Beyond Agile – Wie sich Organisationen für morgen aufstellen müssen
Organisationen mit digitalen Produkten und Diensten setzen heute auf agile Softwareentwicklung. Im Kontext der Digitalen Transformation reicht "klassische" Agilität nicht aus. Auf den IT-Tagen 2018 haben Andreas Lohmann und Markus L. Dechert von Accso ihre Sicht auf die Themen "Beyond Agile" und "Digital Design" gegeben. Im Interview erläutern sie den Zusammenhang und die Relevanz dieser Themen und zeigen eine Perspektive für agile Organisationen auf.
Informatik Aktuell: Worum geht es Ihnen?
Markus Dechert: Organisationen existieren heute in digitalen Ökosystemen. Die Digitalisierung ermöglicht eine engere und effizientere Vernetzung zwischen Unternehmen und Märkten und fördert Geschäftsmodell-Innovation durch neue, digitale Wertschöpfungsketten. Die sog. API-Economy ist hierfür ein gutes Beispiel. Sie beschreibt geschäftliches Handeln und Prozesse, die über Softwareschnittstellen (APIs) abgebildet werden. Hierdurch begegnen sich die Marktteilnehmer viel eher auf Augenhöhe. Insbesondere bei digitalen Produkten und Diensten verliert die Größe des Anbieters an Bedeutung. Was zählt, ist die Fähigkeit und Geschwindigkeit, auf Veränderungen angemessen zu reagieren.
Wir beobachten, dass erfolgreiche Organisationen jeder Größe dabei stark auf Prinzipien setzen, die dem Lean-Start-up-Modell entstammen. Diese Prinzipien umfassen das Initiieren von Veränderung, validiertes Lernen über das eigene Produkt in einem schnellen Lernzyklus und die enge Einbeziehung echter Nutzer in die Produktentwicklung. Diese Prinzipien machen eine Organisation dynamikrobust, also reaktionsfähig im ständigen Wandel.
Mit "Beyond Agile" möchten wir "klassisch" agilen Organisationen einen Weg aufzeigen, wie sie aus ihrer Welt der Softwareentwicklung in die Welt der digitalen Produkte und Dienste gelangen und dort wettbewerbsfähig bleiben.
Informatik Aktuell: Was meinen Sie mit "klassischer" Agilität und was verbirgt sich hinter dem Begriff "Beyond Agile"?
Markus Dechert: Die "klassische" Agilität folgt dem Agilen Manifest und zielt darauf ab, bessere Wege zu finden, um Software zu entwickeln. Das Manifest entstand vor 17 Jahren und es hat seither viel bewegt in unseren Köpfen und Organisationen. Aber wir stoßen damit an Grenzen. Wir sollen mit Nutzern und Kunden zusammenarbeiten. Stattdessen sprechen wir häufig nur mit Fachexperten, z. B. Product Ownern, und arbeiten mit ihren unvalidierten Annahmen über die Probleme und Bedürfnisse der echten Nutzer. Außerdem: wie sollen wir Innovationen treiben, wenn wir bloß auf Veränderungen reagieren, statt sie anzustoßen?
Digitale Produkte und Dienste müssen vom Nutzer geliebt werden und für das Geschäft einträglich sein.
Mit "Beyond Agile" transportieren wir ein Mindset und Prinzipien für die Entwicklung von Organisationen, die digitale Produkte und Dienste nach der Idee des Digital Design erfolgreich gestalten wollen. Ein wichtiger Bestandteil darin ist die evolutionäre Übertragung der Erfolgsprinzipen von Lean-Start-up auf das Agile Manifest. Kent Beck, einer der Väter des Agilen Manifests, hat 2011 bereits das Beyond Agile Manifesto formuliert und war damit seiner Zeit voraus [1]. Unter anderem stehen darin: "Wir schätzen [...] Initiieren von Veränderung mehr als das Reagieren auf Veränderung (mehr als auf das Befolgen des Plans), Entdecken von Nutzern und Kunden mehr als Zusammenarbeit mit dem Kunden (mehr als Vertragsverhandlung) und Validiertes Lernen über das Produkt mehr als funktionierende Software (mehr als ausführliche Dokumentation)".
Informatik Aktuell: Warum sollten sich Entscheider heute damit auseinandersetzen?
Markus Dechert: Wir haben heute verstanden, dass wir ernsthaft nutzerzentriert und initiativ agieren müssen sowie ganzheitlich denken müssen. Digitale Produkte und Dienste bestehen nicht nur aus einer technisch machbaren Software-Lösung. Sie müssen vom Nutzer geliebt werden (im Sinne von Human Desirability) und für das Geschäft einträglich sein (im Sinne von Business Viability).
Neben Software-Engineering-Kompetenz spielen also Kompetenzen im Design Thinking sowie im UX-Design eine entscheidende Rolle. Design meint nicht hübsch machen. Design wird zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Das zeigt auch eine im Oktober veröffentlichte McKinsey-Studie [2]. Hierzu passend wurde vor wenigen Wochen das Digital-Design-Manifest durch den Bitkom veröffentlicht [3]. Dieses Manifest begreift Digital Design sogar als eigene Profession. Organisationen von morgen werden so aufgestellt sein, dass ihre explorativ ausgerichteten Anteile (z. B. Innovation Labs) aus Digital-Design-Teams bestehen. Wie der Weg und das Ziel in die Digitalisierung aussieht, ist für jede Organisation unterschiedlich. Organisationen drücken ihr "Wollen" aus, indem sie ein Veränderungsvorhaben anstoßen. Die Digitalisierung zu wollen, heißt also, Ziel und Weg des individuellen Change grob zu bestimmen und die ersten Schritte zu wagen.
Informatik Aktuell: Was verbirgt sich hinter Digital Design?
Andreas Lohmann: Digitalisierung zu wollen ist die Basis, das Ziel von Digital Design ist es, das "Können" zu unterstützen, indem man auf die richtigen Skills und Arbeitweisen setzt. Dabei geht es um Interdisziplinarität, Ganzheitlichkeit und Gleichzeitigkeit bei der Gestaltung und Entwicklung digitaler Produkte. Anders ausgedrückt übernehmen wir eine Ende-zu-Ende-Sicht oder -Verantwortung, die auch Aspekte wie Nachhaltigkeit und Nebenwirkungen nicht außer Acht lässt. Für gutes Digital Design ist also Nutzerzentrierung wichtig aber nicht ausreichend. Gutes Digital Design sollte auch die Umwelt des Nutzers im Blick behalten, denn auch diese ist gerade durch die Digitalisierung einem immer schnelleren Wandel unterzogen.
Um alle Aspekte bei der Gestaltung von digitalen Produkten angemessen berücksichtigen zu können, braucht es Personen und Teams, die mehr als nur EIN sehr spezialisiertes Skill-Set haben. Ein Team von herausragenden Softwareentwicklern reicht nicht aus, um herausragende digitale Produkte zu kreieren. Das Design spielt hier eine mindestens gleichbedeutende Rolle.
Informatik Aktuell: D.h., Unternehmen müssen einfach Digital Designer statt Entwicklern einstellen, um gerüstet zu sein?
Andreas Lohmann: Ganz so einfach ist das natürlich nicht. Das Thema "Digital Design", so wie wir es hier verstehen, ist noch nicht ausreichend verbreitet. Der Bitkom hat sich ja gerade deshalb mit dem Arbeitskreis Digital Design zur Aufgabe gemacht, für das Thema in Wirtschaft, Politik und Ausbildung zu sensibilisieren. Die Initiative wirbt dafür, Digital Design als eigenständige Profession zu etablieren, Design in der IT und der Wirtschaft als relevanten Erfolgsfaktor zu verinnerlichen und den interdisziplinären Austausch zu stärken.
Dafür benötigen wir Experten, die sowohl das technische Handwerkszeug kennen, als auch die Gestaltungskompetenz in einem ganzheitlichen Sinne besitzen. Das Bild, das hier gerne verwendet wird, ist das der π-Shaped-Skills. Heute gibt es nur wenige Hochschulangebote, die das entsprechende Wissen und Mindset vermitteln, und in der Branche findet man diese Spezies hauptsächlich dort, wo genau der skizzierte Wandel schon begonnen hat oder sogar bereits etabliert ist.
Informatik Aktuell: Wie genau hängt die Rolle des Digtal Designers mit dem Beyond Agile Mindset zusammen?
Andreas Lohmann: Für "Beyond Agile" ist weniger das spezielle Rollenbild eines Digital Designers der wichtige Aspekt, sondern eher die Ideen und Themen, die man damit verbindet. D. h. das Bewusstsein darüber, welche Disziplinen, Tätigkeiten und Methoden bei der Gestaltung von digitalen Produkten und Diensten relevant sind und die Fähigkeit, zu erkennen, wann und wie diese Anwendung finden müssen. Dabei sind Fachleute ein Teil der Lösung, die sowohl im Engineering als auch in Designdisziplinen zu Hause sind. Gerade in bestehenden Organisationen und Teams muss allerdings ein ganzheitlicher und interdisziplinärer Ansatz durch eine entsprechende Kultur und Methoden der Zusammenarbeit ermöglicht werden.
Gutes Digital Design ist daher eine Aufgabe für Teams und Organisationen und nicht nur für einzelne Mitarbeiter mit einem ausgeprägten π-Shaped-Skill-Profil. Die Grenzen zwischen Disziplinen müssen durch gute Kommunikation und Kooperation verschwimmen und Nutzerzentrierung muss ein Leitgedanke sein – nicht nur für UX-Designer.
Informatik Aktuell: Man hört immer häufiger von Innovation Labs, Ausgründungen von Unternehmensinternen "Start-ups" u. ä. Sind das die Wege, um Innovationskultur in Unternehmen und Organisationen zu bekommen?
Andreas Lohmann: In der Tat ist das ein Trend gerade bei den größeren Unternehmen und in Konzernen. Ob das ein nachhaltiges Erfolgskonzept ist, muss wohl erst noch die Zeit zeigen. Es gibt auch erste Berichte darüber, dass Innovation Labs wieder geschlossen wurden oder das es schwierig ist, diese wieder einzugliedern. Ein Schnellboot für Innovation aus dem Boden zu stampfen befreit ja nicht von der Herausforderung, den Rest der Organisation fit für die Zukunft zu machen. Es finden sich aber auch erfolgreiche Beispiele.
Viel schwieriger ist es für Organisationen, die sich so einen Kraftakt nicht leisten können oder wollen. Diese stehen vor der Herausforderung, sich im laufenden Betrieb von innen heraus zu erneuern. Die Konzepte und Ideen hinter Beyond Agile und Digital Design können dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und Veränderungen anzustoßen, um in Zeiten einer immer schneller fortschreitenden Digitalisierung erfolgreich zu bleiben.
Und genau darauf haben wir unser Geschäftsfeld vitamin.d ausgerichtet. Zusammen mit unseren Kunden arbeiten wir daran, dass sie die Chancen der Digitalisierung aktiv nutzen. Gemeinsam kreieren wir Ideen als Basis für Innovation, realisieren innovative MVP (Minimum Viable Product) und gestalten mit dem Beyond-Agile-Ansatz individuelle, evolutionäre Change-Prozesse.
Markus Dechert: Das wichtigste für viele Kunden ist, initiativ ins Handeln zu kommen. Der Einstieg besteht darin, Status quo, Richtung und Leitplanken grob zu bestimmen und dann einfach mal die ersten Schritte zu wagen.
Informatik Aktuell: Vielen Dank für das Gespräch!
- Kent Beck: Beyond Agile Manifesto
- McKinsey-Studie: The business value of design
- Digital-Design-Manifest