Damoklesschwert Scheinselbständigkeit
Der Kampf um Rechtssicherheit für Selbständige und ihre Auftraggeber geht weiter
Am 1. April 2017 tritt das Werkvertragsgesetz (korrekt: "Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze") in Kraft. Von seiner ursprünglichen Fassung ist in Bezug auf Werkverträge wenig übrig geblieben. Für die Projektbranche wurde eine Klarstellung beschlossen. Und doch sind viele Auftraggeber verunsichert und setzen verstärkt auf Arbeitnehmerüberlassung – also gerade das Instrument, das durch das Gesetz eigentlich eingeschränkt werden sollte.
Der folgende Beitrag soll den Auftraggebern Mut machen, die Regierungsparteien und ihre Klarstellung beim Wort zu nehmen. Er soll aber auch keinen Zweifel daran lassen, dass der Kampf um Rechtssicherheit für Selbständige und ihre Auftraggeber weiter gehen muss. Denn Arbeitnehmerüberlassung ist keine Lösung.
Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) e.V., der bereits seit 2014 immer wieder auf das Problem hingewiesen hat und vielfältige Aktionen für mehr Rechtssicherheit organisiert hat, unter anderem eine Petition mit mehr als 20.000 Mitzeichnern, bundesweite Vortragsreihen, Briefaktionen an Abgeordnete usw. Zusammen mit 20 weiteren Verbänden hat Andreas Lutz im Februar die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände gegründet, für die Rechtssicherheit ebenfalls ein zentrales Ziel ist.
Am Anfang stand der Koalitionsvertrag. Im Herbst 2013 hatte die SPD in letzter Minute in Bezug auf Scheinselbständigkeit den folgenden Passus hinein verhandelt: "Zur Erleichterung der Prüftätigkeit von Behörden werden die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niedergelegt."
Was harmlos klingt, wurde in Verbindung mit einer veränderten Entscheidungspraxis der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zum Politikum. Hatte die DRV 2006 noch in weniger als 20 Prozent der Statusfeststellungsverfahren auf abhängige Beschäftigung entschieden, waren es 2014 bereits fast 50 Prozent. Bei unverändertem Sachverhalt galten zuvor eindeutig selbständige Tätigkeiten plötzlich als scheinselbständig.
Der Versuch, die von Anwälten als einseitig und "Rosinenpickerei" bewertete Entscheidungspraxis der DRV durch das neue Gesetz festzuschreiben, ist glücklicherweise gescheitert. Den geplanten Katalog von Negativkriterien musste Andrea Nahles aus dem Gesetz streichen. Stattdessen enthält es nun eine Aneinanderreihung von Leitsätzen, die das Bundesarbeitsgericht in wichtigen Entscheidungen immer wieder verwendet hat. Ein gesichtswahrender Kompromiss, mit dem man an sich gut leben kann.
Geblieben ist es dagegen bei dem Wegfall der so genannten Vorratserlaubnis, also der Möglichkeit zur Aktivierung einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis für den Fall, dass die DRV bei selbständigen Auftragnehmern überraschend auf abhängige Beschäftigung entscheidet. Durch dieses Konstrukt konnte in einem solchen Fall die selbständige Tätigkeit notfalls in eine Arbeitnehmerüberlassung umgewandelt werden. Das gab dem Auftraggeber zusätzliche Sicherheit. Andererseits wurde dieses aufwändige Sicherheitsnetz nach Auskunft von Anwälten nur von einem relativ kleinen Teil der Auftraggeber tatsächlich eingesetzt.
Der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland e.V. (VGSD)[1]mit Sitz in München vertritt die Interessen von Freiberuflern, Soloselbständigen und kleinen Unternehmen mit bis zu neun Mitarbeitern. Die größten Berufsgruppen sind dabei IT-Selbständige und Unternehmensberater. Die wichtigsten Themen sind Scheinselbständigkeit, Altersvorsorge- versus Rentenversicherungspflicht, Krankenversicherungsbeiträge, Bürokratie und Zwangsabgaben sowie Gründungsförderung. Entstanden ist der Verband 2012 aus einer erfolgreichen Bundestagspetition mit über 80.000 Mitzeichnern. Aktuell zählt der VGSD 2.200 zahlende Vereins- und 8.500 Communitymitglieder.
Dr. Andreas Lutz ist Vorstandsvorsitzender des VGSD und Koodinator der gerade gegründeten Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände. Er hat zehn Bücher zum Thema Gründung und Selbständigkeit geschrieben. Er moderiert die offizielle XING-Gruppe für Gründer und Selbständige. Sein gruendungszuschuss.de-Newsletter hat mehr als 100.000 Leser.
Doch der Schaden war schon angerichtet: Die notwendige Diskussion, um Schlimmeres zu verhindern, hatte viele Auftraggeber verunsichert. Das Gesetz mag die rechtliche Situation nicht massiv verschlechtert haben, es hat aber auch nichts dazu beigetragen, die dringend benötigte Rechtssicherheit herzustellen.
Die Selbständigen und ihre Auftraggeber wünschen sich Positivkriterien, also eine klare Ansage, welche Kriterien sie erfüllen müssen, damit zweifelsfrei ein selbständiger Dienst- oder Werkvertrag vorliegt. Eigentlich sollte das in einem Rechtsstaat mit einem Grundrecht auf freie Wahl der Berufsausübung eine Selbstverständlichkeit sein.
Der VGSD hat in einer UserVoice-Abstimmung seine Mitglieder um Vorschläge für solche Positivkriterien gebeten und hat diese von ihnen bewerten lassen. Das Ergebnis: Wenn Selbständige mehr als einen bestimmten Tagessatz erzielen, sind sie nicht schutzbedürftig und sollten nicht als scheinselbständig gelten. Und auch wenn Selbständige nachweislich ausreichend für ihr Alter vorsorgen, sollen sie nicht als scheinselbständig gelten. Das Schöne an diesem Ansatz: Durch ihn würden genau die Ziele erreicht, die der Gesetzgeber als Ziele der Neuregelung vorgegeben hatte.
Auf klare Ablehnung stießen bei den Befragten dagegen Negativkriterien, die Arbeitsweisen zu Indizien für Scheinselbständigkeit erklären, die in der heutigen Zeit – angesichts von Digitalisierung, agiler Softwareentwicklungsmethoden usw. – typisch für moderne Selbständigkeit sind. Genau solche Negativkriterien hatte der ursprüngliche Kriterienkatalog im Gesetz aber vorgesehen.
Neben der Abwendung dieses Negativkriterienkatalogs war ein weiterer großer Erfolg der Protestbewegung gegen die bestehende Rechtsunsicherheit, dass der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales Mitte Oktober 2016, kurz vor der finalen Abstimmung im Bundestag, eine Klarstellung für die Beratungs- und Projektbranche vornahm. Diese von Union und SPD gemeinsam beschlossene Klarstellung enthält unter anderem folgende Formulierungen:
"Die Neuregelung solle dem sachgerechten Einsatz von Werk- und Dienstverträgen in den zeitgemäßen Formen des kreativen oder komplexen Projektgeschäfts nicht entgegenstehen, wie sie zum Beispiel in der Unternehmensberatungs- oder IT-Branche in Optimierungs-, Entwicklungs- und IT-Einführungsprojekten anzutreffen seien. (...)
Dabei solle zum Beispiel eine für die Tätigkeit eines Beraters typische Bindung hinsichtlich des Arbeitsorts an eine Tätigkeit im Betrieb des beratenen Unternehmens allein regelmäßig keine persönliche Abhängigkeit gegenüber letzterem begründen (vgl. Bundesarbeitsgericht, 11.08.2015 – 9 AZR 98/14). (...)
Vielmehr solle nach dem Verständnis der Ausschussmehrheit entsprechend der bisherigen Praxis eine wertende Gesamtbetrachtung vorgenommen werden, ob unter Berücksichtigung aller maßgebenden Umstände des Einzelfalls eine Eingliederung in den Betrieb des Auftraggebers erfolge. Dies habe man auch in der Gesetzesbegründung ausdrücklich aufgegriffen."
Diese Klarstellung stellt selbständigen Wissensarbeitern keinen Freifahrtschein aus: Die bisherigen Regelungen und die Rechtssprechung gelten weiter. Es bleibt somit auch weiterhin wichtig, in Hinblick auf mögliche spätere (gerichtliche) Auseinandersetzungen Merkmale der Tätigkeit, die eine Selbständigkeit belegen, sorgfältig zu dokumentieren. Außerdem sollte man, wie auf das Thema spezialisierte Rechtsanwälte in den VGSD-Experten-Telkos immer wieder geraten haben, darauf achten, dass der geschlossene Vertrag nicht nur auf eine Selbständigkeit zielt, sondern auch so gelebt wird.
Wichtig ist die Klarstellung, dass die persönliche Präsenz beim Auftraggeber typisch für Berater und ähnliche Berufe ist und für sich genommen keine persönliche Abhängigkeit und somit Scheinselbständigkeit begründet. Diese (meist unverzichtbare) Anwesenheit vor Ort und intensive Kommunikation mit Mitarbeitern des Auftraggebers sind zentrale Gründe dafür, dass Berater, IT-Experten, Interims-Manager usw. in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt waren, als in die betriebliche Organisation des Auftraggebers eingebunden, weisungsabhängig und damit scheinselbständig eingeordnet zu werden.
Der Ausschuss verweist an dieser Stelle auch auf ein selbständigen-freundliches Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom August 2015, das auf den ersten Blick rein gar nichts mit Beratern zu tun hat. Artisten hatten mit einem Zirkus einen Vertrag über ihre Nummer "Carlos vom Todesrad" geschlossen und klagten später auf Einstellung. Viele von der DRV in ihren Statusfeststellungsverfahren herangezogenen und im Werkvertragsgesetz ursprünglich vorgesehenen Negativkriterien für Scheinselbständigkeit wären bei dieser Zusammenarbeit zwischen Artisten und Zirkus verletzt gewesen, aber das BAG erkannte trotzdem auf Selbständigkeit und hob darauf ab, dass der geschlossene Vertrag auf Selbständigkeit zielte und auch von beiden Parteien so gelebt und umgesetzt wurde.
Die Bedeutung und Notwendigkeit einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände und damit von branchenspezifischen Besonderheiten und Einzelfällen wurde durch diese Formulierung noch einmal gestärkt. Es darf – so wird klargestellt – also nicht von der Erfüllung einzelner Negativkritieren direkt auf eine Scheinselbständigkeit geschlossen werden – ein Seitenhieb auf die DRV-Praxis.
Die Klarstellung ist formal gesehen nicht Teil des Gesetzes, dürfte aber bei künftigen Entscheidungen von Gerichten eine erhebliche Rolle spielen, denn sie macht die Intention der Regierungsfraktionen deutlich und wird wohl Einzug in einschlägige juristische Kommentare finden. Die Auftraggeber sollten meines Erachtens das Gesetz nicht "in vorauseilendem Gehorsam" strenger auslegen, als es intendiert ist.
Beispiel: Wir beobachten, dass bisher gut bezahlte Selbständige in Arbeitnehmerüberlassung gedrängt werden. Die IT-Selbständigen sind jedoch in ihrer großen Mehrheit gerne und freiwillig selbständig. Sie schätzen die Möglichkeit, in verschiedenen Projekten tätig zu sein, Know-how aufzubauen und dieses eigenverantwortlich zu vermarkten. Sehr wichtig ist für viele auch die Möglichkeit, sich eigenverantwortlich fortzubilden.
Ein Großteil der Selbständigen wird eine Umwandlung in Arbeitnehmerüberlassung nicht akzeptieren.
Zugleich hat die Umwandlung von Aufträgen in Arbeitnehmerüberlassung weitreichende Folgen für die Selbständigen. Wenn sie plötzlich nur noch Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit erzielen, steht die Anerkennung ihrer Betriebsausgaben in Frage. Sie sind in Hinblick auf ihre Selbständigkeit aber oft langfristige Verpflichtungen eingegangen, man denke z. B. an das Leasing eines Firmenwagens, das Anmieten eines Büros, Beschäftigen eines Mitarbeiters usw. Die mit einer Anstellung verbundene Präsenzpflicht erschwert zudem die Betreuung der anderen Kunden bzw. Auftraggeber. Die Umwandlung von Aufträgen in Arbeitnehmerüberlassung könnte zudem von Gerichten als Indiz für eine zuvor bestehende Scheinselbständigkeit gewertet werden. Auftraggeber und -nehmer kämen vom Regen in die Traufe.
Ein Großteil der Selbständigen und gerade die besonders qualifizierten, in Projekten unverzichtbaren, wird eine Umwandlung in Arbeitnehmerüberlassung nicht akzeptieren, eher neue Kunden suchen oder sogar zu ausländischen Auftraggebern wechseln. Know-how droht dauerhaft verloren zu gehen.
Die von uns befragten Anwälte haben immer wieder den Rat gegeben, die Merkmale der selbständigen Tätigkeit schon im Vertrag zu betonen und im Arbeitsalltag so auch zu leben. Dies sollte auch dokumentiert werden, dann sei man auch für den Fall einer gerichtlichen Überprüfung gut gewappnet. Auf ein Statusfeststellungsverfahren bei der DRV solle man verzichten. Anders als vor Gericht fehle dort sehr oft die eigentlich vorgeschriebene Gesamtschau der Kriterien.
Das alles darf natürlich nicht darüber hinweg täuschen, dass die bestehende Situation noch immer mit Rechtsunsicherheit verbunden ist, besonders für Unternehmen außerhalb der Projekt- und Beratungsbranche.
Wir wollen deshalb in der nächsten Legislaturperiode eine Revision des Gesetzes erreichen, die allen Branchen Rechtssicherheit gibt. Denn es läuft etwas gewaltig schief,
- wenn schon vor Inkrafttreten Ausnahmeregeln für bestimmte Berufsgruppen beschlossen werden, wie im Februar z. B. für Notärzte (diese verweigerten schlichtweg eine Anstellung durch die Krankenhäuser, was unmittelbar zu Versorungsengpässen führte),
- wenn selbst staatliche Stellen nicht in der Lage sind, sich gesetzeskonform zu verhalten, wie das Beispiel des Goethe-Instituts zeigt, aber auch das Beispiel der Bundestagsverwaltung aus dem Jahr 2012,
- wenn Aufträge ins Ausland vergeben werden, weil das in Deutschland nicht mehr rechtssicher möglich ist.
Im Februar haben wir uns mit 20 anderen Verbänden zur "Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände" (BAGSV) zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen wir die Initiativen und Aktionen unserer Mitgliedsverbände unterstützen und den Druck auf den Gesetzgeber aufrecht erhalten. Die teilnehmenden Verbände vertreten die Interessen von rund 100.000 Mitgliedern und haben über ihre Verteiler Zugang zu mehreren hunderttausend Selbständigen.