Herr der Hypes: Die richtige Anwendung für Technologietrends
Technologien sind zentrale Treiber von Innovation. Doch viel zu oft entstehen neue Angebote ohne Rücksicht auf Nutzen und Relevanz. Das geht besser.
Technologietrends sind Fluch und Segen zugleich. Während die einen euphorisiert auf jede neue Möglichkeit aufspringen und enthusiastisch rumprobieren, fühlen sich die anderen überfordert und manchmal auch abgehängt. Doch egal, ob die Auseinandersetzung mit Technologie regelmäßig und bewusst erfolgt oder doch nur dann, wenn sie nicht mehr zu ignorieren sind: Es ist nicht einfach zu bewerten, ob ein Trend wirklich relevant ist und dauerhaft weiter besteht oder ob es sich nur um einen Hype handelt.
"Unternehmen mit Marktneuheiten sind bis zu 60% erfolgreicher." [1]
Dabei lohnt es sich durchaus, Trendtechnologien im Auge zu behalten. Denn sie sind häufig ein guter Treiber für innovative Produkte und Services. Das Problem ist nur, aus der Technologie selbst lässt sich kaum ihre Relevanz ableiten. Die entsteht im Besonderen daraus, dass ein Nutzen für eine ausreichend große Gruppe von Menschen geschaffen wird. Und Nutzen ergibt sich üblicherweise aus Bedürfnisbefriedigung.
Wenn ich also die Relevanz einer Technologie bewerten möchte, reicht ein Blick auf die Technologie und was sie alles kann nicht aus. Ich muss auch die Brücke schlagen zu aktuell offenen, unbefriedigten Bedürfnissen von echten Menschen. Wir empfehlen daher ein einfaches, aber doch effizientes Vorgehen zur Überprüfung neuer Technologien auf Anwendbarkeit in vier Schritten:
- Verständnis für aktuelle Technologien und ihren Entwicklungsstand aufbauen,
- Verständnis für die anvisierte Zielgruppe entwickeln,
- Ideen zur Lösung mithilfe einer gewählten Technologie entwickeln und
- Ideen mithilfe von einfachen Prototypen testen.
Verständnis für aktuelle Technologien aufbauen
Die meisten Menschen treffen auf eine neue Technologie im Rahmen eines aktuellen Hypes. Das heißt in einer Phase der übersteigerten Erwartungen und aufgebauschten Aufmerksamkeit. Treiber solcher Hypes sind die eingangs bereits erwähnte Angst, etwas zu verpassen, aber natürlich grundsätzlich auch Neugier. Beides wird zusätzlich befeuert durch mediale Berichterstattung, die wechselweise das eine oder das andere aufgreifen.
Um eine sinnvolle, vielleicht sogar zukunftsrelevante Entscheidung zu treffen, sind solche Hypes nicht besonders zielführend. Hier hilft eher ein nüchterner, analytischer Blick zum Beispiel unterstützt durch einen aktuellen Trendradar. Dieser ordnet die Technologie ein und gibt ergänzende Informationen.
Der Gartner Hype Cycle
Ich persönlich bin großer Fan des Gartner Hype Cycles. Dieser gibt Aufschluss darüber, in welcher Phase des Hypes sich eine Technologie derzeit befindet und wann zu erwarten ist, dass sie ausgereift ist.
Der Hype Cycle besteht aus zwei Kurven: Der Erwartungskurve (steil ansteigend und steil abfallend) sowie der Verwertbarkeitskurve (flach ansteigen bis zu einem Plateau). In Kombination bilden sie den Hype Cycle. Dabei ist der erste Teil der Kurve geprägt von einer zunächst sehr steil ansteigenden Erwartungen, die nach Überschreiten eines Höhepunkts beinahe genauso stark wieder abfällt.
Wenn der Hype vorbei ist, wird es interessant. Dann sehen wir im hinteren Teil den Grad der aktuellen Verwertbarkeit. Ist eine Technologie hier angekommen, gibt es bereits einige erfolgreiche Anwendungsfälle, die ihrerseits natürlich zur Weiterentwicklung der Technologie beitragen. Je weiter hinten auf der Kurve, desto reifer ist die Technologie und desto mehr kann ich damit wirklich umsetzen.
Im Hype Cycle werden die aktuellen Technologien also zum einen in Bezug auf ihre Reife verortet. Zum anderen gibt er Aufschluss darüber, wie lang die Technologie noch brauchen wird, um am Ende des Hyp Cycles anzukommen, also eine gute Verwertbarkeit zu erreichen. Mit beiden Informationen lässt sich schon gut ableiten, inwiefern es sich für einen selbst bzw. das eigene Unternehmen lohnt, eine Technologie näher zu betrachten.
Die erste Phase des aufsteigenden Hypes ist eher etwas für Nerds. Wer sehr interessiert an neuer Technologie ist, liest und – je nach eigenem Wissensstand – fachsimpelt hier auch mit.
Wenn der erste Hype vorüber ist, die Kurve also wieder abfällt, ist es Zeit für technologische Vorreiter erste Prototypen zu möglichen Anwendungen zu bauen und zu testen. Hier geht es vor allem ums Lernen und noch nicht so sehr darum, schon ertragreiche Produkte und Geschäftsmodelle abzuleiten. Die hier entstehenden Prototypen und Tests sind eine gute Grundlage, um später einer der technologischen Vorreiter zu sein.
Insbesondere für Unternehmen, deren Produkte und Geschäftsmodell weniger stark davon abhängen, technologisch optimiert zu werden, ist erst die letzte Phase interessant. Dies ist der Fall, wenn technologische Neuerungen dazu genutzt werden, bestehende Services zu verbessern oder auch interne Prozesse zu optimieren. Hier hat die Technologie genug Reife, um in produktive Systeme integriert zu werden.
Tiefer einsteigen mit Fachartikeln und Experten
Wenn ich mich für eine genauere Betrachtung einer Technologie entschieden habe, geht es nun darum, mehr zur Technologie zu erfahren. Auch hier bieten die Trendforschungsinstitute wie Gartner – aber z. B. auch das Zukunftsinstitut oder Trendone gute Artikel und Paper für einen ersten Einstieg.
In Fachartikeln und Vorträgen kann das Wissen vertieft werden. Für die Early Birds, aber auch für die spätere Umsetzung empfehle ich auch immer die Teilnahme an Meetups oder vergleichbaren kleinen themenspezifischen Veranstaltungen. Diese bieten die Möglichkeit mit Experten direkt ins Gespräch zu kommen und auch spezifische Fragen zu klären.
Wer Zeit und Lust zum Experimentieren hat, kann in dieser Phase auch erste – noch nicht zielgerichtete – Prototypen bauen. Hierfür eignen sich insbesondere No-Code-Anwendungen. Diese können auch ohne tiefes technologisches Verständnis genutzt werden und ermöglichen es, ein praktisches Gefühl für eine Technologie und ihre Möglichkeiten zu bekommen.
Wenn ein gutes Grundverständnis für die Technologie besteht, wird es Zeit für den zweiten Schritt. Nämlich einen sinnvollen Anwendungsfall zu finden.
Verständnis für die anvisierte Zielgruppe entwickeln
Dieser zweite Schritt wird leider häufig übergangen. Und aus dem ersten, noch ziellosen Experimentieren wird schon ein konkreter Use Case abgeleitet. Dieser begeistert dann leider allzu oft nur die Ideengeber:innen, findet darüber hinaus aber wenig Anhänger:innen.
Dies ist aber nicht nur ärgerlich, es ist häufig auch ziemlich teuer und frisst unnötige Ressourcen. Daher werde ich nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, nicht sofort wilde Lösungsideen auf Basis der technologischen Möglichkeiten zu spinnen. Um wirklich relevante Ideen zu entwickeln, muss ich hier zunächst innehalten und schauen: Was brauchen Menschen gerade? Welche Probleme sind ungelöst? Welche Wünsche sind unerfüllt?
Value Proposition Canvas & Customer Journey
Aus der Design-Thinking-Toolbox gibt es hier eine Reihe von Möglichkeiten, diese Bedürfnisse meiner anvisierten Zielgruppe strukturiert zu erfassen. Eine Möglichkeit ist der sogenannte Value Proposition Canvas. Dieser eignet sich hervorragend, um komplett neue Produkte zu entwickeln oder auch bestehende weiterzuentwickeln.
Innerhalb des Value Proposition Canvas schaue ich mir an, welches die typischen Aufgaben (Jobs to be done) meiner Zielgruppe sind. Welche Probleme dabei auftreten und welche Wünsche. Zu diesen Problemen und Wünsche sammle ich dann im zweiten Schritt Ideen, um diese Probleme zu lösen oder Wünsche zu erfüllen. Daraus werden dann konkrete Produktideen abgeleitet, die die Aktivitäten meiner Zielgruppe erleichtern.
Wenn es darum geht, einen bestehenden Service oder einen internen Ablauf mithilfe von Technologie zu optimieren, empfehle ich immer die Nutzung einer Customer Journey. Die Customer Journey oder auch User Journey beschreibt den Weg meiner Zielgruppe, den sie in Bezug auf ein bestimmtes Thema durchläuft. Auf diesem Weg begleite ich sie mit meinen Produkten und Services möglichst lange.
Ein Beispiel: Stellen wir uns einen Anbieter für Fernreisen vor. Die Customer Journey dreht sich also um das Thema Fernreisen. Sie beginnt wahrscheinlich bei der ersten Idee, eine solche zu machen und endet irgendwo nach der Reise beim Bilder anschauen.
Um nun die Bedürfnisse meiner Zielgruppe strukturiert zu erfassen, muss ich mir zunächst überlegen, welche Phasen meine Customer Journey hat. Im Beispiel der Fernreise sind das möglicherweise: Inspiration, Auswahl des Ziels, Buchungsphase, die Reise selbst und die Zeit nach der Reise.
Wenn ich alle Phasen erfasst habe, schaue ich mir nun, ähnlich wie beim Value Proposition Canvas an: Welche typischen Aufgaben hat meine Zielgruppe in den einzelnen Phasen zu erledigen? Welche Probleme treten auf? Welche Wünsche sind bisher unerfüllt?
Außerdem empfehle ich auch zu erfassen, mit welchem Medium und in welchem Kontext die Aufgabe erledigt wird. Dies kann später für die Auswahl einer geeigneten Technologie wichtig sein.
Ja, aber woher soll ich das denn alles wissen?
Im angesprochenen Beispiel könnten in der ersten Phase, der Inspirationsphase, das Kennenlernen möglicher Reiseziele durch Reiseblogs oder Reisesendungen im Fernsehen eine typische Aufgabe sein. Das passiert häufig im Kontext der eigenen vier Wände, auf dem Sofa und wahlweise am Smartphone, Rechner oder eben vor dem Fernseher. Probleme, die dabei auftreten können, wären z. B. die schiere Menge an verfügbaren Blogs und Sendungen aber auch grundsätzlich die Qual der Wal in Bezug auf mögliche Ziele. Wünsche könnten dementsprechend sein, konkrete Vorschläge auf Basis meiner Interessen zu bekommen.
Exkurs: Informationen zu meiner Zielgruppe sammeln
An dieser Stelle höre ich häufiger: "Ja, aber woher soll ich das denn alles wissen?". Gute Frage! Das strukturierte Erfassen dieser Informationen zur Zielgruppe setzt natürlich voraus, dass ich diese Dinge zumindest ein Stück weit über meine Zielgruppe weiß. Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir noch etwas weiter vorn beginnen.
Durch qualitative Befragungen z. B. in längeren Interviews und ggf. auch mit quantitativen Umfragen werden gezielt diese Informationen eingesammelt. Dabei eignen sich quantitative Umfragen vor allem dann, wenn ich schon eine Idee dazu habe, was meine Zielgruppe macht und braucht oder um gezielt Lücken zu füllen. Wenn ich gar kein Gefühl für meine Zielgruppe habe, würde ich zunächst mit einer Handvoll (ca. 5-10 pro Zielgruppe) längerer Interviews beginnen und aus diesen konkreten Zielgruppenbeschreibungen (sog. Personas) ableiten. Im zweiten Schritt kann ich auf Basis dieser dann Thesen über Aufgaben, Probleme und Wünsche formulieren und diese noch mal über quantitative Befragungen überprüfen.
Ideen zur Lösung mithilfe einer gewählten Technologie entwickeln
Ob ich nun mit dem Value Proposition Canvas oder einer Customer Journey Zielgruppenbedürfnisse gesammelt habe, im dritten Schritt bringe ich diese nun mit den technologischen Möglichkeiten zusammen. Ich prüfe also, welche der gesammelten Bedürfnisse sich mit der betrachteten Technologie lösen lassen. Um auch hier nicht doch noch in die "Ich mache es, weil es geht"-Falle zu stapfen, lege ich dabei drei Kriterien an.
Ich überprüfe, ob die Technologie die zu erledigende Aufgabe schneller, einfacher oder zumindest unterhaltsamer macht. Und zwar in Bezug darauf, wie die Aufgabe derzeit gelöst wird bzw. gelöst werden kann. Um diesen Prozess zu vereinfachen, bietet sich aus meiner Sicht eine Art Checkliste an. Diese fast kurz zusammen, wofür die Technologie besonders geeignet ist und wo möglicherweise ihre Grenzen liegen.
Beispiel: Künstliche Intelligenz
Nehmen wir beispielsweise Künstliche Intelligenz: Diese eignet sich insbesondere, wenn ich große Datenmengen auszuwerten habe und wenn es darum geht Muster zu erkennen. Mit KI kann ich wunderbar sich wiederholende Tätigkeiten automatisieren, die nicht immer exakt gleich sind, sich aber doch sehr stark ähneln bzw. erkennbaren Mustern folgen. Mit künstlicher Intelligenz habe ich die Möglichkeit solche Prozesse massiv zu beschleunigen.
Allerdings muss ich berücksichtigen, dass ich zur sinnvollen Nutzung eben auch einen großen Datensatz zur Verfügung haben muss. Dieser ist notwendig, um das hinter der KI steckende neuronale Netz zu trainieren. Außerdem ist die Mustererkennung nach wie vor begrenzt. Für bestimmte Tätigkeiten brauche ich am Ende doch ein Objektverständnis, dass KIs derzeit nicht bieten können. Mit dieser kurzen Checklist kann ich nun durch meine gesammelten Bedürfnisse gehen und schauen, welche dieser Probleme oder Wünsche ich mithilfe der gewählten Technologie lösen bzw. erfüllen kann.
Ich prüfe also für KI beispielsweise: Inwiefern kann ich das Problem der Qual der Wahl lösen und dem Wunsch entsprechend kuratierte Vorschläge zu bekommen? Mit Blick auf meine Checkliste sehe ich, KI könnte sich super dafür eignen. Und mit Blick auf meine Kriterien sehe ich, dass dies auch sinnvoll wäre. Eine KI gestützte Kuratierung auf Basis von zuvor abgegebenen Präferenzen kann die Suche sowohl schneller als auch besser machen. Ich habe hier also einen Match und kann mir nun überlegen, wie genau die Lösung aussehen soll.
Ideen mithilfe von einfachen Prototypen testen
In diesem letzten Schritt wird die Idee weiter konkretisiert und mithilfe von Prototypen getestet. Ich empfehle hier iterativ vorzugehen, um ganz im Sinne von Lean Innovation möglichst ressourcenarm den vollen Umfang und die konkrete Ausgestaltung der Idee zu erarbeiten.
Mögliche Schritte im iterativen Prototyping-Prozess:
- Konzept-Prototyp (visuelle Darstellung und Beschreibung der Idee)
- Click-Dummy (digitale Fassade, mit der begrenzt interagiert werden kann)
- Funktionaler Prototyp mit No-Code- oder Low-Code-Anwendung
- Funktionaler Prototyp mit den wichtigsten Features (MVP)
Jeder Prototyp wird an der Zielgruppe getestet. Die Ergebnisse fließen anschließend in die weitere Spezifizierung ein. Durch das iterative Vorgehen und die zunehmende Komplexität der Prototypen wird sichergestellt, dass nur die Ideen weiterverfolgt werden, die sich auch im Test als zielgruppenrelevant bewahrheitet haben.
Ziel dieser Phase ist es, zum einen zu überprüfen, ob die Idee 1. wirklich einen spürbaren Mehrwert bietet und 2. wie daraus ein ertragreiches Geschäft entwickelt werden kann.
Fazit
Trendtechnologien sind ein wesentlicher Treiber für Innovation, egal ob Produkte, Services oder Prozesse. Damit eine Idee aber wirklich eine relevante Innovation wird, darf die Technologie nicht der einzige Treiber sein. Wichtig ist, wie in jeder Innovationsentwicklung, die Bedürfnisse der Zielgruppe zu berücksichtigen und die Technologie gezielt zu deren Befriedigung einzusetzen. Nur so kann aus einer spannenden Trendtechnologie eine echte Innovation werden.