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David Dutschke 29. Juli 2025

Digitale Barrierefreiheit 2025

Was IT-Teams jetzt technisch umsetzen müssen

Ab Juni 2025 verpflichtet das BFSG viele Unternehmen, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. Doch worauf kommt es technisch wirklich an – jenseits von ALT-Text und Farbkontrast? Der Beitrag zeigt, wie IT-Abteilungen Barrierefreiheit systematisch in Architektur, Prozesse und QA integrieren und was sie dabei unbedingt vermeiden sollten.

Digitale Barrierefreiheit wird gesetzlich Pflicht

Am 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft – und viele Unternehmen stehen noch ganz am Anfang. Obwohl die europäische Richtlinie 2019/882 bereits seit Jahren existiert, zeigt die Realität ein anderes Bild: Laut einer Analyse von Buzzmatic aus dem Jahr 2024 erfüllen über 99 Prozent der untersuchten deutschen Online-Angebote die Anforderungen an digitale Barrierefreiheit nicht [1]. Besonders alarmierend: Die meisten davon sind kommerzielle Websites, darunter auch viele aus dem B2B-Sektor. Gerade dort, wo komplexe Kundenportale, Self-Service-Angebote oder konfigurative Produktplattformen dominieren, wurden barrierefreie Gestaltung und technische Umsetzung bislang häufig noch nicht als prioritäres Thema behandelt.

Dabei geht es beim BFSG nicht um einen freiwilligen UX-Standard, sondern um eine rechtsverbindliche Verpflichtung. Wer ab Sommer 2025 digitale Produkte oder Dienste bereitstellt, egal ob Website, App oder Portal, muss sicherstellen, dass diese auch von Menschen mit Einschränkungen genutzt werden können. Für IT-Abteilungen, UX-Teams und Webdienstleister bedeutet das: Jetzt ist der Moment für strukturiertes Handeln in puncto Zugänglichkeit.

Doch viele Unternehmen unterschätzen die Tragweite des Themas. Häufig herrscht Unsicherheit darüber, was technisch genau gefordert wird, welche Normen gelten, inwiefern bestehende Systeme betroffen sind und was eigentlich der Unterschied zwischen "barrierefrei", "benutzerfreundlich" und "WCAG-konform" ist. Dabei ist der gesetzliche Rahmen klar abgesteckt – und das Zeitfenster für Umsetzung und Tests denkbar knapp.

Dieser Fachbeitrag zeigt, worauf es jetzt ankommt: Welche Anforderungen das BFSG technisch und organisatorisch stellt, wo typische Fallstricke lauern, welche Tools helfen und wie sich Barrierefreiheit als integraler Bestandteil moderner Softwarequalität und digitaler Kundenorientierung verankern lässt. Denn wer heute barrierefrei entwickelt, baut nicht nur gesetzeskonform, sondern schafft zugleich robustere, inklusive und zukunftssichere digitale Systeme.

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG): Technische Anforderungen

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz setzt den European Accessibility Act (EAA, Richtlinie EU 2019/882) in deutsches Recht um [2]. Damit wird Barrierefreiheit erstmals auch im privatwirtschaftlichen Raum flächendeckend verpflichtend – für Websites, mobile Anwendungen und digitale Dienstleistungen. Die Umsetzung zielt auf alle Organisationen ab, die digitale Produkte oder Services für Verbraucher anbieten. Dazu zählen klassische Online-Shops ebenso wie Buchungsportale, Vertragsverwaltungssysteme, Self-Service-Anwendungen oder digitale Kundenplattformen, auch im B2B-Bereich.

Das Gesetz greift unabhängig davon, ob es sich um Neuentwicklungen oder bestehende Lösungen handelt. Wer ein digitales Produkt oder eine Dienstleistung öffentlich anbietet, muss ab dem 28. Juni 2025 sicherstellen, dass es den Anforderungen an Barrierefreiheit entspricht. Anders als viele annehmen, gibt es keine Übergangsfrist für Bestandsangebote. Auch eine bereits langjährig betriebene Plattform muss bis zum Stichtag angepasst sein – oder darf ansonsten im Grunde nicht mehr angeboten werden.

Die technischen Anforderungen basieren auf der Norm EN 301 549, die wiederum maßgeblich auf den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1, Konformitätsstufe AA fußt [3]. Diese Richtlinien legen detailliert fest, welche technischen Eigenschaften digitale Inhalte erfüllen müssen, um als barrierefrei zu gelten. Dabei orientieren sie sich an vier Prinzipien:

  1. Wahrnehmbarkeit: Inhalte müssen von allen Nutzern erkannt werden können, auch bei eingeschränktem Seh-, Hör- oder Farbunterscheidungsvermögen.  

  2. Bedienbarkeit: Die Nutzeroberfläche muss vollständig per Tastatur bedienbar sein. Sie darf keine Aktionen erfordern, die nur mit der Maus möglich sind.  

  3. Verständlichkeit: Inhalte und Navigation müssen logisch, vorhersehbar und sprachlich nachvollziehbar sein.  

  4. Robustheit: Inhalte müssen mit gängigen Hilfsmitteln (Screenreader, Braille-Zeile, alternative Eingabegeräte) kompatibel und geräteübergreifend nutzbar sein.

Diese Anforderungen sind nicht bloß idealtypisch formuliert, sondern lassen sich technisch testen und objektiv bewerten. Das macht sie juristisch belastbar und für Entwickler konkret überprüfbar. Besonders wichtig: Die WCAG gelten als technologieoffen. Ob Website, Single-Page-App oder mobiloptimierte Anwendung – die Prinzipien bleiben dieselben.

Entscheidend ist, dass Barrierefreiheit nicht auf Designlösungen beschränkt bleibt. Sie betrifft auch tiefere technische Schichten, zum Beispiel die semantische HTML-Struktur, das Verhalten interaktiver Komponenten oder maschinenlesbare Fehlerkommunikation. Damit rückt das Thema in die Verantwortung von Architektur, Frontend-Entwicklung und Qualitätssicherung gleichermaßen. 

Digitale Barrierefreiheit: Technische Hürden und typische Umsetzungsfehler

Digitale Barrierefreiheit scheitert selten am guten Willen, sondern meist an technischen Details. Gerade in modernen Webanwendungen mit komplexen Interfaces, dynamischen Inhalten und Framework-basiertem Frontend entsteht oft eine Lücke zwischen der Oberfläche und dem, was assistive Technologien tatsächlich erkennen und bedienen können.

Ein weitverbreiteter Irrtum: Barrierefreiheit sei gleichzusetzen mit einer guten Nutzererfahrung (UX). In der Realität kann eine Anwendung durchaus intuitiv, modern und optisch ansprechend gestaltet sein und dennoch für Menschen mit Einschränkungen unbedienbar und damit unzugänglich bleiben. Der Grund liegt in fehlender oder mangelhafter semantischer und struktureller Auszeichnung im Code.

Typische technische Schwachstellen sind beispielsweise:

  • Fehlende oder unzureichende Alternativtexte für Bilder, Icons und Grafiken: Screenreader-Nutzer erhalten keine Information über visuelle Inhalte, wenn ALT-Texte fehlen oder generisch ("Bild123") benannt sind.  
  • Nicht fokussierbare UI-Elemente: Buttons, Links oder modale Dialoge, die nicht per Tastatur erreicht werden können, schließen Nutzer mit motorischen Einschränkungen und Mausunabhängigkeit aus.  
  • Interaktive Formulare ohne semantische Verknüpfung: Wenn Labels nicht korrekt mit Eingabefeldern verbunden sind oder Fehlermeldungen visuell, aber nicht maschinenlesbar kommuniziert werden, entstehen unnötige Hürden.  
  • Fehlende Struktur in der Navigation: Überschriftenhierarchien, Sprungmarken (z. B. "Skip-to-Content"-Links) oder Landmark-Rollen fehlen oder sind inkonsequent umgesetzt.  
  • Unzureichender Farbkontrast: Inhalte mit niedriger Kontraststärke (z. B. hellgrauer Text auf weißem Hintergrund) sind für Menschen mit Sehschwäche oder Bildschirmnutzung im Sonnenlicht kaum lesbar.  
  • Dynamische Inhalte ohne Live-Regionen: Ajax-Formulare oder Produktfilter, die Inhalte nachladen, geben Screenreadern oft keine Rückmeldung, was dazu führt, dass Nutzer blind im "leeren Raum" agieren.

Gerade bei Framework-basierten Single-Page-Applications (SPA) ist es essentiell, die Zustandsänderungen aktiv anzukündigen und mit semantischen Rollen, Live-Regions oder ARIA-Attributen zu versehen. Andernfalls bleiben Inhalte für Screenreader unsichtbar oder erscheinen im falschen Kontext. Ein weiteres Risiko liegt in nicht-barrierefreien eingebetteten Dokumenten, etwa PDFs, die ohne semantische Tags oder Alternativstruktur bereitgestellt werden. Diese sind selbst für geübte Screenreader-Nutzer kaum nachvollziehbar, insbesondere wenn sie visuell gestaltet, aber strukturell leer sind.

Kurzum: Die Mehrheit der heutigen Barrieren ist technisch lösbar, wird aber nur sichtbar, wenn gezielt mit Hilfsmitteln oder Prüfwerkzeugen getestet wird. Und genau hier liegt das Problem: Ohne Awareness und klare technische Standards rutschen viele Probleme durch – und das nicht nur in kleinen Projekten, sondern auch bei marktführenden Plattformen.

Accessibility beginnt in der Architektur – und nicht beim Design

Barrierefreiheit wird in vielen Projekten zu spät gedacht. Häufig liegt der Fokus auf Designrichtlinien, Farbkontrasten oder symbolischen ALT-Texten. Doch tatsächlich entscheidet sich digitale Zugänglichkeit viel früher: bei der Architektur von Komponenten, der Struktur des DOM und der Wahl der Frameworks. Wer Accessibility erst in der QA-Phase entdeckt, arbeitet gegen das System. Wer sie dagegen früh in den Software-Stack integriert, reduziert langfristig Fehler, Schulungs- oder Nachbearbeitungsaufwand und technische Schuld.

Ein zentrales Element ist semantisches HTML. Moderne Frameworks erzeugen oft komplexe Markup-Strukturen – mit <div>-Nesting, dynamischen Komponenten oder Custom Elements. Damit diese von assistiven Technologien korrekt interpretiert werden können, braucht es klare Regeln:

  • Verwendung nativer HTML5-Elemente wie <header>, <nav>, <main>, <section> statt generischer Container  
  • Korrekte Rollenvergabe über role-Attribute, z. B. role="dialog", role="button", role="navigation"  
  • ARIA-Labels und Deskriptoren zur Kontextbeschreibung (z. B. aria-describedby, aria-live, aria-labelledby)  
  • Tab-Reihenfolge kontrollieren über tabindex und Fokusmanagement (z. B. focus trap in Modals)

Zugleich braucht es eine Trennung von Logik und Präsentation. Viele Accessibility-Probleme entstehen, wenn sich Interaktionslogik, visuelles Verhalten und technische Struktur gegenseitig blockieren. Beispiel: Eine visuell ausklappbare Navigation wird per JavaScript eingeblendet – aber für Screenreader bleibt sie unsichtbar, da keine ARIA-Rolle (aria-expanded, aria-hidden) gesetzt wurde. Komponentenbasierte Systeme (z. B. React, Vue) bieten hier große Vorteile – wenn sie mit klaren Accessibility-Patterns arbeiten. Best Practices sind etwa:

  • ein zentrales Accessibility-Linting beim Build  
  • vordefinierte Wrapper-Komponenten mit Fokussteuerung und Rollen  
  • Integration semantischer Strukturen direkt ins Design-System (z. B. barrierefreie Button-, Modal-, Tab-Komponenten)

Auch die Dokumentation spielt eine Rolle: Gute Komponentenbibliotheken (z. B. Reach UI, Radix UI, Accessible Rich Internet Applications Suite – ARIA Authoring Practices) liefern klare Beispiele und Guidelines für Entwickler [4].

Entscheidend ist: Wer Accessibility nicht nur als Oberfläche versteht, sondern als strukturelles Qualitätsmerkmal, baut Systeme, die robuster, wartbarer und zukunftssicherer sind. Das ist nicht nur für Menschen mit Einschränkungen relevant, sondern für alle, die moderne Websysteme professionell betreiben.

Frameworks, Templates und CMS – Was geht, was nicht?

Ob Online-Shop, Webportal oder Dienstleistungsplattform: In der Praxis basieren viele digitale Anwendungen auf vorgefertigten Templates, Headless-Systemen oder modularen Content-Management-Systemen (CMS). Doch genau dort lauern oft Hürden für die Barrierefreiheit – denn viele Systeme sind von Haus aus nicht EN 301 549-konform.

  • Baukastensysteme und CMS wie WordPress, Typo3 oder Joomla bieten zwar mittlerweile barrierefreie Themes oder Plugins an, doch diese sind selten standardmäßig aktiv oder vollständig konform. Hinzu kommt: Viele Nutzer individualisieren Templates stark oder nutzen Page-Builder, die die zugrunde liegende Semantik zerstören. Slider ohne Fokussteuerung, Popups ohne aria-label, verschachtelte Headline-Hierarchien – die Liste ist lang.
  • E-Commerce-Plattformen wie Shopify, WooCommerce oder Magento liefern ebenfalls nur bedingt barrierefreie Defaults. Zwar bemühen sich die Anbieter, WCAG-konforme Themes bereitzustellen, doch die Umsetzung liegt letztlich bei den Nutzern. Gerade in Multi-Store-Konfigurationen oder bei erweiterten Checkout-Prozessen (z. B. Gutscheinfelder, Upselling, Multistep-Formulare) fehlen häufig grundlegende Anforderungen wie aria-required, role="form" oder korrekt ausgezeichnete Fehlermeldungen.
  • Headless-Architekturen oder JAMstack-Lösungen (z. B. mit Gatsby, Next.js oder Hugo) bieten theoretisch beste Voraussetzungen für Accessibility, da Entwickler Kontrolle über das Markup haben. Die Herausforderung liegt hier eher in der Implementierung: Accessibility muss aktiv mitentwickelt werden. Ohne Frameworks oder Libraries, die barrierefreies Verhalten ab Werk mitliefern, entsteht schnell ein hoher Custom-Aufwand.

Was CMS- oder Framework-Entscheider prüfen sollten:

  • Sind vorinstallierte Themes oder Module WCAG-2.1-AA-konform?  
  • Können Labels, Alt-Texte und Rollen durch das UI gepflegt werden – oder nur im Code?  
  • Gibt es automatische Checks oder Validierung bei der Eingabe von Content?  
  • Unterstützt das System barrierefreie Navigation (Sprunglinks, Fokusindikatoren, Skip to Content)?

Barrierefreiheit ist nicht Plug-and-Play. Auch ein barrierefreies Theme kann durch unsaubere Redaktionsarbeit, kontrastschwache Farbänderungen oder JavaScript-lastige Widgets unbrauchbar werden. Wer barrierefreie Templates anbietet oder nutzt, muss nicht nur die Technik verstehen, sondern auch redaktionelle Prozesse entsprechend schulen.
Die Empfehlung lautet daher: Frameworks und CMS bewusst nach Accessibility-Fähigkeit auswählen – und nicht nach reiner Feature-Checkliste. Denn was auf den ersten Blick modern und leistungsfähig wirkt, kann bei genauer Prüfung erhebliche Accessibility-Defizite aufweisen, die später mit hohem Aufwand behoben werden müssen.

Barrierefreiheit in der Softwarequalität: Accessibility-Tests in Dev- und QA-Prozessen

Barrierefreiheit lässt sich nicht einfach freischalten – sie muss überprüft, verifiziert und gepflegt werden. Und das funktioniert nur mit einem Mix aus automatisierten Tests, manuellen Checks und User-Feedback. In der Praxis zeigt sich: Viele Barrieren bleiben lange unentdeckt, weil sie durch reguläre QA-Verfahren nicht erfasst werden.

Automatisiertes Accessibility-Testing

Für erste Einschätzungen und Regression-Checks eignen sich Tools wie:

  • axe DevTools (Deque): Browser-Extension und CLI, die WCAG-Verstöße im DOM scannt  
  • WAVE: Gut für visuelle Tests, ideal für nicht-technische QA-Rollen  
  • Pa11y: CLI für Continuous Integration  
  • Lighthouse: Google-Tool mit A11Y-Scoring (nicht vollständig normgerecht, aber schnell)

Diese Tools prüfen typischerweise:

  • fehlende Alt-Texte  
  • unklare Labels bei Formularelementen  
  • Kontrastverhältnisse  
  • ARIA-Fehler oder Redundanzen  
  • falsche Hierarchien bei Überschriften

Trotz ihrer Nützlichkeit erfassen automatisierte Tests nur ca. 30 Prozent der Barrierefreiheitskriterien. Besonders semantische oder kontextuelle Anforderungen (z. B. nachvollziehbare Reihenfolge, sinnhafte Rollenvergabe, Bedienbarkeit komplexer Widgets) müssen manuell getestet werden.

Manuelle Prüfungen: Mensch gegen Maschine

Zu den wichtigsten manuellen Checks zählen:

  • Tastaturnavigation: Ist jede Funktion mit Tab, Enter, Esc, Pfeiltasten nutzbar?
  • Screenreader-Kompatibilität: Tests mit NVDA (Windows), VoiceOver (macOS/iOS) oder TalkBack (Android)
  • Logikprüfung von Fokusverhalten: Bleibt der Fokus sichtbar und nachvollziehbar?
  • Interaktive Elemente: Verhalten sich Slider, Tabs oder Accordions erwartungskonform?

Hilfreich ist der Einsatz von Checklisten nach WCAG – z. B. aus dem BITV-Test oder von der W3C Accessibility Initiative (WAI) [5]. Auch kombinierte Tests mit simulierten Einschränkungen (z. B. Farbfilter, Zoom, Screenreader-Simulation) geben Aufschluss über Schwachstellen.

Testing als Teil der CI/CD-Kette

Viele Organisationen integrieren Accessibility-Tests direkt in ihre Pipelines:

  • Pre-Commit-Hooks mit eslint-plugin-jsx-a11y oder ähnlichen Lintern  
  • Automatisierte Pull-Request-Checks mit axe oder Pa11y  
  • Barrierefreiheit als "Definition of Done" in agilen Teams

Tipp: Wenn ein Team Barrierefreiheit denselben Stellenwert einräumt wie der Performance, wird sie Teil des Qualitätsbewusstseins. Und nur dann gelingt der Übergang von punktueller Prüfung zu kontinuierlicher Verbesserung.

Accessibility in agilen Prozessen verankern: Von Sprintziel bis Backlog

Barrierefreiheit ist keine Projektphase, sondern sollte ein kontinuierlicher Anspruch sein. In agilen Entwicklungsprozessen kann sie deshalb nicht als einmalige "To-do"-Karte abgearbeitet werden, sondern muss in Planung, Umsetzung und Review zyklisch verankert werden. Wer Accessibility von Anfang an mitdenkt, also bereits in der initialen Planungsphase, schafft robuste Produkte und vermeidet aufwändige Nacharbeiten bzw. nachgelagerte Umbaumaßnahmen.

Accessibility in der "Definition of Done"

Ein erster und wirkungsvoller Schritt ist die Integration von Barrierefreiheit in die sogenannte "Definition of Done (DoD)", die verbindliche Checkliste, die festlegt, wann eine User Story oder ein Inkrement als abgeschlossen gilt, beispielsweise durch folgende Ergänzungen:

  • "Alle interaktiven Elemente sind per Tastatur erreichbar."
  • "Fehlermeldungen in Formularen sind maschinenlesbar verknüpft."
  • "Kontraste erfüllen die Anforderungen gemäß WCAG 2.1 AA."
  • "Mindestens ein manuelles Accessibility-Test-Case ist durchgeführt."

Solche klaren Kriterien geben Orientierung – auch für Product Owner, Tester und Entwickler, die mit Barrierefreiheit bisher wenig Erfahrung haben.

User Stories für alle – nicht nur für Durchschnittsnutzer

Typische agile User Stories beginnen mit dem Satz: "Als Nutzer möchte ich …" Wer Barrierefreiheit integrieren will, muss diese Stories um Perspektiven erweitern:

  • "Als blinde Nutzerin möchte ich durch den Warenkorb navigieren, ohne die Seite visuell sehen zu müssen."
  • "Als Nutzer mit motorischen Einschränkungen möchte ich das Formular ohne Maus ausfüllen können."
  • "Als Nutzer mit eingeschränktem Farbsehen möchte ich Statusanzeigen anhand von Symbolen erkennen."

Diese User Stories erweitern nicht nur die Perspektive, sie schärfen auch das technische Verständnis der Entwickler.

Backlog-Pflege und Priorisierung

Barrierefreiheit hat oft einen schweren Stand im Sprint-Backlog. Sie wird durch Features mit direkter Wirkung auf Umsatz oder Zeitersparnis verdrängt. Hier hilft eine strategische Einordnung: Accessibility-Tickets sollten als technische Schulden oder rechtlich kritische Aufgaben gekennzeichnet und mit hoher Priorität versehen werden – ähnlich wie Sicherheitslücken oder Systeminkonsistenzen.

Ein guter Ankerpunkt: regelmäßige Retrospektiven, in denen Accessibility-Bugs gesammelt, bewertet und ins nächste Sprintziel übernommen werden.

Digitale Barrierefreiheit im Unternehmen: Rollen, Schulung und klare Zuständigkeiten

Barrierefreiheit gelingt nicht im Alleingang – sie erfordert klare Verantwortlichkeiten, bereichsübergreifende Zusammenarbeit und ein Grundverständnis bei allen Beteiligten. In vielen Unternehmen fehlt es jedoch an definierten Zuständigkeiten: Accessibility wird entweder an UX "delegiert" oder bleibt diffus im Raum zwischen Design, Entwicklung und Redaktion hängen. Das Ergebnis: Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich und alle hoffen, dass das Thema "irgendwie mitläuft".

Accessibility braucht eine verankerte Rolle

Ein funktionierender Ansatz ist die Etablierung eines oder mehrerer Accessibility Champions – idealerweise je Team oder Projektbereich. Diese Personen koordinieren:

  • Reviews und Checks für neue Features  
  • Schulungen von Kollegen (z. B. in Lunch- & Learn-Formaten)  
  • Auswahl geeigneter Tools und Frameworks  
  • Kommunikation mit QA, PM und ggf. externen Auditoren

Diese Funktion ist kein Vollzeitjob, sondern eine Schlüsselrolle, um teamübergreifend Awareness, Qualität und Konsistenz zu sichern.

Schulung und Sensibilisierung

Viele Accessibility-Probleme entstehen nicht aus Ignoranz, sondern aus fehlendem Wissen. Schon einfache Maßnahmen können helfen:

  • UX-Designer in Kontrast, Fokusführung und barrierefreier Farbwahl schulen
  • Frontend-Developer mit ARIA-Rollen, Tastaturnavigation und semantischem HTML vertraut machen
  • Content-Teams für barrierefreie Sprache, Linktexte und Alternativbeschreibungen sensibilisieren

Empfehlenswert sind praxisnahe Schulungen mit den Werkzeugen und Funktionen, die die Teams auch im Alltag nutzen, beispielsweise Editor-Plugins, CI-Checks oder Inline-Hinweise im CMS. So wird Barrierefreiheit direkt in bestehende Workflows integriert.

Prozessintegration in Qualitätssicherung und Support

Accessibility darf kein Sonderthema bleiben, das erst am Schluss geprüft wird. Besser ist ein systemischer Ansatz, bei dem Barrierefreiheit Bestandteil aller Standardprozesse ist:

  • Feature-Review? Accessibility-Kriterien checken!  
  • Bug-Triage? Barrierefreiheitsprobleme dokumentieren und priorisieren!  
  • Release-Checklist? WCAG-Konformität prüfen!  
  • Kundenfeedback? Beschwerden von Nutzern mit Einschränkungen besonders ernst nehmen!

Unternehmen, die Accessibility in ihre Standard-Abläufe integrieren, schaffen nicht nur Compliance, sondern füllen eine nachhaltige Kultur der digitalen Teilhabe mit Leben.

Fazit: Barrierefreiheit zahlt sich aus – auch jenseits der Pflicht

Wer Accessibility als bloße Regulierungsanforderung versteht, übersieht ihr strategisches Potenzial. Denn barrierefreie Systeme sind nicht nur gesetzeskonform, sie sind zugleich robuster, performanter, inklusiver und kundenfreundlicher. Das schlägt sich spürbar nieder: in besserer Nutzerbindung, niedrigeren Absprungraten und einer höheren Reichweite – insbesondere in digitalen Märkten.

Barrierefreiheit = bessere User Experience

Eine barrierearme Oberfläche ist in der Regel auch für Menschen ohne Einschränkungen einfacher und angenehmer zu bedienen. Eine klare Navigationslogik, strukturierte Inhalte, nachvollziehbare Fokusverläufe – all das verbessert die allgemeine Orientierung und reduziert kognitive Belastung.

Barrierefreiheit ist nicht nur Pflicht, sondern längst auch ein Türöffner.

UX-Studien zeigen, dass Benutzer barrierearme Interfaces als effizienter und verständlicher erleben – unabhängig davon, ob sie selbst auf assistive Technologien angewiesen sind. Und auch der Customer Support profitiert: Wer z. B. verständliche Fehlermeldungen oder Tastaturnavigation bietet, reduziert Frustmomente für Nutzer und daraus resultierende Support-Anfragen.

Barrierefreiheit stärkt SEO und Conversion

Viele Accessibility-Maßnahmen wirken sich direkt positiv auf die Sichtbarkeit in Suchmaschinen aus:

  • Alt-Texte verbessern das Ranking in der Bildersuche  
  • Semantisches HTML erleichtert das Crawling  
  • Strukturierte Überschriften und Listen werden von Google bevorzugt  
  • Mobile- und Performance-Optimierungen, die für barrierearme Seiten nötig sind, senken Ladezeiten – ein bekanntes Rankingkriterium

Zudem korreliert Barrierefreiheit oft mit besserer Conversion Rate: Wer etwa ein Formular optimiert, damit es für Screenreader korrekt vorgelesen wird, verbessert gleichzeitig die Bedienung für mobile Nutzer.

Reputation, ESG und Marktzugang

Barrierefreiheit ist nicht zuletzt auch ein Imagefaktor. Unternehmen, die digitale Teilhabe ernst nehmen, positionieren sich als verantwortungsbewusste Anbieter – was sowohl im Employer Branding als auch in der Kundenwahrnehmung Wirkung zeigt. Immer mehr öffentliche und private Auftraggeber setzen zudem digitale Barrierefreiheit als Vergabekriterium voraus, gerade im DACH-Raum. Wer hier nicht liefern kann, bleibt außen vor. Barrierefreiheit ist also nicht nur Pflicht, sondern längst auch ein Türöffner.

UX-Design auf den diesjährigen IT-Tagen

Spannende Vorträge und Workshops zum Thema UX-Design erwarten Euch auch auf den IT-Tagen, der Jahreskonferenz von Informatik Aktuell. Die IT-Konferenz findet jedes Jahr im Dezember in Frankfurt statt – dieses Jahr vom 08.-11.12.

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