kann.

In den meisten Fällen wird über diese Blockaden hinweggesehen – es gibt ja immer noch genügend unterbrochene oder noch nicht begonnene Arbeit im System. Haben wir aber, bildlich gesprochen, den Wasserstand – die Menge paralleler Arbeit – in unserem System gesenkt, werden die für die Durchlaufzeit gefährlichen Klippen offensichtlich! Wir können nun aktiv in die Steuerung eingreifen und um die Klippen herumschiffen. Das kann durch aktive Zusammenarbeit mit den Zulieferern passieren, Managementeingriffe und Eskalationen oder auch nur durch ein häufiges Nachfragen nach den gewünschten Informationen. Die sichtbaren Blockaden nötigen uns dazu, aktiv zu werden, statt die Arbeit warten zu lassen.

Für viele Situationen ist das aber nicht ausreichend: Egal, wie häufig man nachfragt, man bekommt nicht die notwendigen Informationen. Dann werden anderen Strategien benötigt, die allerdings mittel- und langfristig funktionieren.

Mittelfristig: andere Routen, Verlässlichkeit oder wegsprengen

Auf längere Sicht ist es nicht sinnvoll, die Klippen immer nur im aktuellen Moment zu umschiffen. Man sollte die Dinge systemisch adressieren, die immer wieder auftreten und damit wiederkehrende Risiken für unseren Erfolg darstellen. Es bieten sich drei alternative Handlungsoptionen an.

Die Erste: andere Routen finden, die Blockaden also vermeiden. Man sucht sich andere Arbeitsabläufe, die es ermöglichen, die Blockaden grundlegend zu vermeiden. Ein Beispiel aus der Softwareentwicklung: Häufig treten in der Implementierung nachgelagerter Testphasen Fehler auf, die aufwändig korrigiert werden müssen. Diese Fehler treten meist auf, weil dokumentenbasiert kommuniziert wird und kein gemeinsames Verständnis der Anforderungen erarbeitet wird. Den Prozess so umzuformen, dass Testfälle und Implementierung gemeinsam und aufeinander abgestimmt entwickelt werden, wäre eine einfache Veränderung der Arbeitsabläufe, die erfolgreich sein könnte.

Es ist meist akzeptabler, langsam zu sein, als unzuverlässig.

Die zweite Option ist, eine Verlässlichkeit über die Blockaden zu erlangen. Der Erfolg wird in vielen Momenten nur dadurch geschmälert, dass die Arbeit nicht zum vorhergesehenen Zeitpunkt fertiggestellt wird. Das liegt ganz häufig daran, dass die Vorhersage des Zeitpunkts keine Risiken berücksichtigt – egal, wie verlässlich sie auftreten. Hier ist es hilfreich, Statistiken über das Auftreten der Risiken zu erstellen, wenn man sie schon nicht adressieren will.

Eine Analyse der Durchlaufzeiten einzelner Arbeitseinheiten durch das System gibt uns sogar eine Auswertung darüber, welche Leistung das System insgesamt hat, mit all seinen typischen Risiken und auftretenden Verzögerungen. Sobald eine gewisse Verlässlichkeit vorhanden ist, können wir die Risiken und ihr Auftreten mit einplanen. Ich stelle immer wieder fest: Es ist meist akzeptabler, langsam zu sein, als unzuverlässig. Mit Langsamkeit können die meisten Kunden besser umgehen, als wenn durch Unzuverlässigkeit Pläne und Zusagen zerstört werden.

Die dritte Option: "Wegsprengen". Ich habe diesen Begriff gewählt, denn ich verwende hier gerne das Bild des "Binger Lochs". Bei der Stadt Bingen am Rhein lag lange ein Quarzriff quer durch den Rhein, der die Schifffahrt an diesem Punkt unmöglich machte. Die verschifften Waren mussten vor dem Riff ausgeladen werden, per Karren rheinaufwärts gebracht und dort wieder auf ein anderes Schiff aufgeladen werden. Die anderen beiden Optionen, andere Route und Verlässlichkeit, waren auf Dauer nicht wirtschaftlich, denn das Verladen und Transportieren erzeugte neben den Transportkosten auch hohe Verzögerungskosten. Frankfurter Kaufleute betrieben schon im 17. Jahrhundert die Sprengung eines vier Meter breiten Lochs, nachdem schon die Römer erfolglos versucht hatten, das Riff zu zerstören. Erst 1974 wurde das Binger Loch soweit vergrößert, dass keine Gefahr mehr für den Schiffverkehr bestand – bedeutende Kosten und technische Machbarkeit waren wichtige Punkte, die eine vorherige Entfernung behinderten [3].

In der Wissensarbeit ist es häufig nicht sinnvoll, alternative Routen zu erkunden oder mit verlässlich auftretenden Risiken zu leben. Wenn externe Dienstleister keine Verlässlichkeit geben können oder Informationen aus anderen Teilen des eigenen Unternehmens nicht verlässlich und zeitnah bereitgestellt werden können, sollte man darüber nachdenken, diese Abhängigkeiten "wegzusprengen". Das bedeutet, Wissen und Entscheidungen zu internalisieren, Abhängigkeiten zu reduzieren und Dinge lieber verlässlich selbst zu erledigen. Wie beim Binger Loch ist das mit Aufwand verbunden, der gegen die erhofften Geschwindigkeitszuwächse im Fluß der Arbeit abgewogen werden muss.

Wissen, was man erwarten kann

Langfristig hilft uns die Begrenzung paralleler Arbeit, indem sie das Arbeitssystem stabilisiert. Es entsteht eine Verlässlichkeit bezüglich der Durchlaufzeiten und des Durchsatzes. Diese Stabilisierung bedeutet, dass wir uns darüber klar werden können, welche Leistung wir erbringen und welche Leistung wir erwarten oder von uns erwartet wird. Liegt die erwartete Leistung über der erbrachten, kann man die Erwartungen anpassen oder die Leistungsfähigkeit erhöhen. Die Leistungsfähigkeit zu erhöhen bedeutet in vielen Fällen, den Durchsatz bei gleichbleibender Durchlaufzeit zu erhöhen. Das kostet Zeit, Geld und neue Mitarbeiter. Dieser Prozess bringt einen langfristigen Nutzen, mit ihm gehen aber auch Investitionskosten einher. Eventuell muss der Durchsatz "normaler Arbeit" kurzfristig sogar gesenkt werden, um Platz für die Verbesserungsarbeit zu schaffen. Gerade aus diesem Grund sollten Sie sich nicht der Illusion hingeben, dass Sie den Durchsatz spontan durch weitere Mitarbeiter steigern können.

Sind wir dazu aufgestellt, den Durchsatz nachhaltig zu erhöhen, kann nach Little's Gesetz die Menge paralleler Arbeit gesteigert werden. Dann bleibt die durchschnittliche Durchlaufzeit konstant.

Begrenzung fehlt aus Angst

Es gibt offensichtlich viele gute Gründe, um die Menge paralleler Arbeit zu begrenzen: kürzere Durchlaufzeiten; Blockaden und Hindernisse sehen, herum navigieren zu können und sie systemisch zu adressieren; das Gesamtsystem so zu stabilisieren, dass wirkliche Aussagen über die Leistung möglich sind. Trotzdem sträuben sich Individuen und Organisationen dagegen, die Arbeit zu limitieren. Das geschieht vor allem aus der Angst vor dem sogenannten "Slack". Er entsteht, wenn Bearbeiter darauf warten müssen, dass neue Arbeit für sie bereitgestellt wird oder dass ihre fertiggestellte Arbeit vom nächsten Arbeitsschritt gezogen wird. Das WIP-Limit bestimmt, dass keine neue Arbeit angefangen werden darf, so lange die verfügbare noch nicht weiter bearbeitet wurde. Slack taucht also vor und hinter Engpässen aus, die in der Wissensarbeit variabel sind. Er tritt in WIP-limitierten Systemen automatisch und zwangsläufig auf. Zum einen existieren immer Engpässe, zum anderen gibt es durch die WIP-Limits einen Mechanismus, der verhindert, dass neue Arbeit angefangen wird, wenn in den folgenden Aktivitäten weniger Kapazität vorhanden ist, als in der eigenen.

Natürlich sind Systeme, in denen die Menge paralleler Arbeit weit nach unten optimiert wurde, empfänglicher dafür, Slack entstehen zu lassen: Sie haben einfach weniger flexiblen Spielraum und blockieren leichter. Das Paradoxe ist, dass man den Slack nutzen kann, um Blockaden auch nachhaltig zu lösen und so den gleichmäßigen Fluss zu fördern. Slack ist also die Waffe, mit der der Fluss optimiert wird und mit der das Aufkommen von Slack verringert wird!

Für die Unternehmen, die zumindest anfänglich nur langsame evolutionäre Veränderungen und Verbesserungen durchlaufen wollen, ist der Slack relativ einfach zu dosieren: Etwas mehr parallele Arbeit lässt Spielraum und Wartezeit, damit die Blockaden vielleicht auch von alleine weggehen. Der Wasserstand wird wieder angehoben – wenn man weiter im Bild der Klippen sprechen möchte. Das lässt keine schnelle Fahrt zu und fördert sich aufbauende Risiken. Man erkauft sich durch eine geringere Geschwindigkeit einen geringeren Änderungsdruck.

Die Menge paralleler Arbeit bleibt also insgesamt ein Trade-Off zwischen Änderungsfähigkeit und den wirtschaftlichen Vorteilen durch kurze Durchlaufzeiten. Die gute Nachricht ist: mit kleinen, kontinuierlichen Änderungen steigt auch das Vertrauen in die Fähigkeiten, erfolgreiche Änderungen durchzuführen – eine positive Rückkopplung.

Fazit

Es lohnt sich, die Menge paralleler Arbeit zu begrenzen: kurze Durchlaufzeiten, Qualitätsverbesserungen, weniger Nacharbeit, höhere Flexibilität und ein Mechanismus, um die kontinuierliche Verbesserung zu fördern. Es gibt kurz-, mittel- und langfristig viele gute Gründe, Begrenzungen einzuführen. Dem entgegen steht die Angst vor Unterauslastung der Mitarbeiter in Situationen, in denen Slack auftritt. Diese Unterauslastung sollten wir aber positiv bewerten, denn sie ermöglicht uns eine Verbesserung des Arbeitssystems im laufenden Betrieb mit den vorhandenen Mitarbeitern. Denn um die Leistungsfähigkeit eines Arbeitssystems langfristig zu steigern, sind auch zeitliche Investitionen notwendig, die sonst zu Lasten des normalen Betriebs gehen können.

Quellen
  1. Wikipedia: Little's Gesetz
  2. F. P. Brooks, 2008: Vom Mythos des Mann-Monats, mitp Business
  3. Wikipedia: Binger Loch

Autor

Florian Eisenberg

Florian Eisenberg hilft Unternehmen als Trainer, Berater und Coach auf ihrem Weg zur Agilität. Dabei setzt er am liebsten auf Kanban und unterstützt es durch andere Vorgehensmodelle wie beispielsweise Scrum. Er schätzt an Kanban…
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