Agile Organisation: Ohne Transparenz geht es nicht

Wir █████████ sind █████ total ██████ ████ transparent █████ ████!
Es gibt unterschiedliche Ansätze, eine agile Transformation in einer Organisation anzustoßen. Darüber wird und wurde viel gedacht und viel geschrieben. Die meisten Ansätze verfolgen dabei einen Plan, der eines Generalstabs würdig ist, erscheinen aber häufig wenig übertragbar auf die eigene, wahrgenommene Wirklichkeit.
Hierzu möchte ich Euch eine wahre Geschichte erzählen, die einen Ansatz zu einer langfristigen, agilen Transformation umschreibt, der sich im Wesentlichen auf eine einzige Maßnahme begründete: die Schaffung von Transparenz.
Am Anfang stand das gemeinsame Menschenbild… und Pragmatismus
In unserem Unternehmen hatten wir keinen Plan, lediglich eine gemeinsame Managementvision, wie wir mit Menschen umgehen wollten und wie eben auch explizit nicht. Wesentlich war – auch wenn wir das nicht merkten –, dass wir ein gemeinsames Menschenbild teilten, aus dem eine große Bereitschaft folgte, jedem Einzelnen in hohem Maße Vertrauen entgegenzubringen.
Daraus folgte kein Transformationsgedanke. Die Transformation ergab sich aus unserer gemeinsam entwickelten Haltung und der Tatsache, dass wir als Managementteam neu in dem Unternehmen waren. Es gab nichts Zwanghaftes, sondern nur eben diese Haltung – die wir in das Unternehmen projizierten.
Die erste Wahrnehmung unserer Positionierung erlangten die Mitarbeiter durch unseren Umgang mit vermeintlich geheimen Informationen. Wir waren davon überzeugt, dass schlaue Menschen um uns geschart waren. Weil dem so war, beschlossen wir, uns zukünftig keine Mühe mehr dahingehend zu machen, Informationen zu filtern. Die Information wurde schlichtweg allen bereitgestellt.
Dies war – auch wenn wir es damals noch nicht so nannten – die Geburtsstunde des Transparenzprinzips. Alles in der Organisation wurde nach Möglichkeit öffentlich gehalten, soweit es nicht aus juristischen Gründen, sei es aus Gründen der Gesetzgebung oder bedingt durch Verträge mit unseren Kunden, geheim gehalten werden musste.
Was dies mit uns machen würde, war uns zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht klar.
Eine Umkehrung der Informationspolitik… mit Effizienzsteigerung
Dieser Ansatz bedeutete mehr als nur "Ich streue mal ein bisschen mehr Informationen als sonst." Es handelt sich vielmehr um eine Umkehrung der Informationspolitik. Während vorher die Fragestellung das Management beherrschte, welche Informationen zu teilen seien, stellte sich nun die Frage, was überhaupt unter Verschluss bleiben muss.
Stellen wir uns aus der Managementperspektive unter der Maßgabe des Transparenzprinzips diese Frage, bleibt tatsächlich nicht mehr viel übrig, was geheim gehalten werden sollte. Im operativen Tagesgeschäft reduziert es sich meistens auf personenbezogene Daten von Mitarbeitern und Kunden.
Der Aufwand in diesem Filterprozess ist aus anschaulichen Gründen wesentlich geringer als ein misstrauensgetriebener Ansatz, der der Theorie folgt, nur die Informationen streuen zu wollen, die für die Leistungserbringung der Mitarbeiter tatsächlich relevant sind.
Was hieß das für uns operativ? Ob die aktuellen Wirtschaftszahlen – vom Umsatz über die Liquidität bis zum Monats-, Quartals-, Jahresabschluss –, die (unternehmensweite) Auslastung der Mitarbeiter, der Urlaubs- und Krankenstand, die Geschäftsführungsprotokolle, der Forecast für die nächste Periode – all das wurde regelmäßig aufbereitet in die Organisation getragen. Wir realisierten rasch, dass eine einfache Veröffentlichung hier nicht reichte – eine regelmäßige Thematisierung und Kontextualisierung waren erforderlich, um einen Zugang zu den für viele zum Teil fachfremden Details aufzubauen.
Die Wirkung ließ nicht auf sich warten
Bekanntermaßen ist aller Anfang schwer, dies galt auch in unserem Fall. Wir mussten lernen, blanke Tatsachen ungeschminkt zu kommunizieren. Die Informationsaufbereitung war zunächst mäßig und führte bei den Interessierten zu vielen Rückfragen, was uns sehr half, an dieser Stelle kontinuierlich besser zu werden. Durch sukzessiv verdaubarere Kommunikation gelang es, den Kreis der aktiv Anteilnehmenden langsam zu vergrößern.
Plötzlich gerieten wir in die Situation, uns erklären zu müssen...
Dieses Vorgehen erforderte eine bewusste Verhaltensänderung auf der Managementseite. Der eingeübte Marketing-Modus musste abgeschüttelt und durch eine bewusste Ansprache auf Augenhöhe ersetzt werden. Damit es für die Adressaten verständlich blieb, waren Kontext herzustellen und Akronyme aufzulösen. Plötzlich gerieten wir in die Situation, uns erklären zu müssen, da Unangenehmes auch als Unangenehmes zu transportieren war und entsprechende Rückfragen erfolgten. Wir verließen unseren Elfenbeinturm.
Vertrauen
Die erste Wirkung, der wir tatsächlich aber nur sehr langsam gewahr wurden, war eine Verhaltensänderung der Mitarbeiter uns gegenüber. Informationen, die wir vorher als so wertig und wichtig betrachtet hatten, dass sie unter Verschluss geblieben waren, wurden nun auch den Mitarbeitern des Unternehmens anvertraut. Die Mitarbeiter nahmen dies, auch wenn dieser Umstand keine klare Aussprache fand, erkennbar als Vertrauensbeweis wahr.
Die Entwicklung fand Verstärkung durch die Notwendigkeit der intensiven Kommunikation zur Erläuterung der Zahlen, Daten und Fakten. In der Klärung gerade auch unglücklicher oder gar prekärer Details der Unternehmensentwicklung rückten wir spürbar auf Augenhöhe mit den Mitarbeitern und traten nicht nur als Mahner und Wegweiser, sondern ebenso als Teil des Problems auf. Dies zeigte sich als maßgeblich für die weitere Entwicklung eines Umfelds, in dem ein bewusster Umgang mit Fehlern Kultivierung finden konnte.
Aufbau von Kompetenz
Der offene Diskurs über den Unternehmenszustand wirkte sich mit der Zeit in zwei weiteren Dimensionen positiv aus.
Zum einen stellten wir fest – und dies ist für jeden, der einmal eine Lehrtätigkeit innehatte, keine neue Erkenntnis –, dass mit der Notwendigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erläutern, unsere eigene Eindringtiefe in die Zusammenhänge zunahm. Durch die Rückfragen der bisher Außenstehenden zur Entwicklung ihres eigenen Verständnisses taten sich plötzlich für uns neue Aspekte des Geschäftsmodells auf, derer wir bis dahin in unserer Betriebsblindheit nie so richtig bewusst geworden waren.
Auf der anderen Seite reduzierte sich mit der Zeit unser Wissensvorsprung gegenüber den Mitarbeitern. Wir realisierten dies zu einem Zeitpunkt, als wir unerwartet in tiefere Diskussionen zur Interpretation und den Ableitungen der vorgestellten Informationen mit unseren Mitarbeitern eintreten mussten. Auch hierdurch entstanden neue Impulse und Ideen, auf die wir in unserem beschränkten Kreis nicht absehbar hätten kommen können.
Mit der unsererseits zunehmenden Kompetenzwahrnehmung der Mitarbeiter ging eine immer höhere Bereitschaft der Delegation einher. Damit entfaltete sich die nächste Vertrauensebene in Wechselwirkung mit den Menschen in der Organisation, die durch Wertschätzung und Vertrauen ihrerseits zurückgespiegelt wurde.
Auch die Mitarbeiter:innen sind in der Pflicht
Spätestens ab diesem Zeitpunkt rückte für uns eine Erkenntnis immer mehr in den Vordergrund: Managementinformationen sind nur ein Bruchteil der relevanten Information innerhalb des Unternehmens. Auch die Mitarbeiter mussten dazu angeleitet werden, alles, was sie tun, transparent zu machen und darüber regelmäßig zu berichten. Weniger im Sinne eines "Performance-Reports", sondern vielmehr mit dem Ziel, ihren Beitrag zum gemeinsamen Erfolg für alle sichtbar zu machen.
Obwohl wir mit unserer neu gewonnenen Transparenz ein glaubwürdiger Vorreiter waren, stieß die Formulierung eines äquivalenten Transparenzanspruchs gegenüber den Mitarbeitern auf vielerlei Ressentiments.
- Punktuell fehlte es noch an Vertrauen, was sich in der typischerweise nicht offen gestellten Frage: "Was passiert, wenn deutlich wird, dass ich an irgendeiner Fehlentwicklung Anteil habe?" äußerte. Dieses Problem löste sich nur mit der Zeit und der Kontinuität, mit der wir unsererseits dem Transparenzprinzip treu blieben und Bereitschaft zeigten, Fehlentscheidungen zuzugeben.
- Ein weiterer Faktor ist ein merkwürdiger Ausdruck fehlenden Selbstbewusstseins, was sich in Äußerungen wie: "Was interessiert das schon die anderen, was ich da so mache?" widerspiegelte. Dem konnten wir relativ einfach begegnen: "Wir sind ein Unternehmen, wir sind ein Team! Aus welchem Grunde sollte das, was Du/Ihr tut, nicht für alle relevant sein?" Die Erfahrung zeigt, dass es darauf keine vernünftige Antwort gibt. Denn gerade das Kontextwissen sorgt für die Befähigung zu unternehmerischen Entscheidungen.
- Letztlich war ein wesentlicher Faktor für die Akzeptanz die Leichtgewichtigkeit, mittels derer die Transparenz der Arbeitsstände geschaffen werden konnte. Niemand hat ernsthaft Spaß am Reporting. Wir lösten die Herausforderung durch ein transparentes, teils selbstentwickeltes, teils eingekauftes Tooling, welches weniger dem Reporting, sondern dem eigenen Tracking des Arbeitsfortschritts der Teams diente. Die Sicht darauf wurde für alle öffentlich, die Teams mussten nichts explizit reporten, sondern es galt das Pull-Prinzip. Wer etwas wissen wollte, konnte ja nachschauen. Im Falle von Prozessänderungen, internen Projekten, von der Regel abweichenden Maßnahmen, besonderen Erfolgen o. Ä. in einem Team oder auch übergreifend regten wir an, auf die Ergebnisse gesondert hinzuweisen und etablierten hierfür eine gemeinsame Kommunikationsplattform im Unternehmen.
Wer etwas wissen wollte, konnte ja nachschauen.
Wir haben für uns erkannt, dass nur die Offenheit jedes Einzelnen für alle die Basis schafft, das Gesamtgeschehen im Unternehmen auch verstehen zu können. Und Menschen, die das Gesamtgeschehen überblicken, sind eher in der Lage, unabhängige, unternehmerische Entscheidungen zu treffen und hierfür auch die Verantwortung zu übernehmen.
Schaffung von Solidarität und Identität
Mit der Transparenz über die täglichen Herausforderungen der Arbeit in den Rollen eines jeden Einzelnen wuchs auch das gegenseitige Verständnis. Wenn ich erfasst habe, warum ein Mensch handelt, wie er handelt, weil ich seine Schlüsse auf Basis der gemeinsamen Informationsgrundlage nachvollziehen kann, bin ich viel eher bereit, im Zweifel sogar die unangenehmen Auswirkungen seiner Entscheidungen auf meine eigene Person in Kauf zu nehmen. Weil ich verstanden habe, dass es nicht anders geht und ich selber auch keinen besseren Vorschlag entwickeln kann. Die Transparenz sorgte dafür, dass aus dem Problem des anderen ein gemeinsames Problem wurde. Silos, die durch Wissensmonopole formiert wurden, lösten sich auf.
Darüber hinaus wirkte sie identitätsbildend: Die Mitarbeiter empfanden mehr und mehr, Teil eines größeren Ganzen zu sein – im Guten wie im Schlechten. Was mit dem Einreißen von Mauern zwischen Abteilungen beginnt – die zumeist aus gegenseitigen Missverständnissen bestehen –, entwickelte sich mit der Zeit zu einer echten Unternehmensidentität.
Der Weg wird bereitet
Ich stellte diesem Artikel im Titel die These voran, dass es ohne Transparenz nicht gehen würde. Was geht nicht ohne Transparenz? Ich behaupte, dass Transparenz in der Absolutheit, wie wir sie praktiziert haben, nicht nur in unserem Fall, sondern generell maßgeblich für den Erfolg einer agilen Transformation ist.
Transparenz findet sich in dem Wertesystem agilen Arbeitens nur mittelbar wieder. Dennoch ist sie aus meiner Perspektive für jede Organisation entscheidend, um ein agiles Wertesystem überhaupt ins Leben zu rufen.
Rekapitulieren wir noch einmal, was die Transparenz bewirkt:
- Transparenz trägt (wesentlich) zur Entwicklung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Führungskräften und Mitarbeitern sowie innerhalb des Kollegiums selbst bei. Insbesondere die "negative" Transparenz – die Transparenz im Falle eines Scheiterns – ist entscheidend, denn sie ist ausschlaggebend für die Entwicklung einer neuen Fehlerkultur.
- Die damit einhergehende Wissensvermittlung verringert den Informationsvorsprung des Managements. Die Kompetenz der Mitarbeiter wird entwickelt und damit die Befähigung, eigenverantwortlich zu handeln. Die Bereitschaft zur Delegation steigt.
- Transparenz reißt Silos in der Organisation ein, die häufig durch Wissensmonopole gebildet werden.
- Schließlich befördert Transparenz die Entwicklung einer Unternehmensidentität und einer übergreifenden Solidarität in der Organisation.
Vertrauen, Fehlerkultur, Befähigung zum eigenverantwortlichen Handeln und Delegationsbereitschaft stellen grundlegende Voraussetzungen zur Entwicklung einer Kultur dar, die Selbstorganisation im agilen Sinne wertschätzt, Experimente zulässt und in der lebenslanges Lernen als maßgeblich anerkannt wird. Identität und Solidarität sind entscheidend für fokussiertes und teamorientiertes Handeln.
Agiles Arbeiten setzt all das voraus. Und damit bin ich wieder bei der These meines Titels: Ohne Transparenz geht es nicht.
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