Struktur folgt Strategie
Oder: Warum die Produktivitätssteigerung durch IT-Projekte oft hinter den Erwartungen zurück bleibt.
Ich sitze beim Kunden im Auftragsklärungsgespräch. Der Kunde, das ist ein mittelständisches, inhabergeführtes Unternehmen im Großraum Frankfurt mit ungefähr 200 Mitarbeitern. Würde ich die Branche nennen, könnte man den Kunden erraten. In unserem Gespräch dreht es sich um das Wachstum des Unternehmens, um Geschäftsprozesse, Projekte und IT-Strategie. Das sind die Themen, zu denen ich oft zu Auftraggebern gerufen werde. In diesem Fall hat mich der neu eingestellte Produktmanager kontaktiert. Er wurde in das Unternehmen geholt, um die Abläufe im Produktmanagement des Unternehmens zu ordnen und zu professionalisieren. Damit gehört er zu den drei Führungskräften, die neuerdings eine mittlere Ebene im Unternehmen bilden sollen. Bislang hat der Inhaber die Geschäfte weitgehend alleine geführt.
Was der Produktmanager an IT-Landschaft vorgefunden hat, ließ ihn staunen und stutzen. Er zweifelte an der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Über Empfehlungen gelangte er zu mir, stellte den Kontakt zum Geschäftsführer her und nun sitze ich hier. Was zuerst noch danach aussah, als müssten nur einige IT-Projekte koordiniert werden, stellt sich rasch in ganz anderem Licht dar. Ich erfahre vom Geschäftsmodell des Unternehmens, höre von den Abläufen in und zwischen den Abteilungen. Wie es scheint, wird in dieser Firma weitgehend über Office-Dateien und Gruppenlaufwerke kommuniziert und kollaboriert. Und hier wird immens viel ausgedruckt und wieder abgetippt – in den Erzählungen des Geschäftsführers über den Arbeitsalltag reiht sich ein Medienbruch an den nächsten.
Ich erfahre von den vielen Projekten, die Insellösungen schaffen. Jeweils für sich genommen haben die Projekte durchaus anspruchsvolle Inhalte. Doch keines der Vorhaben ist mit den anderen verzahnt. Hier gibt es ein Projekt für die Entwicklung einer App, mit der Logistikdienste gesteuert werden sollten. Dort gibt es ein Projekt zur Einführung eines Product Information Management Systems (PIM). Das vorhandene ERP-System wird nur in Teilen genutzt und ansonsten durch halbautomatische Excel-Lösungen ersetzt.
Mittlerweile staune auch ich und stelle Fragen: Wohin wollen Sie das Unternehmen entwickeln, was passiert in den nächsten fünf Jahren? Wer sind Ihre Kunden heute, wer werden Ihre Kunden in der Zukunft sein? Was wollen die derzeit von Ihnen, welche Kundenprobleme müssen Sie künftig lösen können? Mit welchen Produkten und Dienstleistungen? Auf die meisten Fragen weiß der Inhaber keine stimmige Antwort.
Ein kurzer Ausflug in die Geschichte: Der amerikanische Ökonom Alfred D. Chandler hat 1962 sein Werk "Strategy and Structure" veröffentlicht [1]. Darin erklärt er die Entwicklung und Unternehmensorganisation von Konzernen wie DuPont, Exxon und General Motors und beschreibt, warum sie zu ihrer Zeit so erfolgreich waren. Chandler postuliert, dass die Entwicklung der Management-Strukturen eines Unternehmens den Anforderungen von dessen Strategie folgen müsse. Sprich, ein Unternehmen muss so aufgebaut und organisiert werden, dass es die Umsetzung seiner Strategie ermöglicht: Struktur folgt Strategie.
Im Laufe der Zeit haben sich die heute gängigen und bekannten Strukturen wie z. B. Linien-, Matrix- und projektbasierte Organisation etabliert. Die Struktur dieser Aufbauorganisationen schafft Klarheit, stiftet Sicherheit und Zugehörigkeitsgefühl, ordnet Arbeitsabläufe und Informationsströme.
Viele Unternehmen passen ihre Strategie zu selten oder gar nicht an veränderte Umwelten an.
Es gibt jedoch nicht nur Befürworter der Chandlerschen Lehre. Kritiker sagen, das Modell vereinfache zu stark. Wenn die relevanten Umwelten eines Unternehmens sich veränderten und damit auch eine Änderung der Strategie erforderten, passe die vorhandene Struktur nicht mehr. Eine zu starre Struktur kann beispielsweise hemmen, wenn flexibles Handeln erforderlich ist. Insbesondere große Konzerne brauchen zu lange, um einen einmal eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen. Das Bild vom Supertanker mit mehreren Kilometern Bremsweg drängt sich auf.
Hinzu kommt, dass viele Unternehmen ihre Strategie zu selten oder gar nicht an veränderte Umwelten anpassen. Klassisch passiert das bei wachsenden Unternehmen, die als Folge von aktuellem Markterfolg (geplant oder ungeplant) auf die Schnelle neue Organisationsformen, neue Prozesse und neue Tools benötigen. Sinngemäß gilt das natürlich auch für schrumpfende Organisationen, bei denen die alten Abläufe den veränderten Gegebenheiten nicht mehr entsprechen. Manches Unternehmen hat sich auch mit 5.000 Mitarbeitern noch die Strukturen und Abläufe bewahrt, die es in früheren Zeiten mit 50.000 Mitarbeitern hatte.
Wenn jetzt also das Unternehmen unerwarteten Erfolg hat, kommt schnell der Wunsch nach Automatisierung und Flexibilisierung auf. Von da aus ist es dann nicht mehr weit zu den Gedanken: "Wir brauchen ein Software-Tool, wir müssen automatisieren, wir wollen weg von Papier und Bleistift, raus aus der Excel-Hölle." Nun braucht es nicht nur eine zur Unternehmensstrategie passende Aufbauorganisation. Nun braucht es auch eine zur Unternehmensstrategie passende IT-Strategie, von der sich dann die Projekte ableiten lassen.
Genau, wie es jetzt mein Kunde gerade erlebt. Er hatte sich von seinem persönlichen Umfeld treiben lassen, zum Teil auch auf die falschen Einflüsterer gehört. Hat sich Software-Lizenzen verkaufen lassen, ohne die Projektinhalte und die Integration in vorhandene Infrastruktur zu kennen. Hat sich von Hypes blenden lassen und falsche Entscheidungen getroffen.
Zurück in die Gegenwart: Der Geschäftsführer und ich vereinbaren, dass wir vor der Neuordnung und Straffung der vorhandenen Projekte zunächst einen Strategieworkshop durchführen. Darin werden wir in einem Industrievorausblick ein Bild von den Kunden der Zukunft entwerfen und erarbeiten, welche Fragen und Anforderungen diese Kunden haben werden. Mit dieser neuen Kundenorientierung fällt es dem Unternehmer dann viel leichter, seine strategischen Ziele zu formulieren und davon seinen IT-Bedarf abzuleiten. Die Verbindung zwischen der vorhandenen Infrastruktur und den neu zu schaffenden Teilen wird ihm offensichtlich. Die Prioritäten seiner Projekte erscheinen ihm klar und stimmig, ganz von selbst erkennt er nun, worin er investieren und welche Ideen er verwerfen muss.
Als nächsten Schritt vereinbaren wir, die Abläufe und Prozesse in seinem Unternehmen in ihrem jetzigen Ist-Zustand aufzunehmen und in BPMN (Business Process Model and Notation) [2] zu dokumentieren. Mithilfe der visualisierten Prozessmodelle erkennen seine Mitarbeiter sehr schnell die Redundanzen und Brüche in ihren Abläufen. Schnittstellen zwischen den am Prozess beteiligten Abteilungen werden offensichtlich und die Frage nach Zuständigkeit und Verantwortung fällt immer öfter. Und weil die BPMN-Notation verhältnismäßig eingängig ist, fällt auch den Fachanwendern rasch auf, wenn sich bei der gemeinsamen Modellierung ein Fehler eingeschlichen hat.
Aus den Prozessmodellen und der IT-Strategie werden wir in einem folgenden Schritt die funktionalen und nicht-funktionalen Anforderungen an die künftige Infrastruktur erfassen können. Dem Geschäftsführer ist inzwischen klar, dass er sich eigenes Wissen für die Konzeption und Steuerung seiner IT-Projekte aufbauen muss. Zu lange hat er sich lediglich einen Teilzeit-Administrator geleistet, der zwar den Betrieb der eigenen Server aufrecht erhalten und regelmäßig Backups gemacht hat. Doch eine strategische Planung und Unterstützung der Geschäftsziele durfte man von diesem Dienstleister nicht erwarten.
Wenn ich die Projekte Revue passieren lasse, zu denen ich in den letzten Jahren gerufen wurde, dann zieht sich ein Thema als roter Faden hindurch: fehlende (IT-)Strategie. Gerade in technisch geprägten Unternehmen gibt es Projekte, in denen IT als Selbstzweck betrieben wird, die technische Machbarkeit im Vordergrund steht und der Kundennutzen völlig aus dem Fokus gerät.
In nicht-technischen Branchen werden manche Projekte ins Leben gerufen, um "irgendwie" die Abläufe mithilfe von IT zu erleichtern. Man mag es kaum glauben, aber in manchen Branchen wird noch ausgeprägt papiergestützt gearbeitet. Dort ist dann der Wunsch nach Arbeitserleichterung durch den Einsatz von IT so stark, dass sich Aktionismus bei der Auswahl eines Tools Bahnen bricht. Da fällt in mittelständischen Unternehmen die Entscheidung für eine Lösung schon einmal auf dem Golfplatz und ist nicht das Ergebnis eines Auswahlprozesses, der sich an den Anforderungen der Anwender orientiert.
Wenn man nur einen Hammer kennt, sehen alle Probleme wie Nägel aus.
Und selbst wenn eine solche Vorauswahl durch ein multifunktionales Fachteam getroffen wurde, habe ich schon Geschäftsführer erlebt, die die Arbeit ihrer Mitarbeiter einfach ignorieren. Dann wird die Entscheidung für eine andere Lösung gefällt, als die vom Team empfohlene. Zum Beispiel, weil ihnen die Präsentation vom Anbieter besser gefallen hat. Deren Lösung lässt sich manchmal entweder gar nicht in die vorhandene Infrastruktur integrieren oder nur unter erheblichem Mehraufwand.
Das Nicht-Wissen des Managements bei gleichzeitig ausgeprägter Entscheidungsfreude ist in meiner Beobachtung ein starker Faktor für das Scheitern von IT-Projekten. Oder: "Wenn man nur einen Hammer kennt, sehen alle Probleme wie Nägel aus". Da wird dann schon einmal beherzt draufgehauen, wo eine Schraub- oder Klebeverbindung die bessere Wahl gewesen wäre.
Mitarbeiter kommen aus ihrer Komfortzone in die Lernzone, andere in ihre Panikzone.
Und dann ist da noch die Sache mit der Kultur. Dem Ökonom Peter Drucker wird das Zitat "Culture eats Strategy for Breakfast" nachgesagt. Damit ist gemeint, dass manche Unternehmensstrategie in ihrer Umsetzung an den Beharrungskräften scheitern, die eine Firmenkultur entwickeln kann. Viele Unternehmenslenker vergessen, bei der Verfolgung ihrer Strategien die Belegschaft in den Überlegungs- und Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Dabei könnten sie durchaus gewarnt sein. Zehn Jahre alt ist die Erkenntnis von Forrester, dass über die Hälfte der ITSM-Projekte an der Haltung und dem Verhalten der Belegschaft, letztlich also der Unternehmenskultur scheitert [3].
Noch älter ist die Untersuchung von Brynjolfsson und Hitt, die nachgewiesen haben, dass eine Investition in die IT-Landschaft eines Unternehmens nur dann dessen Produktivität steigert, wenn sie von angemessenen Maßnahmen in Training, Schulung und Kulturveränderung begleitet wird [4]. Als optimal für die Produktivität hat sich damals ein Verhältnis von 1:10 erwiesen, wissenschaftlich belegt. Für jeden Euro Hard- und Software müssten also zehn weitere Euro für Schulung und Veränderungsmanagement ausgegeben werden, wenn das Unternehmen den maximalen Nutzen aus der Investition ziehen will. Ich habe schon viele IT-Projekte in Unternehmen gesehen, aber noch keines, in dem dieses Verhältnis auch nur annähernd erreicht worden wäre. Ein Verhältnis von 1:1 würde mich schon positiv überraschen, in der Regel liegt es eher bei 1:0,0x.
Veränderungen in Unternehmen, z. B. durch Einführung neuer Prozesse und Tools bei der Umsetzung der Unternehmensstrategie, bedeuten eine Herausforderung, die von den Mitarbeitern unterschiedlich wahrgenommen wird. Einige Mitarbeiter kommen aus ihrer Komfortzone heraus in die Lernzone. Andere geraten durch die neuen Anforderungen in ihre persönliche Panikzone und zeigen entweder Lähmungs- oder Fluchttendenzen. Wenn dann noch Gerüchte um die "Synergieeffekte" entstehen, die sich durch den Einsatz des neuen IT-Systemes ergeben, kann schon einmal eine komplette Abteilung blockieren.
All das müsste nicht sein, wenn die Leitung eines Unternehmens die Strategie mit ihren Mitarbeitern und Führungskräften regelmäßig gemeinsam entwickeln, zumindest aber angemessen kommunizieren würde. Dann ließe sich an der richtigen Struktur der Organisation mit ihren Abläufen und Prozessen und der adäquaten IT-Unterstützung arbeiten.
- Wikipedia: Alfred D. Chandler junior
- Wikipedia: Business Process Model and Notation (BPMN)
- Forrester Research, 2006: ITIL Simulators Demonstrate The Value Of Process Models
- Hitt, M. A., 1998: Managing Strategically in an interconnected World