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André Beschmann & Jan Westrup 25. April 2023

Dezentrale Führung als Beschleuniger für den digitalen Wandel

So gut wie jedes Unternehmen betrifft es: Der digitale Wandel verändert rasend schnell die Märkte und die Kundenerwartungen - und er wird bleiben. Ob die Unternehmen da mithalten können, hängt klar von den jeweiligen Strategien, Prozessen und auch Führungssystemen ab. Eines davon möchten wir hier vorstellen: die Dezentrale Führung.

In unserem Artikel gehen wir zunächst historisch zurück und betrachten, was Frederick Winslow Taylor und die moderne VUKA-Welt in Bezug auf die Digitalisierung verbindet. Wir erläutern, warum Unternehmen auf den Druck der Digitalisierung reagieren müssen und warum Dezentrale Führung ein wichtiger Baustein für einen langfristigen Unternehmenserfolg sein kann.

Taylor trifft VUKA

Bevor wir uns mit dem Konzept der Dezentralen Führung beschäftigen, lohnt ein Blick in die Vergangenheit, genauer gesagt auf die Theorien des Management-Pioniers Frederick Winslow Taylor. Wir beschreiben zudem, wieso die Grundzüge seiner Theorien auch heute noch wichtig sind.

Taylor, 1856 in Germantown, Pennsylvania, USA geboren, war ein US-amerikanischer Ingenieur sowie Unternehmensberater und gilt als einer der Begründer der Arbeitswissenschaft. Von ihm stammt unter anderem der sogenannte Taylorismus, hier anschaulich gemacht durch das Schaubild der Taylor-Wanne, die zeigt, wie sich die Wirtschaft im Laufe der Zeit verändert.

Vor 1910 war das Zeitalter des Handwerks. Der Schustermeister, der damals noch alle Schuhe selbst anfertigte, musste das gesamte Wissen über die Verarbeitung von Leder, die Herstellung von Holzsohlen und die Verbindung verschiedener Materialien besitzen und sich über Jahre das Können erarbeiten, um den perfekten Schuh herzustellen. Das Wissen und das Können an einen Lehrling weiterzugeben, war gar nicht so einfach. Denn das Können “klebte” förmlich am Meister und konnte nur sehr schwer weitergegeben werden. Sein Markt erstreckte sich auf wenige Kilometer und die Konkurrenz war gering.

Ab 1910 unterstützten fast flächendeckend Maschinen die Produktion in den Unternehmen und das Zeitalter der Industrialisierung startete. Die Aufgaben wurden in viele kleine Einzelschritte unterteilt und so gut dokumentiert, dass sie von ungelernten Hilfskräften ausgeführt werden konnten. Der Schustermeister übernahm die Planung und Überwachung der Fertigung – also die Kopfarbeit. Die Maschinen unterstützten die Arbeiter und Arbeiterinnen in den jeweiligen Einzelschritten. Durch eine stärkere Mobilität konnte die Ware weiter weg transportiert werden und es entstanden somit größere Märkte. Es gab relativ wenig Konkurrenz, wobei der größte Engpass die Lagerkapazität war. Das vorherrschende Führungssystem war Command-and-Control. Denken und Handeln wurden konsequent voneinander getrennt. Damit wurde eine noch nie dagewesene Produktivität erreicht. Der Meister dachte und die (ungelernten) Hilfskräfte führten aus. Diese Art der Arbeitsteilung bezeichnet man als Taylorismus.

Ab ca. 1970 wurde die Wirtschaft globaler, da Waren überall hin transportiert und allerorts Niederlassungen eröffnet werden konnten. Obwohl theoretisch viele Marktlücken vorhanden waren, konnte der Konkurrent oft schnell reagieren und das Geschäftsmodell einfach kopieren und vergleichbare Produkte auf den Markt bringen. Diese Episode der Zeit war geprägt von hoher Konkurrenz. Hier war erneut der Mensch mit seiner Kreativität, seinen Prinzipien, seinen Haltungen, der Kommunikation und dem Dialog die Lösung.

Im Zeitalter der steigenden Volatilität, der Unsicherheit, der Komplexität und der Ambiguität (VUKA) reicht weder alleine der Taylorismus noch das "klebende" Können des Menschen aus, um langfristig erfolgreich zu sein. Welche neuen Herangehensweisen das für Organisationen, insbesondere Konzerne, nach sich zieht, möchten wir hier im Weiteren beleuchten.

VUKA trifft Konzern

Viele Organisationen, die sich jahrelang ohne großen Veränderungsdruck auf ihren Erfolgen ausruhen konnten, stehen jetzt vor einer großen Herausforderung: dem Druck der Digitalisierung. Neue Marktteilnehmer, die besser mit den Veränderungen und der steigenden Komplexität des Marktes umgehen, setzen die traditionellen Akteure unter Druck oder lösen diese sogar komplett ab.

Durch die Digitalisierung haben sich auch die Erwartungen der Kund:innen an Produkte und Dienstleistungen stark verändert. Sie wollen heute eine schnelle und nahtlose Nutzung digitaler Angebote und Dienstleistungen, die flexibel auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind. Infolgedessen müssen Unternehmen den Anforderungen der digitalen Kommunikation gerecht werden, die eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Kundenansprache und -bindung spielen. Kundenbedürfnisse haben sich auch dahingehend verändert, dass Menschen heute häufiger Produkte oder Dienstleistungen gegen eine Gebühr nutzen möchten, anstatt sie für einen weitaus höheren Preis komplett zu besitzen. Außerdem beteiligen sie sich gern aktiv an der Erstellung von Inhalten, teilen diese und arbeiten kollaborativer als früher. Die Verfügbarkeit von Informationen und Produkten muss jederzeit gegeben sein und die Erwartungen der Kund:innen werden immer höher, da nicht mehr ein Branchenstandard als Referenz herangezogen wird, sondern die technologischen Marktführer mit ihren serviceorientierten Produkten und Dienstleistungen den Maßstab setzen.

Arbeitskultureller Wandel

Die Digitalisierung hat neben den Auswirkungen auf die Kundenerwartungen auch einen enormen Einfluss auf unsere Arbeitskultur. Remote-Arbeit und flexible Arbeitszeiten sind der heutige Standard und wurden unter anderem erst durch den technologischen Fortschritt ermöglicht. Es ist mithilfe kollaborativer Plattformen wie Microsoft Teams nun leichter denn je, mit Menschen aus der ganzen Welt live in Kontakt zu treten und gemeinsam gleichzeitig an Projekten zu arbeiten. Diese enormen kulturellen Veränderungen durch die Digitalisierung können für Mitarbeitende oft herausfordernd sein. Es ist daher wichtig, dass Unternehmen und Führungskräfte die Mitarbeitenden unterstützen und einbeziehen, um sicherzustellen, dass sie sich gehört und verstanden fühlen und aktiv an der Veränderung teilnehmen können. Hier helfen eine offene und regelmäßige Kommunikation, Wissensförderung, ein konstruktiver Umgang mit Fehlern sowie eine angemessene Transparenz in der Vorgehensweise.

Wissen vs. Können

In der Taylor-Wanne (s. Abb.) wird zwischen zwei Arten von Arbeit unterschieden: Arbeit, die durch Wissen erledigt wird (blauer Bereich), und Arbeit, die nur mit Können bewältigt werden kann (roter Bereich).

Ein wichtiger Unterschied zwischen Wissen und Können besteht darin, dass Wissen die Theorie und Können die Praxis abbildet. Wissen kann ohne tatsächliche Anwendung vorhanden sein, während Können nur durch praktische Erfahrung erworben werden kann und wie bereits beschrieben, schwer übertragbar ist.

Können und Wissen sind eng miteinander verbunden, aber nicht dasselbe. Um den Unterschied zwischen beiden zu verstehen, betrachten wir das Beispiel eines Kindes, das Fahrrad fahren lernt:

Das Kind kann das Fahrradfahren erst erlernen, wenn es über das notwendige Wissen verfügt, wie man auf dem Fahrrad balanciert, die Pedale tritt und lenkt. Dieses Wissen kann das Kind durch Beobachtung, Erklärungen und Anweisungen von anderen erlangen.

Sobald das Kind das notwendige Wissen erworben hat, muss es dieses jedoch in die Praxis umsetzen und lernen, das Fahrrad tatsächlich zu fahren. Dies erfordert Übung und Erfahrung. Das Kind muss lernen, seine Muskeln und Bewegungen zu koordinieren und die Kontrolle über das Fahrrad zu behalten, während es sich fortbewegt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Wissen darüber, wie man Fahrrad fährt, notwendig ist, um das Können "Fahrrad fahren" zu erlangen. Aber um das Fahrradfahren tatsächlich zu beherrschen, muss das Kind das Wissen in die Praxis umsetzen und üben, bis es das Können erworben hat.

Das Gleiche gilt z. B. für die Kalkulation von robusten Versicherungsprodukten und Tarifen. Das notwendige Wissen eignet man sich beispielsweise im Studium der Mathematik an. Das reine Wissen über mathematische Formeln und Zusammenhänge versetzt uns jedoch nicht in die Lage, ein Versicherungsprodukt zu designen und robust zu kalkulieren. Um erfolgreiche und rentable Produkte zu entwickeln, muss man sich die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten in der mehrfachen Umsetzung on-the-job erarbeiten, um ein Spezialist auf dem Gebiet zu werden.

Erfolgreich durch Ambidextrie

Organisationale Ambidextrie ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg von Unternehmen. Die Fähigkeit, gleichzeitig effizient und flexibel zu sein, ist entscheidend, um sich in einem sich ständig verändernden Markt zu behaupten. Um diese Ambidextrie zu erreichen, muss sowohl eine autoritäre Top-Down-Steuerung für den Umsetzungsfokus als auch eine visionäre, einbindende (dezentrale) Führung für den Innovationsfokus vorhanden sein.

Das bedeutet, dass jede Organisation in der Lage sein muss, beide Führungssysteme gleichzeitig  an den richtigen Stellen einzusetzen. Um komplexe Herausforderungen zu meistern, ist eine Balance zwischen dem effizienten Einsatz von Wissen und dem kreativen Einbringen von Können essenziell. Es muss aber auch sichergestellt werden, dass simple Routinetätigkeiten effizient und routiniert gelöst werden können.

Unterscheidung von Steuerung und Führung

Führung ist ein wesentlicher Aspekt für den Unternehmenserfolg. Es gibt jedoch unterschiedliche Arten der Umsetzung in Organisationen.

Das geläufige Verständnis von Führung basiert hauptsächlich auf der Ausübung von Macht. In diesem Fall nennen wir es Steuerung. Es herrscht vorrangig das Prinzip des Command-and-Control, bei dem eine übergeordnete Stelle Regeln und Anweisungen erteilt, deren strikte Einhaltung kontrolliert und deren Verstöße sanktioniert werden. Diese Form der Führung benötigt eine klare Hierarchie und eine disziplinäre Haltung der Führungskräfte.

Dezentrale Führung im Gegensatz dazu basiert auf Kompetenz und Ansehen und erfordert keine übergeordnete Stelle, die Regeln und Anweisungen erteilt. Die Beziehung basiert auf gegenseitigem Vertrauen und ist jederzeit ohne direkte Konsequenzen "kündbar". Der Schwerpunkt liegt hier auf dem zu lösenden Problem und weniger auf der Ausübung von Macht und Steuerung.

Wenn Führungskräfte Regeln aufstellen, wird ihnen häufig vorgeworfen, "nicht agil genug" zu sein. Regeln und Prozesse gelten in der aktuellen New-Work-Bewegung als veraltete Herangehensweise und werden häufig als schlecht abgetan, denn Regeln dienen zur Steuerung von Menschen und das ist nicht erwünscht.

Dabei sind sie ein wichtiges Instrument, um eine qualitativ hochwertige und effiziente Lösung sich wiederholender, bekannter Probleme sicherzustellen und um Stabilität und Sicherheit zu garantieren. Je klarer sie formuliert worden sind, umso wirksamer können sie im Alltag angewandt werden.

Prinzipien hingegen sind keine klaren Arbeitsanweisungen oder dokumentierte Prozesse. Sie spannen einen Handlungsraum für die Lösungsfindung auf und dienen Könnern zur Orientierung. Sie eignen sich hervorragend für die Umsetzung neuer und überraschender Problemstellungen. Ein bekanntes Beispiel für prinzipienorientiertes Arbeiten ist das Agile Manifest, das eine flexible und iterative Herangehensweise in der Produktentwicklung fördert. Dort wird unter anderem gefordert, dass Individuen und Interaktionen mehr geschätzt werden sollen als Prozesse und Werkzeuge. Diese schreiben aber keine konkreten Blaupausen für die Umsetzung vor. Die Menschen, die mit einem komplexen Problem in Kontakt kommen, können für sich entscheiden, wie sie dem Prinzip folgen. Häufig spielen viele Parameter eine Rolle und idealerweise begegnet ein Könner dem Problem mit einem Gefühl für das richtige Vorgehen.

Kurz gesagt: Regeln eignen sich für sich wiederholende und bekannte Probleme, während Prinzipien für komplexe und neue Problemstellungen geeigneter sind.

Für Unternehmen, die langfristig erfolgreich sein möchten, ist es essenziell, ein genaues Verständnis von ihrer Wertschöpfung zu haben. Dazu gehört eine klare Unterteilung in Umsetzungsfokus und Innovationsfokus. Diese Unterscheidung ermöglicht es den Mitarbeitenden, passgenau mit ihrem Wissen und Können in der für sie am besten geeigneten Arbeitswelt eingesetzt und geführt zu werden.
Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass jeder Mitarbeitende gleichermaßen in beiden Welten erfolgreich sein kann. Vielmehr sollten Unternehmen gezielt darauf achten, dass die Stärken jedes Mitarbeitenden optimal genutzt werden. Nur so kann das Unternehmen langfristig erfolgreich sein und seine Wettbewerbsfähigkeit sichern.

Conclusio

Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung von Frederic Winslow Taylor finden sich heute noch in vielen Unternehmen wieder und haben den Wohlstand über Jahrzehnte in einer auf Effizienz getrimmten Unternehmenssteuerung gesichert.

Viele Unternehmen, insbesondere digital-affine, stehen heutzutage immer häufiger komplexen Markt- und Kundenbedürfnissen gegenüber, für die sie keine fertige Lösung parat haben.

Um diesen angemessen begegnen zu können, benötigt es in den überraschungsreichen Teilen der Wertschöpfung ein radikal anderes Vorgehen: Die dezentrale Führung.

Eine Dezentrale Führung können wir mittlerweile immer häufiger in Höchstleistungsunternehmen beobachten. Dabei ist sie meistens informeller Natur und wird mehr „geduldet“ als bewusst gefördert.

Im Kontext des digitalen Wandels ist Dezentrale Führung besonders wirksam, da sie eine schnellere Entscheidungsfindung ermöglicht. Durch die Legitimation, Entscheidungen an der Stelle zu treffen, wo das Problem auf den Mitarbeitenden trifft, kann man als Unternehmen schnellere Zyklen in der Produktentwicklung etablieren und mehr und enger die Kunden- und Marktbedürfnisse befriedigen.

Es lassen sich damit zudem adäquate Lösungen für jene Bereiche finden, in denen klassisch strukturierte Firmen noch das "rosa Formular" durch diverse Hierarchiestufen "rauf und runter" laufen lassen. Dies kann besonders hilfreich sein, wenn das Unternehmen mit Problemen konfrontiert wird, die unmittelbare Aufmerksamkeit erfordern, um einen Marktvorteil zu erlangen.

Um eine erfolgreiche Dezentrale Führung zu gewährleisten, muss das Unternehmen eine klare strategische Ausrichtung haben, an der sich die Mitarbeitenden orientieren können. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass auch in einem selbstorganisierten System eine Form von Steuerung vorhanden sein muss, um eine gelungene Zusammenarbeit zu ermöglichen und die Komplexität im Alltag zu reduzieren. Die Organisation sollte in der Lage sein, angemessene Rahmenbedingungen für die kooperative Zusammenarbeit zu schaffen, eine Vision zu vermitteln und die Mitarbeitenden bei der Umsetzung dieser Vision zu unterstützen. Dies schafft eine positive Arbeitskultur, die auf gegenseitiger Motivation und Verantwortung aufbaut und zu kollektiver Höchstleistung führt.

Insgesamt lässt sich sagen, dass Dezentrale Führung eine effektive Alternative zu traditionellen Führungsansätzen ist und in einer sich schnell verändernden Arbeitswelt immer wichtiger wird.

Autor

André Beschmann

André Beschmann ist Agile Coach mit Schwerpunkt in der Organisationsentwicklung und im Führungskräfte-Coaching.
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Jan Westrup

Jan Westrup ist Agile Coach mit langjähriger Erfahrung im Training, Coaching und Mentoring von Scrum Mastern, Product Ownern und Agile Coaches.
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