Projekte starten mit Design Thinking
Projekte haben einen Auftraggeber, ein klares Ziel und einen abgegrenzten Umfang ("Scope"), ein eindeutiges Start- und Enddatum, ein Budget und ein Team. Es sind einmalige, noch nie dagewesene Vorhaben. Das jedenfalls sagt die Theorie. Aber wie läuft es in der Praxis? Und wie kann Design Thinking helfen? Werfen wir dafür einen Blick auf die Geschichte von Melanie – eine zugegebenermaßen fiktive Geschichte, die nichtsdestotrotz auf wahren Begebenheiten beruht.
Wie ein Projekt beginnt, bevor es anfängt
Melanie ist Assistentin der Geschäftsführung in einem mittelständischen, global agierenden Industrieunternehmen. Kürzlich hat sie der Marketingleiter beiseite genommen. Er erzählt Melanie, dass die meisten Kontakte zu Neukunden inzwischen online geknüpft werden, diese aber nicht immer zufrieden seien mit der User Experience und dem Content der Online-Services. Um das volle Potential auszuschöpfen, müssten Länder-Websites, Online-Shop und Backend-Prozesse jetzt dringend überarbeitet werden. Der Marketingleiter eröffnet Melanie, dass er im anstehenden Strategie-Workshop der Geschäftsführung darauf drängen wird, ein bereichsübergreifendes Projekt für den Relaunch der Online-Services zu initiieren. Er fragt an, ob Melanie das Projekt nicht übernehmen könnte. Sie ist sofort Feuer und Flamme. Endlich kann sie zeigen, was sie in ihrem Studium gelernt hat. Um sich auf die neue Aufgabe vorzubereiten, entwirft sie umgehend den groben zeitlichen Ablauf des Projekts.
Im Strategie-Workshop steht das Thema Website-Relaunch ganz oben auf der Agenda. Die Webstatistiken, direkte Kundenfeedbacks, aber auch die vermeintlichen Erfolge und Vorsprünge des Wettbewerbs haben die anderen Bereichsleiter ebenfalls für das Thema sensibilisiert. Wie angekündigt schlägt der Marketingleiter Melanie als Projektleiterin vor. Der Geschäftsführer des Unternehmens nickt zustimmend und wendet den Blick erwartungsvoll an Melanie. Melanie betont, dass sie das Projekt äußerst spannend findet und sich als Assistentin der Geschäftsführung gern darum kümmert. Sie wirft den Erstentwurf eines Gantt-Diagramms an die Wand und erläutert der Runde, wie sie sich die Umsetzungsschritte und die Zusammenarbeit der Bereiche vorstellt. Als Projektlaufzeit schlägt Melanie einen Zeitraum von sechs Monaten vor.
Die Führungskräfte im Strategie-Workshop zeigen sich beeindruckt, wie weit sich Melanie bereits in die Planung eingearbeitet hat. Allerdings müsse man jetzt erstmal genau ermitteln, welche Anforderungen umzusetzen sind und welche Ressourcen für das Projekt eingesetzt werden können. Der IT-Leiter, der mit seinem Team den Online-Shop verantwortet, möchte bei der Gelegenheit eine neue Version der Shop-Software implementieren und einen Einheits-Login einführen. Der Vertrieb mahnt an, dass aktuelle, konsistente Infos zu Produkten und Lieferterminen nur durch einen automatischen Abgleich der Daten im Online-Shop mit der internen Warenwirtschaft sichergestellt werden können. Auch die Personalleiterin meldet sich zu Wort. Sie spricht von "War of Talents" und "Digital Natives" und hält es für äußerst wichtig, im Verlauf des Projekts die Bewerberseiten zu überarbeiten und jetzt endlich mit einem Influencer-Blog zu starten.
Der Geschäftsführer überträgt Melanie die Projektleitung. Für das Projekt wird ein Lenkungsausschuss gebildet. Um das Projekt klarer in Hinblick auf Ziele, Umfang, Zeit und Kosten zu definieren, wird Melanie im nächsten Schritt mit allen Entscheidern und ihren Teams Anforderungen und Ressourcen klären. Melanie erhält vier Wochen Zeit, um einen formalen Projektantrag zu erstellen.
Viele Interessen, wenig Commitment
Der Marketingleiter zeigt Melanie einige Websites von Wettbewerbern, die ihm gefallen, und bietet ihr an, das Gestaltungskonzept gemeinsam mit einem Agenturpartner zu entwickeln. Dabei solle bitte auch das neue Corporate Design berücksichtigt werden. Leider ist das Marketing-Team gerade mit einer großen Industriemesse und einer neuen Imagebroschüre beschäftigt, so dass Melanie nur auf die Hilfe der Agenturen und die eines Praktikanten zählen kann. Die Berater der Agenturen würden alle gern helfen, benötigen aber zunächst ein genaues Briefing für die Erstellung eines Angebots.
Der Vertriebsleiter will die Zahl der Online-Vertriebskontakte verdoppeln und die Antwortzeit auf ein Viertel reduzieren. Seine Leute leben von Verkaufsprovisionen und "müssen Geld verdienen", Ressourcen hat er daher keine.
Der IT-Leiter verweist Melanie an einen Software-Entwickler, der ihr eine Excel-Datei mit einer Liste von 20 Wunsch-Features überreicht. Außerdem sollen alle digitalen Anwendungen in Zukunft unbedingt zentral in einem Rechenzentrum gehostet werden. Der Entwickler freut sich über die Initiative und würde gern mitarbeiten, aber über den Termin müsse man noch mal reden, denn er und sein Team seien die nächsten zwölf Monate mit einem anderen Projekt ausgelastet. Die Personalleiterin erläutert Melanie ihre Ideen für ein Bewerberportal, das seit zwei Jahren in Diskussion ist. Ein Werkstudent aus ihrem Team könne gern helfen, es umzusetzen.
Nach vier Wochen und vielen weiteren Gesprächen ist Melanie nicht wesentlich weiter. Die Liste der Anforderungen wächst mit jedem Gespräch. Eine Priorisierung ist schwierig, denn jeder Fachbereich verteidigt vehement die eigenen Wünsche. Die Anforderungen sind ungenau formuliert, so dass es unmöglich erscheint, die benötigten Ressourcen zu kalkulieren. Und obwohl alle die Dringlichkeit des Projekts betonen, gibt es nur wenig Commitment zur Mitarbeit. Wie soll Melanie dieses komplexe Projekt bewältigen, wenn schon der Start so schwer fällt?
Kickoff mit Design Thinking – aber wie?
Ein Kollege aus dem Innovationsteam rät Melanie zu einem Design-Thinking-Workshop. Von Design Thinking, der co-kreativen, nutzerzentrierten Problemlösungsmethode, hat Melanie bereits im Studium gehört. Aber wie soll sie den Ansatz in einem Kickoff-Workshop umsetzen? Bei einer Webrecherche findet sie ein 3-tägiges Workshop-Format.
Die zeitliche Staffelung der ersten beiden Workshop-Tage orientiert sich am Design-Thinking-Prozess. Hier wird der inhaltliche Umfang – der Scope des Projektes – konkretisiert. Design Thinking fördert und kanalisiert Co-Kreativität, bei der die Teilnehmer sowohl eigene Ideen entwickeln als auch durch die Ideen der anderen Teilnehmer inspiriert werden. Denn im Design Thinking wird Kreativität nicht als besondere Gabe einzelner verstanden, sondern als eine Fähigkeit, die jeder Mensch mitbringt, um komplexe Probleme zu lösen. Design Thinking führt die Ideen einzelner in einem kollektiven Konzeptfindungsprozess zu gemeinsamen Problemlösungen zusammen, auf die ein einzelner Teilnehmer niemals allein gekommen wäre.
Als dritter Workshop-Tag folgt ein typischer Kick-off-Workshop zum Start eines neuen Projekts. Das Projekt wird im Kontext der Organisation betrachtet sowie zeitlich und personell grob definiert.
Melanie findet online eine genaue Schritt-für-Schritt-Anleitung für den Workshop. Sie wirft auch einen Blick in das dazugehörige Arbeitsbuch. Im Workshop kommt es darauf an, die co-kreative Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen zu initiieren, um Silodenken zu überwinden und gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Melanie erfährt, dass sie durch die frühzeitige Klärung der sechs Erfolgsfaktoren Purpose, People, Place, Process, Pace und Project co-kreative Zusammenarbeit ermöglichen kann.
Vier Wochen später kann Melanie zwar noch keinen formalen Projektantrag vorweisen. Doch dafür findet das Konzept des Workshops im Lenkungsausschuss großen Zuspruch. Melanie nutzt das Meeting als "Workshop für den Workshop", um die Rahmenbedingungen entlang der sechs P’s Purpose, People, Place, Process, Pace und Project mit den Stakeholdern zu klären.
Kraftvoller Kickoff
Wenige Wochen später treffen sich die Führungskräfte der verschiedenen Bereiche und ihre wichtigsten Wissensträger also im Workshop. Die Moderation übernimmt Melanie. Innerhalb von drei Tagen klären sie gemeinsam alle Fragen, die Melanie im Projektantrag beantworten muss.
Am ersten Workshop-Tag formieren sich die zwölf Teilnehmer nach einem kurzen Kennenlernen in drei cross-funktionalen Teams. Jedes Team findet zunächst sein eigenes, gemeinsames Verständnis zur Design-Challenge und teilt Informationen und Fragen zum Thema. In der anschließenden Forschungsphase beschäftigt sich jeweils ein Team mit einer der drei wichtigsten Nutzergruppen der Corporate Website. Dafür interviewt es je fünf potentielle Vertreter der Nutzergruppe. Die Termine für die Interviews wurden vorab durch Melanie vereinbart, so dass sie im Rahmen des Workshops stattfinden können. Die Bedürfnisse dieser Nutzer werden ad hoc durch die Teams ausgewertet. Sie dienen dazu, die Problemstellung nochmals exakter zu formulieren. In der Folge entwickelt jedes Team Lösungsideen für die Bedürfnisse "seiner" Nutzergruppe.
Die Ideen werden am zweiten Tag in einfache Papierprototypen umgesetzt. Jedes Team testet seine Ideen zunächst mit den Interview-Partnern aus der Forschungsphase, um sie durch die Nutzer bewerten und priorisieren zu lassen. Das Feedback der Nutzer dient als Input, um in einer weiteren Iteration eine verbesserte Fassung der Prototypen zu erarbeiten. In einer Pitch-Präsentation stellen sich die Teams ihre Konzepte wechselseitig vor.
Der erste und zweite Tag des Workshops folgt dem Prozessmodell des Design Thinking. Nachdem während der ersten beiden Tage Inhalt und Umfang des Projekts im Mittelpunkt standen, geht es am dritten Tag um die Eckpunkte der Projektplanung. Die Prototypen werden mit dem Feedback der Gruppe zunächst in eine Produktvision für das Gesamtkonzept überführt. Die Teilnehmer des Workshops verständigen sich auf ihre Rollen im geplanten Projekt, vereinbaren Termine und Arbeitsmethodik und Maßnahmen gegen mögliche Projektrisiken.
Mit Ende des Workshops hat Melanie alle Informationen, um einen schriftlichen Projektantrag zu formulieren. Überdies hat der Workshop ein Momentum entfaltet, das alle Fachbereiche zu Zugeständnissen in Hinblick auf ihre Ressourcenplanung bewegt. Der Spaß und die Energie der kreativen Zusammenarbeit hat den Zusammenhalt über Abteilungsgrenzen hinaus gestärkt und bei den Teilnehmern Lust auf eine aktive Projektmitarbeit erzeugt, so dass nach Ende des Workshops bereits weitgehend feststeht, wer zu welchem Anteil im Projektteam mitarbeiten wird.
Nach einem zunächst verzögerten Start hat Melanie mit dem Workshop eine Punktlandung hingelegt. Endlich kommt das Projekt ins Rollen. Wenige Tage nach dem Treffen liegt den Mitgliedern des Lenkungsausschusses der detaillierte Projektantrag vor. Die Diskussion ist kurz, denn im Workshop wurden alle wesentliche Entscheidungen zum Inhalt des Projekts implizit – durch die gemeinsame Arbeit am Prototyp der Lösung – bereits getroffen. Und über das informelle Netzwerk, das der Workshop zwischen den Beteiligten geknüpft hat, kann Melanie mit Hilfe ihrer Kollegen auch im weiteren Verlauf so manche Hürde umschiffen. Pünktlich geht die neue Website ans Netz – mit genau den Features und Inhalten, die für die Nutzer am wichtigsten sind – nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Sechs Erfolgsfaktoren für Co-Kreation
Und die Moral von der Geschicht’? Gute Vorbereitung ist alles. Nur die frühzeitige Klärung der sechs P’s Purpose, People, Place, Process, Pace und Project für co-kreative Zusammenarbeit mit den Stakeholdern des Projekts stellt sicher, dass Design Thinking seine Wirksamkeit in einem Kickoff entfalten kann. Schauen wir sie noch einmal im Detail an:
- Purpose: Warum ist der Workshop wichtig? Jeder Design-Thinking-Workshop braucht als Handlungsrahmen ein nutzerzentriertes Workshop-Ziel. Diese sogenannte "Design Challenge" sollte vorab mit den Entscheidern formuliert werden. Ein Beispiel: "Gestalte das Online-Erlebnis für unsere Neukunden in einer globalen Welt, in der der Erstkontakt digital erfolgt."
- People: Wer ist dabei? Design Thinking ist ein menschzentrierter Ansatz. Ein Projekt-Kickoff nach diesem Muster braucht daher nicht nur einen klaren Auftraggeber und Teilnehmer aus allen relevanten Fachbereichen, sondern auch den Zugang zu potenziellen Nutzern der Lösung, um Empathie für deren Bedürfnisse aufzubauen.
- Place: Wo findet der Workshop statt? Der Workshop kann remote, onsite oder als Hybrid ausgerichtet werden. Onsite sollte es mindestens 5 qm Fläche pro Teilnehmer sowie ausreichend Materialien für die co-kreative Zusammenarbeit geben. Remote sollten alle Teilnehmer über gleiche Zugangsmöglichkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Collaboration-Tools wie Microsoft Teams, Zoom und Miro verfügen. Fehlen diese, wird ein kurzes Tool-Training zu Beginn des Workshops notwendig.
- Process und Pace: Wie läuft der Workshop ab? Am effektivsten ist ein kompakter Workshop über drei Tagen. Alternativ können die Arbeitsphasen als halbtägige Einheiten auf zwei Wochen verteilt werden. Dabei sollte auch die typische Stimmungskurve in Design-Thinking-Workshops berücksichtigt werden. Eine sorgfältig formulierte Einladung ist wichtig, um die Teilnehmer frühzeitig einzustimmen.
- Project: Wohin soll die Reise gehen? Auch wenn Details erst im Workshop fixiert werden, macht es Sinn, bereits vorab grob mit den Stakeholdern festzulegen, wann das Projekt starten und enden soll, wer teilnehmen sollte und welches Budget aller Voraussicht nach notwendig ist. Diese Infos können am dritten Tag weiter detailliert werden.
Projektdesign mit Design Thinking
Design Thinking hilft, schnell und zuverlässig ein von allen Beteiligten verstandenes und akzeptiertes Big Picture des Vorhabens zu entwerfen, das im weiteren Verlauf in ein Projekt gefasst, iterativ verfeinert und in Details ausgearbeitet wird. Das mühselige Zusammentragen von Anforderungen lässt sich mit Design Thinking stark verkürzen. Erste Nutzer-Tests bereits im Workshop minimieren das Risiko, dass die Lösung am Bedarf vorbei entwickelt wird.
Eine Checkliste und weitere Vorlagen für die Vorbereitung des Workshops finden Sie hier.