Design Thinking – It’s a kind of Magic!
"Das ist Magie!" brach es im wahrsten Sinne des Wortes in der Feedbackrunde aus Derwish hervor. "Bis heute Mittag dachte ich noch, dass das alles hier im Chaos endet. Ich habe mich andauernd gefragt, wo das ganze hinführt. Niemals hätte ich gedacht, dass wir am Ende des Tages dann doch noch brauchbare Ergebnisse haben. Ich bin begeistert!"
Der 32-jährige Derwish ist als Entwickler für einen führenden deutschen Reiseveranstalter tätig. Er hatte das für ihn bisweilen zweifelhafte Vergnügen, zwei Tage lang gemeinsam mit 14 Kolleginnen und Kollegen an einem Design-Thinking-Workshop teilzunehmen. Gemeinsam sind sie durch die Höhen und Tiefen eines anscheinend ergebnisoffenen Prozesses gegangen. Ihr Auftrag: Die Entwicklung von Ideen für Lösungen, die eine reibungslose Kommunikation zwischen unterschiedlichen Einheiten des Unternehmens mit ihren Kundinnen und Kunden gewährleisten. Derwish war an diesen beiden Tagen nicht der Einzige, den die unkonventionelle Herangehensweise im Design Thinking zunächst verwirrt und dann aber positiv überrascht hat.
Ich möchte Ihnen in diesem Artikel zum einen vorstellen, wie ein Design-Thinking-Workshop verläuft. Sie erhalten dadurch nicht nur einen Überblick über alle Phasen, sondern erfahren auch, zu welchen Irritationen es kommen kann und wo Design Thinking Mehrwert schafft.
Design Thinking – Methode, Werkzeug, Prozess oder Mindset?
Zunächst einmal ist Design Thinking ein Werkzeug aus dem Innovationsmanagement. Dieses Werkzeug hat auch Derwish und seine Teamkollegen dabei unterstützt, neue Ideen für Geschäftsmodelle, Dienstleistungen, Produkte, Softwarelösungen und Prozesse zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen der Kunden orientieren.
Entwickelt wurde die Methode von dem Informatiker Terry Winograd, Larry Leifer (Stanford University) und David Kelley, letzterer Gründer der Design- und Innovationsagentur IDEO in Palo Alto [1]. Erforschung und Umsetzung dieses Konzepts werden durch das Hasso-Plattner-Institut im Rahmen der d.school in Potsdam gefördert [2].
Methode, Werkzeug, Prozess oder Mindset? Design Thinking ist von allem ein bisschen – vor allem aber ein Mindset, also eine Haltung, die eingenommen wird. Design Thinking schult Empathie und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, um sich in den Nutzer eines Produktes, einer Dienstleistung oder eines Prozesses einfühlen zu können. Innerhalb kürzester Zeit entwickeln Design Thinker aus Ideen Prototypen, die getestet und iterativ verbessert werden. Über 300 Methoden gibt es, die in den einzelnen Phasen angewendet werden können. Die d.school stellt diese übrigens kostenlos zum Download zur Verfügung.
Was mich immer wieder beeindruckt ist die Tatsache, dass Design Thinking ein äußerst kraftvolles Tool ist, um unterschiedlichste Charaktere eines Teams miteinander in konstruktive, wertschätzende und lösungsorientierte Arbeit zu bringen. Hierarchieebenen lösen sich auf, die Menschen begegnen sich offen und auf Augenhöhe, sind bereit, von einander zu lernen und entdecken ihre lang verschüttete Kreativität wieder. Davon aber später mehr.
Design Thinking unterstützt die Akteure also dabei, herauszufinden, welche Bedürfnisse das Gegenüber hat und welche Probleme es lösen will. Auf Grundlage dessen entwickeln Teams aus Ideen Prototypen für innovative Lösungen zu vorab definierten Fragestellungen, den sogenannten Design Challenges.
Was ist denn eine Design Challenge?
"Wie kann ich für die Leserinnen und Leser von Informatik Aktuell einen Artikel zum Thema Design Thinking verfassen, aus dem sie für sich interessante Erkenntnisse ziehen können?" So oder so ähnlich klang die Design Challenge in meinem Kopf, als ich anfing, mich mit dem Schreiben dieses Artikels zu verfassen (Teams, die mich beim Finden von Lösungen für diese Fragestellung unterstützen, habe ich allerdings nicht aufgestellt, das wäre doch ein bisschen zu weit gegangen....).
Die Design Challenge – also die Fragestellung, die im Workshop von den Teams gelöst werden soll – definieren wir vorab in einem oder auch mehreren Briefinggesprächen mit unserem Kunden. Die Fragestellung wird stets nutzerorientiert formuliert, sie sollte nicht zu konkret gefasst sein, sondern Raum für Explorationen durch die Teammitglieder lassen. Die Challenge ist dadurch lösungsorientiert, aber nicht lösungsoffen.
Derwish, der oben kurz vorgestellte Entwickler beim Reiseveranstalter, befasste sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen bspw. mit folgender Fragestellung: "Wie können wir für unsere Kunden das Reisebuchungserlebnis noch positiver gestalten, um zukünftig Beschwerden zu verringern?"
Wird das Problem also im Sinne des Reisenden gelöst, schlägt man noch weitere Fliegen mit gleicher Klappe: Die Kolleginnen und Kollegen werden entlastet und können sich wertschöpfend um andere Aufgaben kümmern. Und das Management spart Kosten und kann möglicherweise neue Services oder Produkte anbieten.
Was brauchen wir denn, um einen Design-Thinking-Workshop durchzuführen?
Place
Ein großer Raum mit Stehtischen und einigen Barhockern darin wäre toll. Einen Großteil der Zeit verbringen wir nämlich stehend. Das hilft dem Gehirn beim Denken und verhindert Trägheit. Alle sollen sich frei bewegen können. Wenn der Raum groß genug ist, schieben wir Tische und Stühle auch einfach nur zur Seite. Sehr wichtig sind glatte Flächen, an denen Post its haften. Am besten Fenster, da kleben die bunten Zettel, von denen man Unmengen benötigt, am besten. Und zur Inspiration können alle den Blick mal nach draußen schweifen lassen. Gerne genommen sind auch Metaplanwände oder Whiteboards und das obligatorische Flipchart. Laptop und Beamer unterstützen Ihren Coach bei der Präsentation des theoretischen Inputs. Textmarker zum Beschriften der Zettel gehören ebenfalls zum notwendigen Equipment.
Meine kleine Prototypenwerkstatt habe ich übrigens auch immer dabei – meine Kolleginnen und Kollegen amüsieren sich über mich, wenn ich mit meinem Karton auf Reisen gehe. Der ist befüllt mit Lego, Knete, Pfeifenreinigern, Draht, Wolle, Pappe und Dingen, die andere Menschen auf den Müll werfen würden – und Ihnen aber beim Prototypenbau das notwenige Material liefern, um Ihre innovativen Ideen greifbar zu machen.
People
Sehr wichtig sind natürlich die Menschen. Laden Sie Kolleginnen und Kollegen ein, die aus unterschiedlichen Abteilungen kommen. Um wertschöpfend zu arbeiten und gewinnbringende Ideen zu generieren, brauchen wir interdisziplinäre Teams. Wir brauchen Experten und solche, die – mit Verlaub – von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Das sind nämlich diejenigen, die die neuen Impulse mitbringen, weil sie Fragen stellen. Entscheidungsträger sollten dabei sein und Menschen, die Ihr Produkt oder Ihre Dienstleistung im Anschluss vermarkten sollen. Wird es "Irgendwas mit Internet" so sollten UX-Designer und Entwickler mit an Bord sein. Und rund wird das Ganze, wenn Sie Ihre Kunden bitten, beim Workshop dabei zu sein. Schließlich sind Ihre Kunden diejenigen, deren Bedürfnisse Sie erfüllen wollen!
Mindset
Statt Prozess und zur Erinnerung, bevor wir gleich starten: Ihre Empathie und Ihr Einfühlungsvermögen sind gefragt! Zurück also zu Derwish und seinen Kolleginnen und Kollegen...
Jetzt geht es los!
Der Ort, an dem der Workshop stattfinden soll, ist hergerichtet. Kaffee, Tee und Kaltgetränke stehen bereit. Ein Obstkorb lockt mit stärkenden Vitaminen, der ein oder andere Schokoriegel wird über den Tag auch mal als Nervennahrung gebraucht, die Brötchen für den mittäglichen Snack sind geordert.
Die Teilnehmenden trudeln ein. Etwas müde noch, aber neugierig und gespannt. Wir, drei Coaches, haben insgesamt drei Arbeitsinseln mit den dafür notwendigen Materialien hergerichtet. Wir starten mit einer moderierten Vorstellungsrunde – nicht alle kennen sich, und uns ist es wichtig, dass sich die Teammitglieder ausführlich mit ihrem Background und ihren Kompetenzen vorstellen. Wir schlagen das Workshop-Du vor – alle sind einverstanden. Das Workshop-Du erleichtert das Arbeiten auf Augenhöhe, und es ist allen klar, das Chefin oder Chef im Anschluss wieder gesiezt werden.
Derwish und seine Kollegen verteilen sich dann jeweils zu fünft an den Arbeitsinseln. Bereits im Briefinggespräch haben wir darum gebeten, dass Daniel, der Projektleiter, die Teams möglichst divers zusammenstellt. Die nächste halbe Stunde ist der grauen Theorie gewidmet, in der wir die Teams einmal in Kurzform fitmachen – Sie erinnern sich? Design Thinking – Methode, Werkzeug, Prozess oder Mindset? Und dann geht es auch schon los mit der Phase 1 – Verstehen.
Phase 1: Verstehen
"Wie können wir für unsere Kunden das Reisebuchungserlebnis noch positiver gestalten, um zukünftig Beschwerden zu verringern?" So lautet die Design Challenge, mit der sich die drei Teams des Reiseveranstalters in den kommenden zwei Tagen auseinander setzen werden. Die Fragestellung ist allen Anwesenden seit geraumer Zeit bekannt. Ratlosigkeit macht sich breit.
"Wer sind denn unsere Kunden?" fragt Petra. "Das ist doch alles viel zu schwammig!", "Reisebuchungserlebnis? Wo fängt das denn an, und wo hört es auf?" fragt der zweite Mutige. "Diese Beschwerden nerven tatsächlich...", bemerkt Claudia, die ein Reisebüro leitet. "Und eigentlich kümmern wir uns doch immer super um unsere Kunden, was sollen wir denn da noch positiver gestalten?", "Puh, jetzt müssen wir da schon wieder drüber diskutieren – wollten wir nicht eine technische Lösung für dieses Problem?" so Derwish. "Genau! Was haltet Ihr davon, einen Chatbot zu entwickeln, über den wir herausfiltern können, welches Problem der Kunde hat?“, so eine Entwicklerkollegin.
Sie haben richtig gelesen – allen war die Challenge im Vorfeld bekannt. Warum kommen denn jetzt solche Fragen, fragen Sie sich? Meiner Erfahrung nach entsteht in Phase 1 immer dieser gewisse Widerstand, sich mit einer vermeintlich banalen Frage auseinanderzusetzen, an der die Beteiligten im Zweifel schon seit Monaten herumdenken. Aber genau dieses Beispiel hilft den Teams auf die Sprünge – genau das sind die Fragen, die sie sich gegenseitig stellen sollen. Ein erstes Aha-Erlebnis stellt sich ein. Und die Leute kommen miteinander ins Gespräch, tauschen Meinungen und Erfahrungen aus und lernen sich darüber gegenseitig besser kennen. Erste beschriftete Post-its werden auf die Metaplanwände oder Fensterscheiben geklebt. Wir Coaches unterstützen die Design Thinker in der ersten Phase außerdem dabei, NICHT in Lösungen zu denken. Das ist die zweite Herausforderung, die in den Phasen 1 bis 3, die wir auch Problemphase nennen, fortwährend geübt wird.
In Phase 1 wächst das Team schon einmal ein Stück zusammen, findet einen Konsens über die Fragestellung und schafft dadurch eine gemeinsame Grundlage für das weitere Vorgehen. Die Teammitglieder werden zu Problemexperten.
Phase 2: Beobachten
Nach ca. 45 Minuten schließen wir die Phase 1 ab. Die Design Thinker haben sich u. a. auch damit beschäftigt, wer ihre Kunden sind und festgestellt, dass es sowohl interne als auch externe Kunden gibt. Fokussieren wollen sie sich aber an diesem Tag auf externe Kunden, die wir im Vorfeld zu diesem Termin eingeladen haben, um sie zu ihren Nutzungsgewohnheiten und Wünschen bei Reisebuchungen zu befragen.
"Irgendwie fühle ich mich nicht wohl dabei, mit Fremden über unsere internen Probleme zu sprechen und sie dann auch noch zu bitten, uns bei der Lösung zu helfen", so Daniel, der Projektleiter, der auch unser Hauptansprechpartner in der Vorbereitungsphase war. "Und vor allem, wer hat denn wochentags überhaupt Zeit für sowas?"
Was würden Sie davon halten, wenn wir Sie bitten würden, Kunden zu einem Design-Thinking-Workshop einzuladen, um sie zu Ihrem Produkt oder Ihrer Dienstleistung zu befragen? Sie kennen Ihre Kunden gut und brauchen gar nicht mit ihnen zu sprechen? Sie werden überrascht sein! Das, was Sie zu wissen glauben, sind lediglich Annahmen, die erst im Gespräch mit Ihren Kunden zur Wahrheit werden. Oder Sie werden eines besseren belehrt, wie unsere Reiseveranstalter.
Bevor unsere Gäste – Boris (24, Student), Holger (32, berufstätig) und Rebecca (64, Ruheständlerin) – zu uns stoßen, werden die Teams gebrieft, wie sie wertschöpfende Fragen rund um unsere Design Challenge stellen können. Die Fragen müssen offen formuliert sein, sie sollen die Interviewpartner zum Nachdenken bringen und Emotionen sichtbar machen. Die Teams haben eine einladende Atmosphäre geschaffen, sie haben Getränke bereitgestellt und begrüßen unsere potentiellen Kunden herzlich.
Die Teammitglieder übernehmen während des Gesprächs verschiedene Aufgaben: Daniel, der Projektleiter, der während des zweitätigen Workshops dabei ist, skizziert die Interviewten, Claudia macht Notizen zu Mimik, Gestik und Haltung, Derwish stellt die Fragen, und Petra notiert die Antworten.
Die Interviews dauern pro Person ca. 20 Minuten und alle drei Teams bekommen die Gelegenheit, mit allen drei Interviewpartnern zu sprechen. Danach essen wir gemeinsam Mittag – das Flying Lunch mit leckeren knusprigen Brötchen findet im Workshop-Raum statt und dauert maximal eine halbe Stunde. Danach werden Rebecca, Boris und Holger vorerst verabschiedet. Wir werden sie am nächsten Tag wiedersehen. Dann werden sie die bis dahin entwickelten Prototypen testen.
Es war nicht nur hörbar, sondern auch spürbar: Alle Akteure sind in gutem Kontakt miteinander. Eine gute Grundlage für den Start in Phase 3. Und die hat es in sich.
Phase 3: Sichtweise definieren
Die dritte Phase des Design-Thinking-Prozesses beginnt mit der Synchronisation des in den ersten beiden Phasen generierten Wissens. Auch das eigene Erleben während der Interviews wird thematisiert. "Ich habe irgendwie gar nichts von den Antworten mitgekriegt...", bemerkt Claudia, die für das Festhalten von Mimik, Gestik und Haltung zuständig war. "Witzig! Mir ging’s genauso!" bestätigt Daniel Claudias Wahrnehmung.
Bei der Einführung in Phase 2 fanden es die meisten Teammitglieder befremdlich, zu fünft einen einzigen Menschen zu interviewen. "Wir wirken doch bestimmt wie eine Schrankwand, der arme Mensch traut sich doch bestimmt gar nicht, uns irgendetwas zu erzählen!" ist eine altbekannte Einschätzung von Design-Thinking-Newbies. Jetzt wird unseren Teams aber klar, warum sie Front gemacht haben: Jeder von ihnen konnte sich voll und ganz auf seine Aufgabe fokussieren. Alleine oder zu zweit könnte man eine Person unmöglich so detailliert erfassen.
Teams wundern sich außerdem häufig darüber, dass Leute bereit sind, ihre kostbare Zeit dafür zu verschwenden, Fragen von wildfremden Menschen zu beantworten. Ein weiteres Aha-Erlebnis wird formuliert: "Ich hatte den Eindruck, dass sich unsere Interviewpartner in erster Linie darüber gefreut haben, dass wir ihnen Fragen stellen und ihnen zuhören. Damit hätte ich nicht gerechnet." so Derwish.
Meiner Erfahrung nach sind 80 Prozent aller Menschen, mit denen wir im Rahmen eines Design-Thinking-Workshops sprechen, tatsächlich dankbar dafür, dass sich jemand für sie und ihre Bedürfnisse interessiert. Fassen Sie sich doch jetzt einmal kurz an die eigene Nase: Wie hoch ist Ihr Redebeitrag in Gesprächen? Stellen Sie Ihrem Kunden Fragen, um seine Bedürfnisse besser zu verstehen? Haken Sie auch mal nach, wenn Sie etwas, das Ihnen Ihr Partner erzählt hat, nicht richtig verstanden haben? Und hören Sie aufmerksam zu? Wer nur über sich selber spricht, lernt nichts Neues dazu, da nicht auf dem Wissen des Gegenübers aufgebaut werden kann. Und wer im eigenen Saft schmort, kommt selten auf innovative Ideen.
Die überraschendste Erkenntnis war allerdings für alle Teammitglieder folgende: Rebecca, unsere 64-jährige Interviewpartnerin möchte via WhatsApp über all das, was ihre Reise betrifft, informiert werden. Während des Austausch in Phase 1 (Verstehen), waren sich die Teilnehmenden einig, dass Personen über 50 den persönlichen Austausch im Reisebüro oder via E-Mail bevorzugen.
Aus den gesammelten Information kreieren die Teams nun eine Persona, die detailliert beschrieben wird. Wie alt ist sie? Welches Geschlecht hat sie? Ist die Persona verheiratet oder ledig? Hat sie Kinder? Treibt sie gerne Sport? Geht sie gerne auf Reisen? Was macht sie beruflich? Welche Ziele und Bedürfnisse hat sie? Von welchen Problemen wird sie privat und beruflich geplagt? Und welche Alternativen hat sie, um ihre Probleme zu lösen?
Je präziser wir die Persona beschreiben, desto besser können wir uns in sie einfühlen. Unser Team um Derwish schafft Leon Y., 27 Jahre alt und fußballbegeistert. Leon ist online-affin, ein sogenannter Digital Native, der eine hohe Bereitschaft zeigt, personenbezogene Daten zu teilen. Leon legt großen Wert auf Ehrlichkeit und Transparenz. Wenn er eine Reise bucht, so tut er das drei bis vier Monate im Voraus. Er ist zeitlich flexibel. Leon sucht nicht nach einem bestimmten Reiseziel, sondern lässt sich gerne von Online-Angeboten inspirieren.
Leon agiert eigenverantwortlich und hat gleichzeitig das Bedürfnis, Dinge zu steuern. Von seinem Reiseveranstalter erwartet er qualitativ hochwertige Informationen, die er schnell erhält und die auf ihn zugeschnitten sind. Leon ist genervt, wenn er mit Informationen überladen wird und hat keine Lust, Bewertungen für bereits empfangene Leistungen abzugeben. Erfüllt sein Reiseveranstalter seine Erwartungen nicht, wird Leon – unwillig zwar – selbst aktiv.
Wenn unsere Persona mit Leben gefüllt ist, kommen wir ihr im nächsten Schritt noch ein Stück näher. Mit der "Definition der Sichtweise" (Point of View), emotionalisieren wir Leons Bedürfnis dadurch, dass wir es in eine Metapher umwandeln. Wir malen quasi ein Bild seiner tiefsten Wünsche. Und das funktioniert so:
- Leon Y. (Nutzer/ Persona) braucht einen zuverlässigen, transparenten, selbstbestimmbaren Info-Kanal (Bedürfnis), weil er eigenständig entscheiden möchte (Erkenntnis).
- Für Leon Y. (Nutzer/ Persona) ist sein Bedürfnis nach Selbstständigkeit wie ein Driver Seat (Problem/ Metapher).
- Wie können wir Leon Y. (Nutzer/ Persona), seinen Driver Seat (Problem/ Metapher) zur gewünschten Zeit und maßgeschneidert hinbeamen?
"Was soll das denn jetzt? Und was hat das mit unserer Challenge zu tun?" fragen Sie sich jetzt vielleicht. Das tun die Teilnehmenden eines Design-Thinking-Workshops auch häufig. Das Malen von Bildern, also das Verpacken eines Bedürfnisses in eine Metapher, hilft uns dabei, uns unserer Persona noch stärker zu nähern und sie vollumfänglich zu verstehen. Das Denken in Bildern fällt vielen Menschen schwer, Zahlen und Fakten bestimmen das tägliche Tun. Durch diese Übung wird letztendlich auch die Kreativität geschürt, die uns in Phase 4 bei der Generierung der Ideen zur Lösung von Leons Wünschen helfen wird.
Phase 4: Ideen finden
Mit dem Eintritt in die Phase 4 verlassen wir den Problemraum und begeben uns in den Lösungsraum. Unsere Design Thinker werden aufgefordert, in Stillarbeit und innerhalb einer halben Stunde pro Team mindestens 100 Ideen zur Lösung der Probleme ihrer Personas zu visualisieren. Schreiben ist nicht erlaubt, es sollen kleine Skizzen der Ideen auf Post-its angelegt werden. "Ich kann nicht malen!" heißt es häufig. Da wir Coaches an dieser Stelle sehr streng sind, malen die meisten der Teilnehmenden doch und stellen fest, dass es eigentlich ganz einfach ist und auch das Gegenüber auf Anhieb versteht, was skizziert wurde. Bilder sagen eben mehr als 1000 Worte! In dieser Phase geht es um Quantität und nicht um Qualität. Es werden sowohl realisierbare als auch visionäre Ideen notiert. Vielfalt ist gewünscht. Die Ideen werden dann im Team vorgestellt und geclustert. Mit Klebepunkten (jeder Teilnehmende drei Stück), wird dann die Idee priorisiert, die in einen Prototypen umgesetzt werden soll.
"Sollen wir jetzt eigentlich Ideen entwickeln, die uns helfen, einen Driver Seat für Leon Y. zu bauen," fragt Petra, "oder geht es um Ideen, um unsere Design Challenge zu lösen?" So dicht, wie wir jetzt an unsere Persona herangerückt sind, haben wir uns vermeintlich von unserer ursächlichen Fragestellung entfernt. Ich überlasse den Teams die Entscheidung. Erneut macht sich Verwirrung breit, aber in Zeiten der dauerhaften Destabilisierung ist das eine formidable Übung, zu lernen, Unsicherheiten auszuhalten...
Für die Metapher des Driver Seats finden sich in der Ideensammlung viele Vehikel: Es sind Raumschiffe und Ufos zu sehen, Flugzeuge und Busse, es wird gebeamt und es gibt sogar einen Engel, der Leon Y. zur Hilfe eilt. Aber auch realistische Transportwege hatte das Team in Sinn: Das Telefon, die E-Mail, eine App, um unserer Persona Leon Y Informationen maßgeschneidert zukommen zu lassen. Das Team priorisiert als Idee zur Lösung von Leons Bedürfnis eine App, die er individuell einrichten kann. Darüber erhält unsere Persona Informationen individualisiert, komprimiert und zeitnah.
Phase 5: Prototypen entwickeln
Bei der Entwicklung der Prototypen ist ebenfalls Kreativität gefragt. Die Teams werden eingeladen, sich an den Materialkisten, Zeichenmaterialien und Mobiliar zu bedienen und ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen. Es ist spannend zu beobachten, wie der Spieltrieb erwacht und wie schnell Rollenspiele, Customer Journeys oder Rauminstallationen entstehen.
Unser Team rund um Leon simuliert Leons Wohnzimmer und malt am Flipchart ein großes Smartphone auf, auf dessen Startseite bereits die App seines Reiseveranstalters zu sehen ist.
Ein spannender erster Tag geht zu Ende.
Phase 6: Testen
Am nächsten Morgen geben unsere Design Thinker ihren Prototypen den letzten Schliff, bevor unsere Interviewpartner vom Vortag – Rebecca, Boris und Holger – gemeinsam zum Testen erscheinen.
Im Vorfeld haben sich die Teammitglieder wieder darauf geeinigt, wer die Rolle des Beobachters und des Protokollanten übernimmt. Unsere Tester sind gebeten, jeden einzelnen Schritt bei der Nutzung unserer analogen App laut zu beschreiben.
Daniel umreisst erst einmal die Szenerie: Leon will gemeinsam mit seinem Vater und seiner Mutter auf Reisen geht und bucht für alle Beteiligten eine Reise auf seiner Rundum-Sorglos-App. Kurz vor der Reise benötigt er nun aktualisierte Informationen. Rebecca übernimmt die Rolle der Mutter, Boris spielt Leon und Holger dessen Vater. Schauspielerisches Talent ist gefragt, aber unsere Tester sind geborene Akteure. Schnell finden sie sich in die Situation ein.
Leon steht am Flipchart und blättert um: Zunächst hat er die Wahl, wie er von seinem Reisebüro informiert werden will. Leon kann wählen zwischen E-Mail, Facebook-Messenger, WhatsApp, Telefon, SMS, Gedankenübertragung und dem Portal des Reiseveranstalters. Leon möchte via WhatsApp benachrichtigt werden. Ein Klick (oder Umblättern) und Leon hat nun die Auswahl, wie viele Tage vorher er über Flugzeitenänderungen, Änderungen bezüglich seines Hotels oder sonstige Änderungen informiert werden möchte. Das Team hat Regler simuliert – rote Magneten, die auf dem Flipchart haften, werden von Leon hin- und her bewegt, bis er die Anzahl der Tage justiert hat. Boris-Leon und alle Anwesenden haben sichtlich Spaß an der Sache... Noch eine weitere Seite auf dem Flipchart wird umgeblättert und Leon erhält einen Überblick über seine Traumreise. Bei Bedarf bekommt er weiterführende Informationen zu seinem Flug, seinem Hotel, seinem Mietwagen, zu seinem Transfer, zu seinen Ausflügen und über seine Reiseversicherung. Sollte er doch einmal ein Telefonat führen oder eine E-Mail schreiben wollen, gibt es einen Button, der ihn umgehend zu seinen Ansprechpartnern führt. Und da Leon nicht mit irrelevanten Informationen versorgt werden will, wählt er den Pull-Modus auf seiner Rundum-Sorglos-App.
Dadurch, dass Boris-Leon jeden einzelnen Schritt laut beschreibt, lernt das Team recht schnell, was am Prototypen verändert werden muss. Alle Teilnehmenden, so auch die Tester, sind eingeladen, Fragen zu stellen und zu kommentieren. Das hilft ebenfalls weiter, unseren Dummy nutzerorientiert weiter zu entwickeln.
Vom Prototypen zur nutzerorientierter Produktvision
Natürlich werden auch die anderen Prototypen bespielt und getestet. Am Ende einigt sich das Team darauf, eine Produktvision zu entwickeln, die alle während des Workshops entwickelten Personas glücklich machen wird.
Das Ziel des Reiseveranstalters in der Zukunft: Wir wollen alle Kunden individuell und bedarfsgerecht über Änderungen ihrer Reiseplanungen informieren.
Wir schaffen es sogar, erste Meilensteine und To-dos festzulegen. Aus den 15 Teilnehmenden formiert sich rasch eine interdisziplinäre Truppe, die das Thema konzernintern weitertreiben will. Alle, nicht nur Daniel, der Projektleiter, sind ausgesprochen zufrieden mit dem Ergebnis: Die Teilnehmenden haben einen guten Überblick über die Methodik erhalten. Es gibt eine klare Produktvision, die technisch mit den Ressourcen im Hause umsetzbar ist. Es gibt Menschen, die sich verantwortlich für die Weiterentwicklung fühlen. Kolleginnen und Kollegen, die sich vorher nicht kannten, sind wertschöpfend und auf Augenhöhe näher zusammengerückt und haben einen gemeinsamen Konsens gefunden. Das Silo- und Liniendenken wurde durch die Interdisziplinarität bei der Zusammenstellung der Teams aufgehoben. Sie haben von einander gelernt und begriffen, dass Annahmen über andere Menschen erst im Gespräch bestätigt werden müssen. Sie haben ganz nebenbei ihre Kreativität wieder entdeckt, sie waren verwirrt und haben sich doch vertrauensvoll auf einen Prozess, auf eine Methode und auf ein Mindset eingelassen, das einen permanenten Perspektivwechsel erfordert. Und das ist Magie!