Fehlt es ausgerechnet der IT an digitaler Kompetenz?
Warum die IT immer häufiger die digitale Transformation in Unternehmen blockiert
Die IT-Welt ist unter Druck. Das klingt nach keiner großen Neuigkeit, denn neue Trends und Entwicklungen waren schon immer Teil dieser Domäne. Betrachten wir allerdings die Häufigkeit und das Ausmaß der Veränderung, die heute aufgrund der digitalen Transformation zu beobachten sind, wird klar, dass es um weit mehr als um den zyklischen Wandel der IT-Landschaft geht. Mitarbeiter und Führungskräfte innerhalb der IT scheinen mit den Entwicklungen der digitalen Transformation teilweise überfordert: Immer mehr Applikationen, eine kaum zu bändigende Datenflut, hohe Ansprüche der Nutzer und ehemals vertraute Prozesse werden radikal in Frage gestellt. Das Ergebnis: Die IT verliert zunehmend ihre gestalterische Vorreiterrolle und die Umsetzungsgeschwindigkeit digitaler Projekte ist an vielen Stellen zu gering. Fehlt es ausgerechnet der IT an digitaler Kompetenz?
Mittlerweile hat kaum ein Unternehmen nicht irgendein digitales Projekt umgesetzt und das Thema zumindest ansatzweise in strategische Überlegungen integriert: Von Assistenzsystemen über kollaborative Robotik bis hin zu Cloud-Plattformen und XaaS-Geschäftsmodellen ist vieles in der Diskussion. Die Old Economy versucht sich zunehmend an den Ideen der mächtigen Technologieunternehmen wie Amazon, Alibaba, Google oder Tencent zu orientieren, die immer mehr Marktsegmente attackieren. Dabei stehen traditionelle Branchen mehr denn je vor der Herausforderung, mit den ständigen Entwicklungen Schritt zu halten, die das Bestandsgeschäft in Frage stellen. Das Konzept der Industrie 4.0 ist ein gutes Beispiel dafür, wie Unternehmen nun versuchen, sich neu zu erfinden. Letztlich geht es um die Frage, wie man sich trotz immer ähnlicheren Anbietern zukünftig differenzieren und eine Wettbewerbsposition erarbeiten kann, die auf Gesamtlösungen und nicht auf Einzelprodukten basiert. Die exponentiellen Wachstumskurven digitaler Technologien beschleunigen dabei das Spiel zusätzlich, was innerhalb der Unternehmen massiv zu Schwierigkeiten führt, die historisch gewachsenen Strukturen und Geschäftsmodelle kontinuierlich an die neuen Anforderungen anzupassen. Ein neues Verständnis für Prozesse, Produkte und Arbeitsstrukturen wird benötigt, neue Fähigkeiten sind erforderlich.
IT in der Industrie 4.0: Ungelöste Hausaufgaben
Die Frage, was all das mit IT und den entsprechenden Abteilungen zu tun hat, erscheint trivial, da es bei Digitalprojekten im Kern natürlich um viele IT-Themen geht, gerade wenn datengetriebene Geschäftsmodelle extrem an Bedeutung gewinnen. Allerdings wird die Antwort bei genauerer Betrachtung noch deutlich komplizierter. IT im Kontext der Digitalisierung muss weit mehr sein als nur die Auswahl und Implementierung geeigneter Systeme und Tools – doch ist sich die IT darüber schon im Klaren?
Eigentlich hätte der IT nichts Besseres passieren können als der Hype um die digitale Transformation.
Lassen Sie uns von vorne beginnen. Nach mittlerweile etlichen Jahren intensiver Diskussionen zur digitalen Transformation in den Unternehmen, muss festgestellt werden, dass die IT-Funktion in vielen Fällen keineswegs als Innovator wahrgenommen wird, geschweige denn als zentraler Treiber der Digitalisierung innerhalb der Organisation. Das erscheint paradox, denn eigentlich hätte der IT nichts Besseres passieren können als der Hype um die digitale Transformation, der für reichlich neue Arbeit sorgt.
Allerdings wirken die IT-Abteilungen in vielen Unternehmen als Getriebene, die den gestalterischen Aufgaben hinterherrennen, anstatt als treibende Kraft die digitale Großwetterlage vorzugeben. Woran liegt das?
Sicherlich liegt ein Teil der Wahrheit auch darin, dass in manchen Unternehmen immer noch ein rückwärtsgewandtes IT-Verständnis vorherrscht, bei dem die IT vom Management und auch von anderen Fachabteilungen in erster Linie als Kostenpunkt für Dinge gesehen wird, die einfach nur funktionieren sollen. Die Erkenntnis, dass sich IT – sofern richtig eingesetzt – zu einem Umsatzgenerator verwandeln kann, fehlt mancherorts schlichtweg. Denken wir zum Beispiel an IT-getriebene Produktinnovationen, die darauf abzielen, Kunden mit Hilfe von Daten frühzeitig und vorausschauend zu verstehen und zu erahnen, was sie künftig brauchen, noch bevor sie es selbst wissen. Die IT kann mit ausreichenden "Pitstops" und geschicktem "Tuning" von Systemen und Anwendungen ein Unternehmen zu einem "Rennwagen" machen, das schneller die Ziellinie zum Kunden überquert. Gerade deshalb sollte sie viel stärker als strategischer Wertschöpfer verstanden werden. Dabei hilft es natürlich nicht, dass in vielen Unternehmen zu wenig Personal im IT Bereich vorhanden ist – laut einer Studie der Bitkom geben zumindest 82 Prozent von den befragten Unternehmen an, Stellen schwer besetzen zu können [1].
Doch die eigentlichen Probleme der IT sind nicht bei "den Anderen" zu suchen, sondern in der eigenen Ausrichtung und den eigenen Verhaltensweisen. Zeugnisse, die der IT ausgestellt werden, fallen vermehrt negativ aus. Laut einer Studie von Horvath & Partners wird IT in 77 Prozent der Unternehmen lediglich als technische Funktion wahrgenommen, nur 10 Prozent sehen IT als uneingeschränkte kundenorientierte Serviceorganisation und nur in 6 Prozent der Unternehmen schreibt man der IT die proaktive Erarbeitung von Innovationen für die Fachbereiche zu [2]. Die Mehrheit der Unternehmen sehen ihre eigenen IT-Abteilung als viel zu passiv und wenig proaktiv an.
Hinter den blumigen Use-Case-Vorstellungen der Digitalisierung zeigen sich im Kern zahlreiche offene IT-Probleme, die seit Jahren diskutiert aber noch immer nicht konsequent gelöst werden. Viele Anwendungsfälle in den Marketingbroschüren von Industrie 4.0 und Co. setzen IT-Bedingungen voraus, die in den wenigsten Unternehmen erfüllt sind. Fragen Sie einfach mal diverse Kollegen Ihrer Wahl, wie flexibel und nutzerzentriert die heutige IT-Struktur ihres Unternehmens empfunden wird, wie viele Medienbrüche es gibt und wie intuitiv die Nutzung ist. Die Antworten auf diese Fragen fallen in den allermeisten Fällen überaus durchwachsen aus, um es mal diplomatisch zu formulieren. Quintessenz: Mitarbeiter müssen den starren Bedürfnissen gewachsener IT-Strukturen folgen, anstatt dass sich IT-Strukturen an den heutigen Bedürfnissen eines modernen Unternehmens orientieren. Was heute gebraucht wird sind beispielsweise IT-Anwendungen, die sich schnell an neue Prozesse anpassen lassen und die den manuellen Aufwand von Routineaufgaben minimieren. Doch bis dato konnte die IT die viel zu große Schnittstellenvielfalt sowie die geringe Integration der unterschiedlichen IT-Systeme nur unzureichend lösen. Im Kern folgt die Unternehmens-IT auch heute noch der Logik einer schlecht verknüpften IT-Pyramide, die überaus reaktiv, proprietär und wenig flexibel ausgestaltet ist.
In weiten Teilen der Industrie fehlt es ebenso an einer bereichsübergreifenden Stammdatenstruktur, die zur Beschreibung von Maschinen, Werkzeugen und Prozessen notwendig ist und die Voraussetzung einer echten Service-orientierten Architektur (SOA) darstellt, die wiederum ein zentraler Bestandteil von flexiblen Fertigungsumgebungen ist. Ebenso setzt der überall gehypte digitale Zwilling zwangsläufig ein hohes Niveau bei der Stammdatenverfügbarkeit voraus, um überhaupt mal die ersten Schritte in diese Richtung gehen zu können. Ähnliches gilt für eine konsistente Datenstrategie, in der die Ausgestaltung von Prozessen und Infrastrukturfragen für das Datenmanagement so festgelegt sind, dass Daten als zentraler Rohstoff unternehmensweit und systematisch genutzt werden können. Generell ist die Datenqualität in weiten Teilen der Industrie auf einem äußerst niedrigen Niveau, wodurch viele Prozessverbesserungspotenziale oder Geschäftsmodellideen massiv ausgebremst werden. Teilweise können Daten schon allein deswegen nicht konsistent gesammelt werden, weil die dafür notwendigen Prozesse, infrastrukturellen Voraussetzungen und Verantwortlichkeiten nicht existieren.
Quo vadis IT? Operator oder Enabler?
Der eine oder andere Leser mag an dieser Stelle argumentieren, dass es doch genügend Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt gibt, die viele der genannten Herausforderungen lösbar machen. Und in der Tat kann man heute eigentlich keine IT-Fachzeitschrift mehr lesen, ohne über neue Use Cases für die Digitalisierung oder über Artikel wie "5 Tipps, um dieses oder jenes Digital-Problem zu lösen" zu stolpern. Doch liegt nicht gerade hierin das Paradoxon der Situation? Es scheint alle erdenklichen Lösungen zu geben, aber dennoch ist deren praxistaugliche Implementierung noch immer sehr schleppend.
Eine Erklärung kann darin gesehen werden, dass es bei der Bewältigung der oben beschriebenen Probleme schon lange nicht mehr nur um technische Parameter geht, bei denen die IT mit ihrer Schlüsselkompetenz auftrumpfen kann. Im Mittelpunkt stehen agilere Formen des IT-Rollouts, ganzheitliches Change-Management, Web-Applikationen und kreative Lösungen mit einer hohen Nutzerzentrierung. Doch anstatt Themen wie diese progressiv zu besetzen, verbarrikadiert sich die IT zu oft hinter ihrem klassischen Aufgabenspektrum, das zweifelsohne viele Kapazitäten frisst, allerdings nicht besonders wertstiftend ist. Vor allem übersehen IT-Entscheider dabei die Notwendigkeit zur umfassenden Repositionierung hinsichtlich der eigenen Aufgaben und Rollen im Unternehmen. Für Industrie 4.0 und die oben beschriebenen "Hausaufgaben" ist beispielsweise eine der dringlichsten Fragen darin zu sehen, wie die zukünftige Aufteilung zwischen IT, OT und Automatisierung aussehen sollte. Im Grunde genommen sind diese Bereiche schon heute kaum trennbar und werden zukünftig eine noch weitaus konsequentere Verzahnung benötigen, um die geforderte vertikale und horizontale Integration zu erreichen. Derzeit deutet viel darauf hin, dass die Querschnittsaufgaben zur Implementierung cyber-physischer Produktionssysteme eben nicht unter der Federführung der IT abgewickelt werden, sondern im Hoheitsgebiet von Produktion und Automatisierung bleiben.
Das hat zur Folge, dass der IT-Funktion im klassischen Sinne ein Bedeutungsverlust droht, da die genannten Aufgaben zunehmend von neu geschaffenen Digital-Querfunktionen sowie von dezentralen digitalen Speerspitzen aus den jeweiligen Fachbereichen wahrgenommen werden. Noch viel schlimmer ist die Tatsache, dass es der IT nicht nur an Proaktivität fehlt, sondern ihr vielfach sogar die Bremser-Rolle bei neuen Digital-Projekten zukommt. Fachabteilungen beklagen immer häufiger, dass neue Ideen in Bezug auf Tools, Applikationen und Nutzererlebnis ausgebremst werden, da die IT zunächst einmal argumentiert, warum etwas nicht funktionieren kann und dass Abweichungen von bestimmten Prozessen schlichtweg unmöglich sind. Eine Verhaltensweise, die letzten Endes den gesamten Transformationsprozess eines Unternehmens blockiert. Diese häufig vorgefundene Einstellung in IT-Abteilungen widerspricht dem ursprünglichen Innovationsgeist dieser Berufsgruppe, die sich immer wieder neu erfinden musste, nach vorne schaute und Softwarekorrekturen im Rahmen von Updates vornahm, weshalb Software erst zum Innovationstreiber überhaupt werden konnte.
IT-Kompetenz gleich digitaler Kompetenz?
Woran liegt es also, dass viele IT-Abteilungen so schwerfällig geworden sind? Einerseits ist die IT in einer gewissen Komfortzone, da die Dinge bisher funktioniert haben und Außenstehende sowieso wenig Einblick in die komplexen, gewachsenen IT-Strukturen haben. Andererseits entsteht der Eindruck, dass die IT mit manchen Entwicklungen nicht mehr mithalten kann oder sogar eine Art Kontrollverlust befürchtet, weshalb kritische Themen wenn nicht adressiert, dann zumindest aber nicht forciert werden.
Dieser Tendenz begegnen immer mehr Unternehmen durch Ansätze wie der bimodalen IT. Aus technischer, enger Betrachtungsweise wird hiermit versucht, die Notwendigkeit stabiler IT-Systeme vom Experimentierraum für komplett neue Ansätze abzutrennen.
IT-Kompetenz ist nicht mit digitaler Kompetenz gleichzusetzen.
Drückt man es allerdings ganz undiplomatisch aus, so steht hinter diesem blumigen Konzept im Kern nicht weniger als die Loslösung der eigentlichen digitalen Transformationsaufgaben, die ein hohes Maß an Umsetzungsgeschwindigkeit, Gestaltungswillen und Innovationskraft benötigen, von der klassischen IT und den damit verbundenen Strukturen und Denkweisen. Führt man diesen Ansatz konsequent weiter, wird die IT im heutigen Sinne letztlich mit einem Aufgabenspektrum zurückgelassen, das sich vor allem auf die Verwaltung von Legacy-Infrastrukturen beschränkt, die in absehbarer Zeit sowieso abgelöst werden.
Aus diesen Entwicklungen ergibt sich, dass IT-Kompetenz nicht mit digitaler Kompetenz gleichzusetzen ist. Eine IT-Abteilung, die in der Vergangenheit großartige Arbeit geleistet hat, ist nicht zwangsläufig schon darauf ausgerichtet, die digitale Transformation vollumfänglich zu gestalten – das gilt natürlich nicht nur für die IT, sondern für viele andere Unternehmensbereiche auch.
Natürlich wäre gerade die IT dafür prädestiniert, hier eine größere Rolle einzunehmen, da sie grundsätzlich auf viel Erfahrung und ein starkes technisches Verständnis aufbauen könnte. Gleichwohl scheinen bestehende IT-Kompetenzen zu eng gefasst, um die gestalterische Rolle der digitalen Transformation zu übernehmen. Insofern muss sich die IT die Frage stellen, welche Kompetenzen sie zukünftig benötigt, um digitale Fragestellungen ganzheitlich lösen zu können. Oder anders gesagt: der frühere Transformator muss sich nun selbst transformieren. Ein zukünftiges Kompetenzmodell für die IT wird deutlich breiter ausgerichtet sein müssen als bisher: Datengetriebene Geschäftsmodelle haben andere Infrastrukturvoraussetzungen, das Change-Management wird zum kritischen Erfolgsfaktor und neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion benötigen Einblicke in Psychologie, Organisationsstrukturen und Arbeitsmodelle. Die IT muss in der Lage sein, zumindest die Grundzusammenhänge in diesen Perspektiven zu verstehen, wenn sie zukünftig der Bereich sein möchte, der in der Breite eines Unternehmens als Vordenker, Coach und Visionär agiert.
Moderne IT-Teams benötigten daher nicht mehr nur die typischen produktzentrierten Schulungen von Hardware- und Softwareherstellern, die häufig eher Verkaufsveranstaltungen als echte Qualifizierungen darstellen, sondern echte Kompetenzentwicklungspfade, die sie methodisch, sozial und fachlich auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereiten. Erst wenn die IT die digitale Transformation als Ganzes verstanden hat, kann sie auch ihre neue Positionierung im Unternehmen der Zukunft definieren und ausfüllen.
Das überall gepredigte lebenslange Lernen muss somit insbesondere für die IT institutionalisiert werden. Die jeweiligen IT-Bereiche benötigen dazu individuelle Lernpfade, die als Ganzes eine neue Kompetenzarchitektur für die IT widerspiegeln. Eine solche Zielsetzung benötigt mehr als nur vereinzelte Schulungen, sie setzt letztlich einen ganzheitlichen Corporate-Learning-Ansatz voraus, der Mitarbeitern und Führungskräften über modularisierte E-Learning-Nuggets flexiblen Zugang zum benötigten Know-how verschafft. Hierbei darf es nicht nur um die üblichen Digital-Themen à la IoT, Big Data und Blockchain gehen, sondern vor allem auch um den benötigten Kulturwandel. Dazu gehört auch, dass diese Upskilling-Maßnahmen mit anderen Unternehmensbereichen sinnvoll verzahnt sind, um damit auch den Abbau der Silos in den Köpfen der Fachbereiche zu bewirken.
Zweifelsohne ist der systematische Kompetenzaufbau nur der erste Schritt für die "Neuerfindung" der IT. Allerdings kann damit ein Prozess ausgelöst werden, der nicht nur für ein kurzes "Update" sorgt, sondern eine nachhaltige Veränderung des IT-Selbstverständnisses initiiert. Die IT muss raus aus der Versenkung und wieder Innovator des Rennautos werden, das uns mit einer hohen Geschwindigkeit in die Zukunft fährt. Dazu braucht sie den richtigen Treibstoff. Unternehmen müssen erkennen, dass selbst ihre gefühlten "Digital Natives" weiterhin lernen müssen, um "Digital Natives" zu bleiben und um damit ihrer strategischen Rolle langfristig gerecht werden zu können.