Psychologische Sicherheit: Der Schlüssel zu performanten Softwareteams

2011 schrieb Marc Andreessen im Wall Street Journal den Artikel "Why Software Is Eating The World" [1]. Wenn man sich die Entwicklung der weltweit erfolgreichsten Unternehmen anschaut, sollte er Recht behalten. Die Welt wird dominiert von Software- und Tech-Konzernen, die zwar auch physische Güter produzieren, am Ende ihren Wettbewerbsvorteil aber aufgrund von überlegenen Softwareprodukten erzielen. Tesla, Google, Amazon, Apple: You name it. Tesla ist in Wahrheit kein klassischer Autobauer und Amazon ist kein traditionelles Versandhaus. Im Vordergrund steht hier die IT-getriebene Vernetzung basierend auf Softwaresystemen.
Diese Entwicklung ist weder aufzuhalten noch wird sie zurückgehen. Wir stehen erst am Anfang. Nahezu alle Industrien stehen unter dem Zwang, auf den Digitalisierungszug aufzuspringen, ehe sie "aufgefressen" werden. Diesen Fakt zu akzeptieren ist wichtig, um zu verstehen, wieso das Kernziel eines jeden Unternehmens sein muss, Softwareteams zu etablieren, die wirklich das liefern, was benötigt wird, in der bestmöglichen Time-to-market. Hinzu kommt, dass sich die Anforderungen an Arbeit in den letzten 20 Jahren grundlegend verändert haben.
Wissensarbeit funktioniert anders
Wir erleben mit dem Ende des Taylorismus und der Dominanz der Wissensarbeit eine Verschiebung der Arbeitskultur. Während im Produktionszeitalter der Fokus auf einem klaren Aufgabenspektrum lag, das ein Individuum zu erledigen hatte, stehen Organisationen heute vor Herausforderungen, die so komplex sind, dass sie nur im Team lösbar sind. Drucker (1999) bezeichnet diesen Typ der Arbeit als Wissensarbeit [2]. Während im Taylorismus die mechanische Ausführung und Kraft im Fokus lag, wurden diese Komponenten durch Wissen als das zentrale Kapital abgelöst.
Leider befindet sich Wissen jedoch im Kopf einer Person und ist aufgrund dessen nicht sichtbar. Die komplexen Probleme der "Neuen Welt" erfordern jedoch, dass Wissen geteilt wird und gemeinsame Verständnisartefakte entstehen. Probleme werden daher durch Kollaboration in Teams gelöst und nicht mehr im Hero-Culture-Modus durch Individuen. Gerade im Bereich der Softwareentwicklung ist es essentiell, dass Menschen zusammenarbeiten. Die Komplexität des Codes in einer Software ist von einer einzelnen Person weder überschaubar noch handelbar. Teams machen die Arbeit und das erfordert einen hohen Grad an Kommunikation und Kollaboration.
Individuelle Anreizsysteme verstärken den Hero-Modus und stehen echter Teamarbeit entgegen.
Teamarbeit stellt Organisationen vor neue Herausforderungen. Jahrzehnte des Taylorismus sind schwer aus den Knochen zu bekommen und Teamarbeit ist oft nicht ausreichend geübt. Hinzu kommen individuelle Anreizsysteme, die den Hero-Modus verstärken und echter Teamarbeit entgegenstehen. Wie schafft man es also, dass Menschen wirklich miteinander kommunizieren, ihr Wissen teilen und zusammen ein Problem lösen?
Psychologische Sicherheit ist hier kein Allheilmittel, das alle diese Schwierigkeiten beseitigt und kann nur als Enabler dienen, der Kommunikationsprozesse und Kollaboration beschleunigt. Es ist aber ein zentrales Element, ohne dessen Existenz echte Teamarbeit schwer umzusetzen ist.
Psychologische Sicherheit ist der Booster für Team-Performance
Amy Edmondson (2018) definiert Psychologische Sicherheit als "a shared belief that the team is safe for interpersonal risk-taking". Frei gesprochen: Ich sage, was ich denke und teile es mit meinem Team. Wieso ist das so essentiell für den Erfolg für Teams und damit für die Lösung von komplexen Problemen, welche die aktuelle Welt bereithält?
Wissensarbeit lebt davon, dass Wissen aus vielen Köpfen aggregiert und geteilt wird, um die bestmöglichen Lösungen zu erzielen. Habe ich nun Hemmungen, aufgrund von Ängsten, Befürchtungen oder individuellen Bonussystemen, mein Wissen zu teilen, tritt Wissensverlust ein. Die Lösung wird schlechter, das Produkt wird schlechter, die Konkurrenz zieht davon. Unternehmen bezahlen ihre Wissensarbeiter dafür, ihr komplettes Wissen einzubringen, nicht nur einen Bruchteil davon. Herrscht keine Psychologische Sicherheit und halte ich mit Informationen hinter dem Berg, entspricht das demselben Phänomen, wie mit halber Kraft im Taylorismus tätig zu sein.
Das Problem hierbei ist offensichtlich: Im Taylorismus ist es für jeden ersichtlich, wie schnell und effizient eine Leistung erbracht wird, in der Wissensarbeit weiß ich nicht, welche Informationen mir eine Person aus Mangel an Psychologischer Sicherheit vorenthält. Natürlich führt das Teilen von allen Informationen nicht direkt zur Problemlösung. Es stellt aber die Voraussetzung dafür dar. Damit ist Psychologische Sicherheit auch nicht als Wunderwaffe zur Problemlösung zu verstehen, sondern als Enabler, der am Ende des Tages überhaupt dazu führt, dass Probleme gemeinsam gelöst werden können.
Unternehmen haben also einen ökonomischen Anreiz, dass sich ihre Mitarbeiter "sicher" fühlen. Denn sonst wird ein Wissensarbeiter zu 100 Prozent bezahlt, bringt aber nur einen Bruchteil seines Wissens aktiv in sein Team und sein Unternehmen ein. Es entsteht ein Verlustgeschäft.
Leider ist das Konzept der Psychologischen Sicherheit im Allgemeinen noch nicht sehr gut verstanden und wird oft als "Wohlfühlen" und "Konfliktfreiheit" missverstanden. Das Wort "Sicherheit" ist vielleicht nicht ideal gewählt und suggeriert Umstände, die weder gewollt noch dadurch erreicht werden.
Es ist ein Irrglaube, dass eine Steigerung der Psychologischen Sicherheit einen direkten Einfluss auf die Teamperformance habe.
Im ersten Schritt wird eine Verbesserung der Psychologischen Sicherheit dazu führen, dass Konflikte ansteigen und mehr Kommunikationsaufwand entsteht. Es kann zu mehr Gesprächen bezüglich Risikoaspekten kommen, die bisher nicht angesprochen wurden. Erst im Laufe der Zeit zeigt sich die wahre Kraft dieses Konzeptes. Wie bei jedem Change muss man eine Durststrecke des Veränderungsschmerzes durchqueren. Des Weiteren ist es ein Irrglaube, dass eine Steigerung der Psychologischen Sicherheit einen direkten Einfluss auf die Teamperformance habe. Es ist jedoch die entscheidende Variable, die direkten Einfluss auf Kommunikation, Mut, Risikobereitschaft, Kreativität und damit am Ende auf zielgerichtete Problemlösung hat. Geduld und Hartnäckigkeit sind hier die Stichwörter.
Was man nicht misst, kann man nicht verbessern
Wie so oft ist es schwierig, Umstände zu verbessern, ohne zu verstehen, wie der aktuelle Ist-Zustand zu einer Thematik ist. Das Fundament von Scrum aus Transparenz, Inspektion und Adaption greift auch beim Konzept der Psychologischen Sicherheit. Im ersten Schritt muss ich herausfinden, wie es um die Sicherheit in meinem Team bestellt ist und dem Team diese Information zur Verfügung stellen (Transparenz). Im zweiten Schritt erfolgt eine Analyse der Auswertung (Inspektion) in der auch mögliche Maßnahmen zur Verbesserung besprochen werden, die dann im dritten Schritt umgesetzt werden (Adaption). Diese Schritte führe ich nicht einmalig durch, sondern immer wieder, um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu etablieren. Der Zeithorizont ist dabei individuell, jedoch ist zu empfehlen, zu Beginn im Vier- bis Acht-Wochen-Zyklus zu starten.
Um die Psychologische Sicherheit zu messen, empfiehlt sich der Fragebogen von Amy Edmondson [3]:
- Wenn Ich in meinem Team einen Fehler machst, wird er mir vorgeworfen.
- Mitglieder des Teams können Probleme und mutige Ideen einbringen.
- Leute in dem Team werten manchmal andere ab, dafür, dass sie anders sind.
- Es ist sicher, in meinem Team Risiken einzugehen.
- Es ist schwierig, Mitglieder dieses Teams um Hilfe zu fragen.
- Niemand in dem Team würde sich so verhalten, dass es meinen Anstrengungen zuwiderläuft.
- Wenn ich mit anderen im Team zusammenarbeite, werden meine einzigartigen Fähigkeiten und Talente geschätzt und genutzt.
Diese sieben Fragen decken Grundbereiche des Sicherheitsempfindens auf einer fünfstufigen Skala ab. Zu Beginn ist es ratsam, diese Umfrage erst einmal anonym durchzuführen, zum Beispiel mit einem Onlinetool wie Mentimeter. Wenn das Team an Sicherheit gewonnen hat, ist es auch förderlich, diese Umfrage transparenter zu gestalten und "offen" durchführen. Hierfür muss jedoch bereits ein gewisses Maß an Sicherheit im Team vorliegen, da der Effekt der Transparenz sonst schädlich wirken kann.
Die entscheidende Frage ist jetzt: "Was kann ich tun, um die Psychologische Sicherheit zu verbessern?". Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass Appelle in Form von "Sag doch mal, was du denkst", nichts bringen, sondern eher einen gegenteiligen Effekt haben. Man muss primär am System ansetzen, nicht an den Menschen. Das erzeugt nur Druck. Das Individuum ist dabei nicht außen vor. Natürlich hat jeder von uns eine Eigenverantwortung, doch dieser Effekt verpufft, wenn das System dagegen arbeitet.
Die Verbesserung der Psychologischen Sicherheit setzt bei der Organisation an
Es gibt drei Ebenen auf denen angesetzt werden kann. Sie bedingen sich gegenseitig und kumulieren am Ende in Team-Performance:
- Die Organisation – Die Organisation als solche hat den Auftrag, einen sicheren Rahmen zu bieten. Das geschieht am besten durch explizite Richtlinien. Natürlich gibt es in jeder Organisation implizit "korrektes" Verhalten zu Fehlern, Risiken, Konflikten. Diese werden aber oft durch Schmerz erlernt und schaffen Unsicherheit. Genau das, was wir nicht wollen. Organisationen sollten daher klare Richtlinien erstellen und mit ihren Mitarbeitern ausarbeiten, wie mit Fehlern, Risiken und Konflikten umgegangen werden kann.
- Das Team – Teams sollten nicht allein gelassen werden. Facilitatoren wie man sie im agilen Umfeld in Form der Scrum Master kennt, sind hier Gold wert. Sie können Konflikte aufdecken und vor allem die Kollaboration verbessern.
Eine weitere Empfehlung ist die Einrichtung von dedizierten "Räumen", die zur Verbesserung der psychologischen Sicherheit beitragen. Man spricht hier von "Angst-" oder "Fehler-Partys", die dazu beitragen können, Hürden abzubauen. Die Erfahrung zeigt: Es findet sich meist eine Person, die mutig ist und auf diesen Veranstaltungen voranschreitet und damit die Hürde zur Öffnung für andere senkt.
Auch eine dedizierte Slacktime, bei der man "risikofrei" neue Technologien ausprobieren kann, ist zu empfehlen, da hier der Umgang mit Neuem und damit Kreativität erlernt werden kann.
Auf Teamebene besteht die Hauptaufgabe im Messen und Sprechen über die Psychologische Sicherheit im Team, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben. Es sollte einen festen Inspektions- und Adaptions-Prozess geben, um hier gemeinsam voranzuschreiten und Verbesserungen zu erzielen. - Das Individuum – Das individuelle Teammitglied wird aber nicht ganz aus der Verantwortung gelassen. Die Erfahrung zeigt: "Führen durch Beispiel" hat den höchsten Effekt im Verbessern der Psychologischen Sicherheit. Damit dies jedoch geschehen kann und Einzelne den Mut haben, voranzugehen, muss der organisatorische Rahmen stimmen.
Nicht jeder hat den Mut und möchte sich exponieren. Das ist normal. Dennoch kann jede Person etwas für sich tun, indem sie durch Eigenreflexion darüber nachdenkt und in sich hineinfühlt, wie es um die eigene Sicherheit im Team bestellt ist. "Feel your safety" ist hier das Stichwort.
Es gibt keinen Weg zurück
Die Welt ist im Wandel. Der Taylorismus ist durch Wissensarbeit abgelöst und Probleme werden in Teams gelöst. Gewinnen werden am Ende Unternehmen, die es schaffen, performante Softwareteams zu entwickeln, die genau das liefern, was der Markt benötigt.
Psychologische Sicherheit ist eine Grundvoraussetzung, damit Teams funktionieren und liefern können. Besteht diese nicht oder ist schlecht ausgeprägt, werden Wettbewerbsnachteile entstehen, die letztlich sogar im Scheitern des Unternehmens kumulieren können.
Entscheidend ist daher, dass Unternehmen Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb derer sich die Teams entwickeln können und ein hohes Maß an Psychologischer Sicherheit erreichen. Das ist nicht einfach und erfordert Geduld. Wir sprechen hier nicht von Wochen, sondern von Monaten und Jahren. Doch das Invest wird sich auszahlen und letzten Endes kompetitive Vorteile mit sich bringen.
- M. Andreessen: Why Software Is Eating The World
- P. Drucker, 1999: Knowledge-Worker Productivity: The Biggest Challenge. California Management Review 41, no. 2 (January 1999): 79–94
- A. Edmondson, 2018: The Fearless Organization