Achtung Agilität! Vorsicht Selbstorganisation!
Agilität ist in aller Munde. Kaum ein Unternehmen, das nicht beweglicher und reaktionsschneller werden möchte – oder zumindest darüber redet. Doch was muss passieren, damit es nicht bei agiler Rhetorik bleibt? Was braucht es, um mit einer dynamischen Welt mithalten zu können? Oder dieser vielleicht sogar eine Nasenlänge voraus zu sein?
Die Beantwortung dieser Fragen stellt ein anspruchsvolles Unterfangen dar. Unternehmerische Agilität ist nämlich weder ohne Systemdenken noch ohne Selbstorganisation zu haben. Wenn an zentraler Steuerung, hierarchischen Entscheidungen und einer pyramidenförmigen Aufbauorganisation festgehalten wird, sind wir schon auf dem Holzweg. Aber auch der Einsatz agiler Teams und Methoden reicht nicht aus. Praktische Beispiele aus über 40 Unternehmen zeigen, warum es stattdessen agile Interaktionen in allen Bereichen braucht.
Vergleicht man Selbstorganisationspioniere wie Gore, Semco oder Harley-Davidson mit Trendsettern wie Patagonia, Morning Star oder Spotify und Newcomern wie sipgate, Computest oder Haufe-umantis, fallen vor allem drei Dinge auf:
- Agilität gibt es in den verschiedensten Ländern, Branchen und Kontexten
- Digitalisierung spielt in vielen dieser Unternehmen eine große Rolle
- Es werden verblüffend ähnliche Prozess- und Strukturelemente eingesetzt
So setzt der Musikstreamer Spotify ein ähnliches Set von Kernpraktiken ein wie der Telefonieexperte sipgate, der Testingspezialist Computest, die Personalsoftwareexperten Haufe-umantis oder die Hotellerieplattform Traum-Ferienwohnungen. Bei näherer Betrachtung lassen sich diese Praktiken zu acht Gestaltungsbereichen bündeln:
- Zuerst der Kunde
- Transparente Steuerung der Arbeitsabläufe
- Kurze Feedbackschleifen
- Kundennahe Entscheidungen
- Mutige Verbesserungs- und Innovationsexperimente
- Schlanke Aufbauorganisation
- Verteilte Managementaufgaben
- Laufendes Training und Coaching
Obwohl diese Bereiche in allen untersuchten Unternehmen vorkommen, werden sie doch recht unterschiedlich kombiniert. Schließlich hängt die Agilität eines Unternehmens von einem für den jeweiligen Kontext maßgeschneiderten Organisationsdesign ab. Jenseits von vorgefertigten Skalierungsrezepten wie LeSS, SAFe oder Holacracy [1] ist ein solches Design darauf ausgelegt, die unternehmerische Intelligenz aller Mitarbeiter bestmöglich zu nutzen. Die zentrale Herausforderung besteht darin, eine positive Wechselwirkung von Mitarbeiterzufriedenheit, Kundenzufriedenheit und Profitabilität zu designen. Wie muss ein Unternehmen ein- und ausgerichtet werden, um diese Herausforderung zu meistern? Welche Rahmenbedingungen braucht es dafür? Und was muss beachtet werden, damit dieser Rahmen der turbulenten Umwelt gewachsen bleibt?
Um darauf Antwort zu geben, stelle ich Ihnen im Folgenden zwei der oben genannten Gestaltungsbereiche genauer vor. Zum einen zeige ich, warum Unternehmen bei den Arbeitsabläufen ansetzen müssen, wenn sie agiler werden wollen. Zum anderen erläutere ich, wie eine Aufbauorganisation aussehen kann, die die unternehmerische Wahrnehmungsfähigkeit ebenso stärkt wie die Entscheidungskräfte. Dazu liefere ich einige konkrete Umsetzungsbeispiele aus der Softwareentwicklung.
Transparente Steuerung der Arbeitsabläufe
Unternehmenssteuerung findet traditionellerweise hinter verschlossenen Türen statt. In verschiedenen Steuerungskreisen treffen sich Projektverantwortliche, Programmleiter, Produkt- oder Linienmanager, um über Kennzahlen zu debattieren – seien das nun Zielerreichungsgrade, Kosteneffizienzen oder Ressourcenverteilungen. Kein Wunder, dass dies oft im Zeichen des Tunnelblicks steht.
Wie steuern nun Unternehmen, die auf die Kraft der Selbstorganisation setzen? Meiner Erfahrung nach eignet sich dafür am besten die Steuerung mit Hilfe von visuellen Arbeitsmanagementsystemen. Mit einfachen Mitteln machen solche Systeme transparent, was üblicherweise unsichtbar bleibt.
Abb.1 zeigt die Skizze, die sich für gewöhnlich in einem physischen Kanban-Board manifestiert. In kompakter Form führt uns ein solches Board eine Menge Elemente vor Augen:
- Alle Arbeiten, mit denen wir gerade beschäftigt sind (kleine Quadrate).
- Die unterschiedlichen Typen, zu denen diese Arbeiten gehören (siehe beispielhaft Features, Changes, Bugs).
- Die charakteristischen Aktivitäten, die diese Arbeiten durchlaufen, bis sie abgeschlossen sind (abstrakt mit A, B und C bezeichnet).
- Wie viele parallele Arbeiten sich maximal in welchem Aktivitätsstadium befinden – was durch das sogenannte WIP-Limit geregelt wird (siehe die entsprechenden Zahlen über den verschiedenen Spalten).
- Die vereinbarten Regeln, nach denen das Kanban-System betreiben wird (beispielsweise Definitionen von Bereit oder Fertig).
- Wer womit beschäftigt ist (entsprechend den gesetzten Avataren, hier in Form von Farbpunkten).
- Welche Arbeit blockiert ist (rote Quadrate).
- Wieviele Aktivitäten bereits an welcher Arbeit durchgeführt wurden (entsprechend dem Arbeitsfluss).
Die Praxis zeigt, dass wir uns mit Kanban das Managementleben um einiges leichter machen können. Das gilt sowohl für die Fachexperten, die ihre Arbeit in neuem Licht sehen können, als auch für das Linienmanagement, das die klassische Blackbox der operativen Umsetzung plötzlich gut ausgeleuchtet vor Augen hat.
Vor allem, wenn es um unternehmensweite Selbstorganisation geht, leisten uns visuelle Arbeitsmanagementsysteme hervorragende Dienste. Mit seinem Modell der Flugebenen (s. Abb.2) hat Klaus Leopold gezeigt, wie wir über die Teamebene hinaus Wertströme und strategische Portfolios modellieren können.
Die Onlineplattform AutoScout24 führt uns beispielhaft vor Augen, wie Kanban strategieorientiert eingesetzt werden kann. Als System der dritten Flugebene erfasst das Strategieboard die Arbeit von insgesamt 250 Leuten (Abb.3).
Zu sehen sind natürlich nicht die einzelnen Aufgaben, sondern größere Pakete, die für den Kunden Wert generieren, sobald sie abgeschlossen sind. Um dabei einen möglichst guten Fluss zu gewährleisten, ist der gesamte Wertschöpfungsprozess in allen relevanten Kundensegmenten visualisiert (s. grüne Karten ganz links). Darüber hinaus sind die einzelnen Teams innerhalb dieser Segmente repräsentiert (s. vertikale Serie gelber Karten). Die zentralen Aktivitäten, denen der gesamte Arbeitsfluss über die einzelnen Segmente hinweg folgt, sind in den größeren Karten erfasst, die oben am Board eine horizontale Linie bilden. Sie führt von einem offenen Optionenpool über eine Ideengenerierungs- und -bewertungsphase, die bewusste Auswahl der vielversprechendsten Pakete, deren systematischer Entwicklung bis hin zu einer Erfolgsmessung, durch die das ursprüngliche Wertversprechen überprüft wird. Zur laufenden Optimierung der Wertschöpfung werden innerhalb der einzelnen Kundensegemente längst Kanbansysteme der Flugebene 2 (Koordination) eingesetzt. Und einzelne Teams in diesen Segmenten nutzen wiederum Systeme der Flugebene 1 (operative Umsetzung).
Summa summarum fördern solche Mehr-Ebenen-Systeme Agilität wie Selbstorganisation auf vielfältige Weise. Erst einmal ist für alle Beteiligten offensichtlich, wie ihre eigene Arbeit in ein größeres Ganzes einzahlt, das konsequent auf den Kundennutzen ausgerichtet ist. Der eigene Beitrag zum Gesamterfolg wird ebenso deutlich wie Faktoren, die diesen Erfolg gefährden. Alle sind zu einem vernetzten Vorgehen angehalten, sodass die Feedbackschleifen zwischen den einzelnen Bereichen verkürzt und Verbesserungsbedarf früher erkennbar wird. Das gesamte System kann rascher auf Änderungen reagieren – ob diese nun vom Markt vorgegeben, aufgrund strategischer Überlegungen forciert oder aufgrund interner Probleme erzwungen werden.
Schlanke Aufbauorganisation
"Schnellboote statt Raddampfer" lautet einer der Slogans unternehmerischer Agilisierung. Schließlich wollen wir flink und wendig sein und nicht behäbig dahintuckern. Die Metaphern sind nicht schlecht gewählt: Sie betonen das Flussprinzip, das unsere Produkt- und Strategieboote zum Zielhafen des Kunden führt. Obwohl die Praxis zeigt, dass Arbeitsflüsse im Zentrum stehen müssen, wenn es uns um echte Agilität geht, kommen wir um aufbauorganisatorische Fragen nicht herum. Wie sollten sich Unternehmen aufstellen, wenn sie agile Abläufe absichern wollen? Schlank, dezentral, lose gekoppelt, interdisziplinär, flach – so könnte das Anforderungsprofil aussehen, das sich aus den einschlägigen Vorbildern selbstorganisierter Unternehmen ableiten lässt. Was bedeutet dieses Profil im Detail?
Schlank heißt erst einmal, auf kleine Geschäftseinheiten zu setzen. Dadurch kann flexibler auf sich rasch ändernde Anforderungen reagiert werden. Wenn dafür ein Riesenapparat in Bewegung gesetzt werden muss, ist es mit der Agilität gleich wieder vorbei. Vielerorts setzen agile Unternehmen dafür auf Teams mit einer begrenzten Mitgliederanzahl: beim Lotteriespezialisten eSailors sind das rund 7, beim VoIP-Anbieter sipgate bis zu 12, beim Online-Marktplatz Traum-Ferienwohnungen maximal 20. Auch die teamübergreifende Arbeit wird begrenzt: sei es nun wie bei Spotify durch die Begrenzung auf produktzentrierte Stämme (Tribes) von maximal 150 Mitarbeiter, durch die Fokussierung auf bestimmte Marktsegmente wie bei der Scout24-Gruppe oder durch die Begrenzung der Standortgrößen auf 30 bis 60 Mitarbeiter wie beim niederländischen Softwarespezialisten Incentro.
Sich dezentral zu organisieren bringt ebenfalls einen deutlichen Verschlankungseffekt mit sich. Die traditionellen Firmenzentralen und die damit einhergehenden Kontroll- und Weisungshoheiten weichen der lokalen Autonomie von Geschäftseinheiten. Das Management ist immer noch eine wichtige Stütze: statt der üblichen Leithammelkultur wird jedoch eine unterstützende Führung gepflegt, die ohne absolutistische Weisungen auskommt. Statt Budgets, Umsatzziele oder Verhaltensrichtlinien vorzugeben, werden nur grobe Leitplanken gesetzt. Strukturell wird dementsprechend auf lose Kopplungen gesetzt. Das führt zur Ausdünnung all der Linien, Ebenen und Kästchen, die typisch für traditionelle Hierarchien sind – bis hin zu Softwarehäusern wie Compax in Österreich oder Liip in der Schweiz, wo es überhaupt kein formales Organigramm mehr gibt. Das hat zur Folge, dass die Mitarbeiter nicht mehr auf eindeutige Stellenbeschreibungen fixiert werden. Wie Positionen neigen Stellen nämlich per definitionem zum Statischen: Wir treten auf der Stelle, wir beharren auf einer Position und so weiter. Vielmehr sollte sich die unternehmerische Agilität in einer persönlichen Flexibilität widerspiegeln, um in verschiedenen Arbeitszusammenhängen mit unterschiedlichen Leuten arbeiten und dabei sogar über die Grenzen der eigenen Kernkompetenz hinausgehen zu können. Die sogenannten fluiden Teams des Düsseldorfer Call Center-IT-Experten InVision oder das strategische Schwärmen bei der auf Personalmanagmentsoftware spezialisierten Haufe-umantis belegen dies exemplarisch. Je nach Kundenanforderung und den daraus erwachsenden Projekten finden sich Experten in immer wieder neuen Konstellationen zusammen.
Dezentralisierung wie Kopplung legen nahe, die weit verbreitete Silologik über Bord zu werfen. Diese wird auf den verschiedensten Ebenen durch interdisziplinäre Zusammenarbeit ersetzt. Wenn Geschäftseinheiten selbstbestimmt agieren wollen, müssen sie über alle Kompetenzen verfügen, die sie für die Wertgenerierung benötigen. Das gilt für Teams ebenso wie für alle, die gemeinsam für einen bestimmten Wertestrom verantwortlich sind oder für Business Units, die ein ganzes Portfolio bearbeiten. Die Veränderungsgeschichte von Traum-Ferienwohnungen ist dafür typisch: waren kundenorientierte Veränderungen früher mit langwierigen Abstimmungen über verschiedene Abteilungsgrenzen hinweg bestimmt, so sind diese heute auf kurzem Weg zu realisieren. Die dafür notwendigen Spezialisten aus den unterschiedlichen Fachgebieten arbeiten innerhalb selbstgesteuerter Einheiten intensiv zusammen, um dem Kunden Lösungen aus einer Hand zu liefern. Dasselbe Ziel verfolgt ImmobilienScout24. Dort sind die einzelnen Entwicklungsteams nicht nur nach Marktsegmenten geclustert, um die Zusammenarbeit in allen Bereichen möglichst geschmeidig zu gestalten. Sogar das Linienmanagement erfolgt interdisziplinär: Die Head-of-Runde von Sales, Produkt, Marketing und IT trägt gemeinsam die Gesamtverantwortung.
Last but not least setzen selbstorganisierte Unternehmen auf flache Hierarchien. In den meisten agilen Teams gibt es gar keine designierte Führungskraft mehr. Stattdessen sind alle gemeinsam für das strategische Arbeitsmanagement (Was wird wann für wen bearbeitet?) und für die operative Durchführung (Wie wird gearbeitet?) verantwortlich. Beim niederländischen Testingspezialisten Computest stellte man die gesamte Organisation auf autonome Teams um, die nicht nur über alle Fachkompetenzen, sondern auch über entsprechende Entscheidungsfreiheiten verfügen. Gleichzeitig wurden die früheren Linienvorgesetzten als Fach- und Prozess-Coaches repositioniert, die sich vor allem auf unternehmensweite Services konzentrieren – und nicht zuletzt den Vorstand als Sparringspartner bei der kontinuierlichen Verbesserung des Gesamtsystems unterstützen.
Fazit
Agile Unternehmen sind heutzutage keine Ausnahmeerscheinungen mehr. Um die gewünschte Responsivität zu erreichen, braucht es jedoch spezielle Rahmenbedingungen – und die Bereitschaft, diese laufend zu prüfen und anzupassen. Dem transparenten Management von Arbeitsabläufen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Praxis zeigt, dass Organisationen schneller und besser werden, wenn die operative Steuerung durch jene erfolgt, die die Arbeit auch ausführen. Sie arbeiten selbstbestimmt im jeweiligen Arbeitssystem, während das Management am System arbeitet. Das spiegelt sich schließlich auch in einem Organisationsdesign wieder, das auf kleine, cross-funktionale und selbstbestimmte Einheiten setzt.