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Johanna Heußner 19. Juli 2022

Wo sind die Grenzen der Agilität?

Geschwindigkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind heute für die Wettbewerbsfähigkeit von Organisationen elementar. Durch eine volatile Welt geprägt von Fachkräftemangel, Pandemie und Krieg werden diese Eigenschaften noch bedeutender. Unternehmen führen als Reaktion agile Prinzipien und innovative Tools ein. Kritisiert und diskutiert wird dabei oft das fehlende agile Mindset. Ohne passende Kultur wird Agilität zu kurz gedacht. Doch es gibt auch Berichte von Organisationen, bei denen Agilität zum Chaos führt. Eine entscheidende Frage drängt sich daher auf: Kann es auch ein Zuviel an Agilität geben? Oder anders formuliert: Wo sind die Grenzen der Agilität?

Erinnern wir uns an die vier zentralen Handlungsempfehlungen des agilen Manifests [1]:

  • Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
  • Funktionsfähige Produkte sind wichtiger als umfassende Dokumentationen.
  • Zusammenarbeit mit Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung.
  • Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.

"Wichtiger als" impliziert, dass beide Teile des Wertepaares relevant sind. Klar ist auch, dass der Fokus des agilen Manifests eindeutig auf den erstgenannten Werten liegt. Nur was bedeutet "wichtiger" genau? Reden wir von 99 zu 1 Prozent oder eher von 60 zu 40 Prozent? Gibt es ein unternehmensspezifisches oder gar allgemeingültiges, optimales Verhältnis? Für die Reflexion dieser Frage eignet sich das "Werte- und Entwicklungsquadrat" von Friedemann Schulz von Thun [2].

Im Werte- und Entwicklungsquadrat werden gegensätzliche Werte einander gegenübergestellt. Diese Werte ergänzen sich in positiver Ausprägung. Darüber hinaus zeigt das Werte- und Entwicklungsquadrat die jeweilige Übersteigerung eines Werts als sogenannten Extremwert auf. Grundsätzlich ist es zielführend, sich nach den Werten und nicht nach deren übersteigerten Extremwerten zu richten. Denn der ursprünglich nützliche Wert mutiert in seiner Übersteigerung häufig zu einem Extremwert mit Negativnutzen. Schauen wir uns den Einsatz des Quadrats am Beispiel "Umgang mit Geld" an.

Beim Umgang mit Geld sind gegensätzliche Werte mit Positivnutzen Sparsamkeit und Großzügigkeit. In einer Organisation braucht es je nach Situation und Aufgabe sowohl Sparsamkeit als auch Großzügigkeit. Beides ergänzt sich. Wird der Fokus zu sehr auf Sparsamkeit gelegt, mutiert Sparsamkeit zum Extremwert Geiz. Aus übersteigerter Großzügigkeit wird der Extremwert Verschwendung. Nur in wenigen Ausnahmefällen sind Geiz und Verschwendung tatsächlich zielführend, Extremwerte für Extremsituationen. Um flexibel und zielführend auf unterschiedlichste Situationen reagieren zu können, braucht es dennoch für alle vier Wertpositionen mentale Offenheit.

Die Einstellung, dass nur die linke oder nur die rechte Seite des Werte- und Entwicklungsquadrats zielführend bzw. "besser" ist, führt zu eingeschränkter Flexibilität. Stellt euch eine Organisation vor, die über Jahre ausschließlich nur Sparsamkeit oder nur Großzügigkeit glorifiziert. Es ist, als ob im Werkzeugkoffer eine Werkzeugkategorie fehlt. Der Nutzen der Gegenseite wird nicht gesehen, der glorifizierte Fokus verzerrt selektiv die Wahrnehmung. Finden sich dann noch Gleichgesinnte in einer Gruppe zusammen, verfestigt sich das Dogma und ganze Teams oder Organisationen geraten in eine gefährliche Dysbalance. Im Worst Case wird Stimmung gegen andersdenkende oder andersarbeitende Teams erzeugt. Dahinter liegt das in der Sozialpsychologie umfassend untersuchte Phänomen des Group Think [3].

Zu den negativen Konsequenzen eines einseitig gelebten Wertes gehört auch der "Bumerang-Effekt": Genau das, was die Fokussierung auf einen Extremwert verhindern soll, wird durch das Ausleben des Extremwerts erreicht. Es ist eine Art Psycho-Physik, die wie ein Gewitter den Ausgleich anstrebt. Fehlt es beim Geiz an "großzügigen" Investments in Innovation oder Mitarbeiterbindung, spart sich eine Organisation sprichwörtlich kaputt. Fokussiert sie sich umgekehrt zu viel auf großzügige Investments in Innovation oder Mitarbeiterbindung, fehlt in schwierigen Zeiten der Cashflow, so dass die Organisation in einen Liquiditätsengpass oder gar in eine wirtschaftliche Notlage gerät.

Für die erste Empfehlung des agilen Manifests (Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge) könnte das Werte- und Entwicklungsquadrat wie in Abb. 2 aussehen.

Das agile Manifest empfiehlt einen Fokus auf Individuen und Interaktionen. Dies ist unter den aktuellen Rahmenbedingungen als Ausgleich zu früheren, hochgradig funktional-hierarchisch organisierten Strukturen (Mechanisierung) nachvollziehbar. Jahrzehntelang prägten Arbeit und Schweiß den Alltag. Arbeitnehmer:innen waren dankbar, überhaupt einem lukrativen Broterwerb nachgehen zu können. Heute sind umgekehrt viele Unternehmen dankbar für jedes Talent, das sich mit den Zielen der Organisation identifiziert und den Geschäftsbetrieb zukunftsfähig am Laufen hält. Wer unter diesen Bedingungen versucht, Menschen ausschließlich rational-mechanisch zu führen, provoziert als Bumerang-Effekt zerstörende Emotionalität mit Widerständen. Es entsteht eine toxische Unternehmenskultur, die den Dienst nach Vorschrift, geringes Commitment und hohe Fluktuation fördert.

Obwohl Prozesse und Werkzeuge als weniger wichtig erachtet werden, sind diese im Sinne des Werte- und Entwicklungsquadrats sowie des agilen Manifests ebenfalls zu berücksichtigen. Denn ein dogmatischer Fokus auf Individuen und Interaktionen kann in der Übertreibung zu einer Art Extremhumanisierung mit langwierigen Konsensdiskussionen führen. Zeitverlust, hohe Opportunitätskosten und ein gestörtes Miteinander bis hin zu Anarchie sind mögliche Folgekosten. Dies wäre ein Zuviel an Agilität. Um in der Anarchie zu retten, was noch zu retten ist, braucht es notgedrungen doch jemanden, der mit klaren Anweisungen führt, Entscheidungen trifft und auf die Einhaltung von Prozessen achtet.

Besser ist es in den meisten Fällen, eine situative Balance zwischen dem Fokus auf Individuen und Interaktionen sowie Prozessen und Werkzeugen zu gewährleisten. Welches Verhältnis der beiden zielführend ist, kann von Organisation zu Organisation, von Situation zu Situation unterschiedlich sein. Es gibt ausreichend Prozesse und Werkzeuge, um einen situativ sinnvollen Fokus auf Individuen und Interaktionen zu schaffen, zu evaluieren und bei Bedarf agil anzupassen. Wichtig ist das Zusammenspiel der sich gegenüberstehenden Werte. Häufig kommen dabei Frameworks zum Einsatz, die Orientierung bieten, aber individuell partizipativ gefüllt werden.

Für das vierte Paar vom Manifest (Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans) illustriert der folgende Vorschlag das Werte- und Entwicklungsquadrat (s. Abb. 3).

Ein dogmatischer Fokus auf das flexible Reagieren auf Veränderung führt dazu, dass im Eiltempo eine Sau nach der anderen durch's Dorf getrieben wird. Weniges hat Bestand, vieles wird nicht zu Ende gebracht, da schon das nächste Projekt angesaust kommt. Mit nachhaltigem Reagieren auf Veränderung hat so ein Verhalten wenig zu tun. Als Treiber möchte eine Organisation durch das Reagieren auf Veränderung bestehen bleiben, erreicht mit zu viel Druck als Bumerang-Effekt aber das Gegenteil – Sau und Treiber liegen japsend am Wegesrand, sind zu erschöpft zum Weiterrennen.

Hält eine Organisation umgekehrt zu sehr am Befolgen eines Plans fest, kann dies im Sinne von Starrheit ebenfalls dazu führen, dass Organisationen scheitern. Denn was nützt es, wenn das im Plan angestrebte Ziel durch kurzfristige Änderung der Rahmenbedingungen gar nicht mehr zielführend ist. Wie wäre es stattdessen mit einer Planung, die gleichzeitig ausreichend Raum für flexible Anpassungen lässt.

Fazit

Statt als Folge von Group Think in Schieflage zu geraten, empfiehlt sich ein konstruktiver Austausch dazu, in welchem Verhältnis die Wertepaare des agilen Manifests zueinander stehen sollten (Im Sinne des Werte- und Entwicklungsquadrats gibt es selbstverständlich auch Situationen, in denen das Gegenteil dieser Empfehlung zielführender ist...).

Für eine Diskussion zum Verhältnis der Wertepaare haben sich folgende Schritte bewährt:

  1. Stellt das Konzept des Werte- und Entwicklungsquadrats intern vor.
  2. Erstellt für jeden relevanten Wert ein unternehmensspezifisches Quadrat.
  3. Ermittelt das momentan wahrgenommene Verhältnis der sich gegenüberstehenden Werte.
  4. Reflektiert die aktuelle Situation mit Hilfe folgender Fragen:
    1. Welche negativen Konsequenzen hat das wahrgenommene Verhältnis auf eure Organisation? Anhand welcher Indikatoren erkennt ihr sie? Und wie wahrscheinlich sind weitere negative Folgen?
    2. Welche positiven Konsequenzen hat das wahrgenommene Verhältnis auf eure Organisation? Anhand welcher Indikatoren erkennt ihr sie? Und wie wahrscheinlich sind weitere positive Folgen?
    3. Welche Bedenken hindern euch daran, einen ggf. schwach ausgeprägten Wert stärker zu leben? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Wie wahrscheinlich sind die Bedenken? Ist der Worst Case ggf. auch eine Chance? Auf welchen Erfahrungen/Informationen beruhen eure Einschätzungen?
  5. Definiert nun das angestrebte Verhältnis der Werte für eine geeignete Balance.
  6. Erarbeitet abschließend Maßnahmen, um das Zielverhältnis zu erreichen.
  7. Evaluiert regelmäßig, ob das Verhältnis der Werte unter den aktuellen Gegebenheiten noch zielführend ist und passt bei Bedarf an.

Wie viel Agilität zielführend ist, kann also nur in jeder Organisation je nach Situation individuell beantwortet und evaluiert werden. Ich wünsche euch viel Erfolg dabei!

Autorin

Johanna Heußner

Johanna Heußner studierte Wirtschaftspsychologie und leitete acht Jahre Beratungsprojekte in der Zielgruppenforschung. 2017 gründete sie Coach Your Venture mit Fokus auf Team- und Organisationsentwicklung.
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