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Dr. Andreas Lutz 03. März 2016

Aktuelle Entwicklungen zum Referentenentwurf §611a BGB – Dr. Andreas Lutz vom VGSD im Interview

Dr. Andreas Lutz ist Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) e.V. Wir sprachen mit ihm über den neuen Gesetzentwurf zur Scheinselbständigkeit, dessen Auswirkungen auf Selbständige in Deutschland und welche Maßnahmen Selbständige ergreifen können. Dabei geht es auch um die besondere Situation unter den Selbständigen in der IT
Der VGSD vertritt die Interessen von Solo-Selbständigen und kleinen Unternehmen mit bis zu neun Mitarbeitern, von Gründern sowie Teilzeit-Selbständigen. Der Verband wurde 2012 gegründet und zählt aktuell 1.500 Vereins- und 9.000 Communitymitglieder. Entstanden ist der Verband aus der Petition von Tim Wessels gegen eine Rentenversicherungspflicht für Selbständige und dem Widerstand gegen die Kürzungen beim Gründungszuschuss. Bundesweit vernetzen sich die Mitglieder in zehn Regionalgruppen.

Informatik Aktuell: Herr Dr. Lutz, aktuell steht der Referentenentwurf zu §611a BGB des BMAS zur Debatte. Was ist der Status des Gesetzes? Und wie geht es jetzt weiter?

Andreas Lutz: Der erste Gesetzesentwurf wurde für Mai 2015 angekündigt, dann im November vorgelegt und stieß auf breiten Widerstand, unter anderem weil der enthaltene Kriterienkatalog völlig praxisfremd ist und weit über die bestehende Rechtsprechung hinausgegangen wäre. Kanzlerin Merkel stoppte ihn im November und verlangte, dass sich Arbeitnehmer (DGB) und Arbeitgeber (BDA) noch einmal zusammensetzen und sich auch die Position der Arbeitgeber in dem Entwurf wiederfindet. Am 18.02.16 hat das Arbeitsministerium einen neuen Entwurf vorgelegt, der nun aber erneut auf politischen Widerstand gestoßen ist. Es ist also zweifelhaft, dass er wie geplant am 09.03.2016 im Kabinett behandelt wird.

Man möchte möglichst viele Selbständige in die Sozialversicherungspflicht zwingen.

Informatik Aktuell: Um was geht es bei dem Gesetzesentwurf und was wird damit beabsichtigt?

Andreas Lutz: Der Referentenentwurf sieht weitreichende Änderungen bei Werkverträgen und Zeitarbeit ("Arbeitnehmerüberlassung") vor. Irreführend ist dabei, dass in der Debatte nur von Werkverträgen die Rede ist, aber Dienstverträge ebenfalls betroffen sind und sogar in weit stärkerem Maße. Die aktuelle Entscheidungspraxis der Rentenversicherung, die durch das Gesetz festgeschrieben werden sollte, stellt bei solchen nach Zeit abgerechneten Tätigkeiten die Selbständigkeit in einem Großteil der Fälle in Frage.

Begründet wurden die Verschärfungen gegenüber der Öffentlichkeit mit einem zunehmenden Missbrauch von Werkverträgen, obwohl es für einen solchen keine empirischen Belege gibt. Oft wird der Fall osteuropäischer Schlachtarbeiter genannt, die zum Schein als Selbständige beschäftigt wurden, um den Mindestlohn zu unterlaufen. Das Gesetz mit seinen weitreichenden Verschärfungen würde aber für alle, auch für hochbezahlte Experten gelten. Das eigentliche Ziel von Andrea Nahles – und das ist ein offenes Geheimnis - ist ein ganz anderes: Man möchte möglichst viele Selbständige in die Sozialversicherungspflicht zwingen und die Rentenkasse durch hohe Nachforderungen an Auftraggeber füllen.

Informatik Aktuell: Welche Konsequenzen hat diese Gesetzesänderung für Selbständige?

Andreas Lutz: Statt Selbständige zu schützen, schadet ihnen das Gesetz massiv. Weil sich die Kunden nicht mehr ausreichend auf die Gültigkeit von Dienstverträgen verlassen können und hohe Nachzahlungen fürchten müssen, halten sie sich bei der Vergabe von Aufträgen an Selbständige (auch solche mit Angestellten) zurück. Sie drängen die Selbständigen in schlechter bezahlte, befristete Arbeitsverträge oder Zeitarbeit. Wenn sie Aufträge vergeben, dann oft nur nach bürokratischer Prüfung oder im Rahmen aufwändiger Konstruktionen (z. B. GmbH, ANÜ-Erlaubnis). Vom Kunden getroffene Vorsichtsmaßnahmen erschweren zudem zunehmend die Kommunikation mit deren Mitarbeitern. In einer gerade von uns zusammen mit Deskmag und gruendungszuschuss.de durchgeführten Befragung mit über 3.500 Teilnehmern [1] berichteten 54 Prozent der Selbständigen von derartigen Erfahrungen.

Die Entwicklung begann bereits in den Jahren 2008/09. Ohne, dass sich damals die Gesetzesgrundlage geändert hatte, begann die Deutschen Rentenversicherung (DRV) die Grenze zwischen abhängiger Beschäftigung und Scheinselbständigkeit immer weiter zu verschieben. Konnte man sich vorher halbwegs darauf verlassen, dass die freiwillige Statusfeststellung der DRV zu einem nachvollziehbaren Ergebnis führte, hat die Zahl der als scheinselbständig beschiedenen Fälle zwischen 2006 und 2014 von 19 Prozent auf 47 Prozent zugenommen. Um diese Steigerung zu erreichen, hat die DRV gleiche Sachverhalte plötzlich anders interpretiert und eine Vielzahl von Gerichtsverfahren gegen Selbständige und ihre Auftraggeber angestrengt. Dann pickte man sich aus den oft widersprüchlichen erstinstanzlichen Urteilen diejenigen aus, die einem am besten passten.

Informatik Aktuell: Welche Kriterien für die Einordnung zur Scheinselbständigkeit gelten denn?

Andreas Lutz: Als scheinselbständig gilt, wer in eine Organisation eingegliedert ist und Weisungen unterliegt. Diese aktuell bestehende Regelung wurde von der Rechtsprechung konkretisiert. Indizwirkung für eine abhängige Beschäftigung hat es, wenn man im wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig ist, bezüglich Zeit, Ort und Art und Weise der Tätigkeit Weisungen unterliegt, über keine betriebliche Organisation (eigene Räume, Mitarbeiter, Anlagen) verfügt, Arbeitsmittel des Auftraggebers verwendet (was auch Software und Datenbanken einschließt), Absprachen über Anwesenheitszeiten trifft, Arbeitsleistungen persönlich erbringen muss, nach Zeit bezahlt wird usw.

Dabei muss man bedenken, dass die DRV von einer Weisungsgebundenheit in der Vergangenheit bereits dann ausgegangen ist, wenn ein Trainer zehn Trainingstage hält und dafür mit dem Auftraggeber Ort, Zeit und Thema vereinbart. Auch das Kriterium der betrieblichen Organisation ist von solo-selbständigen Wissensarbeitern, die kaum mehr als ein Laptop und Smartphone brauchen, nicht erfüllbar.

Der geplante gesetzliche Kriterienkatalog wäre noch viel weiter gegangen und hätte zum Beispiel die Zusammenarbeit mit festen oder freien Mitarbeitern des Auftraggebers als Indiz gewertet. 96 Prozent der von uns befragten Selbständigen hätten mindestens ein Kriterium, 44 Prozent die Mehrzahl der Kriterien verletzt.

Auch wenn der Kriterienkatalog gestoppt werden konnte: Bereits für das bestehende Statusfeststellungsverfahren konnten wir nachweisen, dass auf jeden richtig als scheinselbständig erkannten mehr als vier echte Selbständige kommen, die durch die Statusfeststellung zu Unrecht als scheinselbständig klassifiziert werden. Wäre das Statusfeststellungsverfahren ein Medikament, würde es nicht zugelassen, da es mehr Menschen krank macht, als es heilt.

Individuelle Würdigung und Gewichtung der Einzelumstände findet nicht statt.

Informatik Aktuell: Und wer entscheidet künftig darüber, ob es sich bei einer Tätigkeit als Selbständiger um eine Scheinselbständigkeit handelt?

Andreas Lutz: Weiterhin die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung, die in die Hierarchie der Behörde eingebunden ist und ganz offenbar die Weisung hat, durch ihre Entscheidungen von Jahr zu Jahr mehr Nachzahlungen zu generieren. Dabei ist zu erkennen, dass die DRV Branche für Branche vorgeht und gerade auch solche mit hohem Durchschnittsverdienst prüft, statt wie eigentlich nötig solche mit prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Begründungen werden dabei erkennbar aus Textbausteinen zusammengesetzt. Die vorgeschriebene individuelle Würdigung und Gewichtung der Einzelumstände findet den Betroffenen zufolge nicht statt. Hier hat man den Bock zum Gärtner gemacht und es fehlt an Transparenz und Kontrolle. Widerspruchsverfahren werden fast immer abgelehnt, dann bleibt nur noch der Gang zum Sozialgericht. Der aber dauert viele Jahre. Es ist also gerade für kleine Unternehmen sehr schwer, Recht zu bekommen.

Informatik Aktuell: Andrea Nahles hat den Gesetzesentwurf ja nun entschärft. Wie unterscheidet er sich im Bereich der Dienst- und Werkverträge vom ursprünglichen Entwurf?

Andreas Lutz: Der Kriterienkatalog ist weggefallen und auch die Vermutungsregelung, mit der nach einem Bescheid durch die DRV aus Aufträgen unmittelbar Anstellungsverhältnisse geworden wären. Dagegen hätte man dann klagen sollen, um dann viele Jahre später die Anstellung wieder in eine Beauftragung umzuwandeln. Ein bürokratischer Alptraum. Es bleiben aber deutliche Verschlechterungen im Gesetz: Bedenklich finde ich, dass Betriebsräte das Recht erhalten, in alle – auch schon lange bestehende – Verträge mit Auftragnehmern Einblick zu nehmen. Auch wird die Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis abgeschafft, die eine wichtige Rolle als Fallbacklösung für Auftraggeber spielt. Auch der neue Gesetzesentwurf enthält keinerlei Positivkriterien oder Regelungen, die für mehr Rechtssicherheit sorgen würden.

Informatik Aktuell: Mit welchen Konsequenzen ist bei Feststellung von Scheinselbständigkeit zu rechnen?

Andreas Lutz: Schon jetzt sind die Sanktionen völlig unverhältnismäßig, wenn man bedenkt, dass selbst mithilfe erfahrener Rechtsanwälte und Steuerberater kaum noch rechtssichere Verträge erstellt werden können: Arbeitgeber- und -nehmeranteil zur Sozialversicherung für das laufende und die letzten vier Jahre sind nachzuzahlen. Wenn bei einem Mitarbeiter von der DRV eine Scheinselbständigkeit festgestellt wurde und man beauftragt ihn oder andere weiter, ist das wegen Vorsatz sogar strafbar.

Informatik Aktuell: Was sollten Selbständige tun, um sich zu schützen? Und wann sollten sie handeln?

Andreas Lutz: Vor allem sollten weder sie noch ihre Auftraggeber freiwillig Statusfeststellungsverfahren einleiten. Verträge sollten anwaltlich geprüft und die enthaltenen Vereinbarungen auch gelebt werden – so lassen sich Fehler vermeiden und Risiken zumindest reduzieren. Patentlösung wie z. B. die Gründung einer GmbH gibt es nicht. Das ist ja gerade die Natur von Rechtsunsicherheit. Deshalb ist auch wichtig, dass die Betroffenen sich gegen die Entscheidungspraxis der DRV politisch zur Wehr setzen, um endlich eine Verbesserung zu erreichen und wieder Verlässlichkeit herzustellen.

Informatik Aktuell: Gibt es denn auch Personengruppen, die von den Gesetzesänderungen – so sie denn in Kraft treten – profitieren könnten?

Andreas Lutz: Daran habe ich Zweifel. Missbrauch hätte man durch andere, z. B. branchenspezifische Maßnahmen zielgenauer bekämpfen können. Man muss das ja auch mal im Verhältnis sehen: Bei unserer Befragung gaben zwei Prozent der Selbständigen an, sich als scheinselbständig zu sehen und lieber als Angestellte arbeiten zu wollen. Das geplante Gesetz und die bestehende DRV-Praxis gelten aber auch für die anderen 98 Prozent und führen zu verheerenden Kollateralschäden.

Informatik Aktuell: Viele Selbständige in der IT sind Informatiker und IT-Experten. Sie gehören ja eher zu den Gut-, wenn nicht sogar Sehr-Gut-Verdienern. Die meisten legen Wert auf ihre Selbständigkeit und möchten gar nicht in Angestelltenverhältnissen arbeiten. Gibt es eigentlich eine besondere Situation unter den Selbständigen in der IT?

Andreas Lutz: Im VGSD haben wir sehr viele IT-Experten als Mitglieder, aber auch andere Berufsgruppen, die in einer ganz ähnlichen Situation sind. Sie verbringen oft viel Zeit beim Kunden, in komplexen und entsprechend langwierigen Projekte. Ohne sie geht es nicht, weil sie externes Fachwissen und neue Methoden und Technologien einbringen. Über dieses wertvolle Wissen verfügen sie, weil sie nicht nur für einen Betrieb arbeiten und sich ständig eigenverantwortlich fortbilden. In allen entwickelten Ländern nimmt die Zahl der selbständigen Wissensarbeiter und Experten laufend zu – in Deutschland sollen sie gegen ihren Willen in eine Anstellung gezwungen werden. Das kann zu einem "brain drain" führen. Bei einer Umfrage von gulp hat vor kurzem jeder fünfte Befragte angegeben, beim Inkrafttreten des Gesetzes auswandern zu wollen. Jeder sechste sagte, er würde in den vorgezogenen Ruhestand wechseln. Kann Deutschland auf fast 40 Prozent seiner IT-Experten verzichten?

Informatik Aktuell: Welche Änderungen würden Sie sich denn wünschen, damit das Gesetz allen Gruppen unter den Selbständigen gerecht wird?

Andreas Lutz: Ich halte das Gesetz auch in der entschärften Form für verfehlt und würde auf die Regelungen zu Dienst- und Werkverträgen verzichten. Wenn ein Gesetz, dann bitte eines mit Positivkriterien, die auch ohne langwieriges Statusfeststellungsverfahren überprüfbar sind und bei deren Einhaltung Auftraggeber und -nehmer sorgenfrei zusammenarbeiten können. In anderen Ländern geht das ja auch. Die Niederlande etwa haben zum 01.01.16 Musterverträge eingeführt. Wenn man diese nutzt und sich entsprechend verhält, besteht Rechtssicherheit. Zur Problemlösung gehört auch, dass die DRV aufhört, die Statusfeststellungen zur Selbstbedienung bei Auftraggebern zu missbrauchen. Hier ist dringend mehr Transparenz und Kontrolle nötig.

Informatik Aktuell: Welche Schritte beabsichtigt denn der Verband der Gründer und Selbständigen in Deutschland e.V. (VGSD) [2] in nächster Zeit?

Andreas Lutz: Es gilt, die Zeit bis zur Kabinettsaussprache zu nutzen, die für den 09.03. geplant war, aber sich wahrscheinlich noch verzögern wird. Wir freuen uns über weitere Mitzeichner bei unserer Petition [3], die wir in Kürze übergeben wollen. Gemeinsam mit anderen Selbständigenverbänden und einem Zusammenschluss von Personalvermittlern bewerben wir die gemeinsame Kampagnenwebsite  [4] – hier kann man mit wenig Zeitaufwand eine Mail oder einen Brief an seine Abgeordneten schreiben und seiner Sorge Ausdruck verleihen. Am besten ist es, einen Termin im Wahlkreis vorzuschlagen. Das persönliche Gespräch ist wichtig, damit die Abgeordneten die Auswirkungen der Gesetze verstehen.

Informatik Aktuell: Herr Dr. Lutz, vielen Dank für das informative Gespräch.

(Das Gespräch führte Andrea Held)

Im Interview

Dr. Andreas Lutz

Der Fachjournalist und promovierte Betriebswirt ist Vorstandsvorsitzender des VGSD e.V. und Autor zahlreicher Ratgeber für Gründer und Selbstständige.
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