Agil sein in einer komplexen Welt: Der Tanz der Organisation mit ihrer Umwelt
Getränke, Snacks und gescheiterte Transformationen

Es ist einer dieser Abende. Ich sitze in einer netten Runde in einem hochmodern eingerichteten Konferenzraum – wie eigentlich immer, wenn ich zu diesen Veranstaltungen gehe. Schließlich möchten die Unternehmen, die ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, damit auch Eigenwerbung betreiben. "Seht her, wie schön modern und kollaborativ wir sind." Und das ist auch fair, immerhin sponsern sie zumeist auch Getränke und ein paar Snacks. Da wird man ja auch ein wenig Eigenwerbung machen dürfen.
Früher war ich wirklich oft bei solchen Community-Treffen. Hier trifft man auf Gleichgesinnte – alle hochmotiviert und bereit, ihr Wissen zu teilen. Die Open-Space-Methodik hat mich angezogen und fasziniert. Hier gab es viel zu lernen und zu diskutieren. Und ich fühlte mich als leeres Gefäß, dankbar für jeden Input, der mir neue Einsichten und Lerngelegenheiten schenkte. Doch irgendwann hatte sich das geändert. Ich bin mir nicht sicher, ob die Veränderung in mir stattgefunden hat oder ob sich einfach in der Außenwelt etwas gedreht hat – oder vielleicht war es auch beides?
Zumindest sitze ich nach längerer Abstinenz wieder hier und bin bestens versorgt mit Snacks und Getränken – in diesem schönen modernen Raum. Und ich denke bei mir: "So muss es sich auch in einer Selbsthilfegruppe anfühlen – rund um mich herum Leidensgenossen, die in ganz ähnlichen Situationen stecken. Wo bleibt der Therapeut?" In mir bildet sich ein Eingeständnis: "Hallo, mein Name ist Dennis, und ich glaube an den Erfolg agiler Arbeitskultur."
Meine Gedanken schweifen ab. Was war passiert? Ich denke zurück an eine Zeit, als die Frage nach meinem Beruf eher Verwunderung und Neugier ausgelöst hatte: "Was ist das denn, ein Agiler Coach? Agile Arbeitsweisen? Klingt spannend, das sollten sie bei uns auch mal einführen." Wenn ich heute jemanden auf einer Gartenparty kennenlerne und erklären soll, was ich tue, dann ernte ich oft nur mitleidige Blicke: "Oh, ja, das tut mir leid. Dieses Agile haben sie bei uns auch eingeführt. Funktioniert leider nicht. Muss schwer sein…"
Der nächste Session-Pitch reißt mich aus meinem Selbstmitleid. Ich höre kurz zu, welches Thema vorgestellt wird – "Ah, okay, wieder ein Erfahrungsbericht aus einem großen Konzern." Titel: Warum die agile Transformation bei uns gescheitert ist. Es ist nicht die erste Session dieser Art an diesem Abend und ich bin sicher, es wird auch nicht die letzte bleiben. Kenne ich alles schon. Also kann ich wieder meinen Gedanken nachhängen. Ich beobachte mich selbst. Etwas melancholisch denke ich an die Zeit vor 10 Jahren zurück – meine ersten Gehversuche mit Kanban, meine erste Reise in die Welt der agilen Methoden. Das hatte doch gar nicht mal so schlecht funktioniert. Und ich erinnere mich an meine erste agile Transformation. Was für ein merkwürdiger Ausdruck. Ich weiß nicht, ob es Langeweile, Neugier oder einfach nur Katastrophentourismus ist, das mich bewegt, mein Smartphone aus der Tasche zu nehmen und einmal nach dem Begriff zu suchen.
Und ich beginne mich zu fragen, warum agile Transformationen so eine niedrige Erfolgsquote haben…
Schon bald stoße ich auf die folgende Erklärung: "Agile Transformation dreht sich im Wesentlichen darum, Teams zu bilden, Backlogs aufzubauen und regelmäßig inkrementell funktionierende, getestete Software zu produzieren. Im großen Maßstab geht es darum, Netzwerke von lose gekoppelten Teams zu schaffen, Abhängigkeiten zu koordinieren, Kompromisse zu managen, schnell Produkte auf den Markt zu bringen und Durchsatz anstelle von Produktivität zu messen.
Das Entfernen von Hindernissen, die diese Dinge behindern, ist die Aufgabe der Transformation."[1] Irgendwie gefällt sie mir nicht, diese Definition. Ich kann nur noch nicht genau sagen, warum. Irgendetwas fehlt mir. Und ich beginne mich zu fragen, warum agile Transformationen so eine geringe Erfolgsquote haben…
Der Tanz beginnt, wer gibt den Rhythmus vor?
Plötzlich finde ich mich ganz am Anfang wieder. Also an dem Punkt, an dem irgendjemand entscheidet, dass es an der Zeit wäre, eine agile Transformation zu starten. Dafür habe ich schon häufig ähnliche Gründe von Verantwortlichen gehört. Plötzlich beginnt sich ein Muster in den Tiefen meiner Erinnerungen zu bilden. Nach einer Weile sehe ich drei Typen vor meinem inneren Auge:
Der Kurzfrist-Kapitalist
Der Kurzfrist-Kapitalist ist sehr gefährlich. Ich habe in den vergangenen Jahren einige Exemplare kennengelernt. Die Kurzfrist-Kapitalisten haben Probleme identifiziert, die es zu lösen gilt. In meinem Kopf tauchen Erinnerungen an Manager auf, die einfach nur schnellere und umfangreichere Lieferungen im Sinn haben. Effizienz steht dabei über allem. Oftmals sind diese Kurzfrist-Kapitalisten auch gut informiert. Sie kennen agile Frameworks wie Scrum und Kanban. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – unterliegen sie oft der gefährlichen Einstellung, dass sich ja nur "die da unten" ändern und neue Methoden verwenden müssen. Sie selbst nehmen sich von jeglichem Wandel aus. Dazu kommt oft auch, dass sie ein paar Marketingsprüche vielleicht zu ernst genommen haben. "Doing twice the work in half the time." klingt halt auch einfach zu verführerisch [2]. Vielleicht hat Jeff Sutherland, immerhin einer der Erfinder von Scrum, damit die falschen Leute angelockt. Agile Methoden und eine entsprechende Kultur können zwar auch Geschwindigkeitsvorteile mit sich bringen, aber das ist nicht ihr Fokus.
Der Agilitäts-Hipster
Dieser Typ kommt mir als nächstes in den Sinn. Der Agilitäts-Hipster sieht all die erfolgreichen Unternehmenskulturen um sich herum. Er hat von Agilität und New Work gehört und vielleicht auch ein wenig Angst, nicht attraktiv genug für die Generation Z zu sein. Also installiert er Aufenthaltsräume mit Kickertischen, bietet spannende Goodies an und kommt in Sneakers zur Arbeit. Außerdem duzt er alle und ist beleidigt, wenn er wiederum nicht geduzt wird. Dann kauft er sich kultige Berater ein, die die Unternehmenskultur auf links drehen. Am Ende fragt sich der Agilitäts-Hipster, warum ihm seine Experten davonlaufen, wo er doch so eine agile Kultur implementiert hat. Zum Glück ist mir der Agilitäts-Hipster nicht ganz so häufig begegnet wie der Kurzfrist-Kapitalist, aber ich erinnere mich an die vielen Mischformen. Wie viele Seelen hätten gerettet werden können, wenn nicht der Kurzfrist-Kapitalist oder der Agilitäts-Hipster die Agile Transformation angestoßen hätten?
Der Agile-Game-Changer
Denn schließlich gab und gibt es ja immer noch die Agile-Game-Changer. Also diejenigen, die nicht auf Werbesprüche oder Modetrends hereinfallen, diejenigen, die verstanden haben, dass die Welt im Jahr 2023 einfach eine andere ist als im zwanzigsten Jahrhundert.
Ich werde kurz aus meinen Gedanken gerissen, denn gerade pitcht jemand eine Session mit dem Titel: Ist VUCA real? Wie passend, denke ich. Vielleicht schaue ich nachher bei der Session mal vorbei. Mit VUCA habe ich mich schließlich schon lange und ausgiebig beschäftigt. V – wie Volatilität. Schnell ist sie geworden unsere Umwelt – und unvorhersehbar. Daher entsteht eine große Unsicherheit, deshalb das U. Das C steht für Komplexität (Complexity), die unbestritten eine große Herausforderung unserer Zeit darstellt. Und zuletzt noch das A für Ambiguität, also die Mehrdeutigkeit, die es gilt, mit Sinn zu füllen.
Ich kehre zum Agile-Game-Changer zurück und komme zu dem Schluss, dass VUCA sehr real ist. Schließlich ist genau dieses sich schnell veränderte Umfeld einer der besten Gründe dafür, sich mit einer agilen Transformation auseinanderzusetzen. Die Agile-Game-Changer scheinen das verstanden zu haben. Für sie ist der Kulturwandel daher nicht Selbstzweck, sondern leitet sich aus den Geschäftsanforderungen ab.
Eine gute Voraussetzung, denke ich bei mir. Wenn also schon jemand eine Agile Transformation anstößt, dann hoffentlich der Agile-Game-Changer. Doch auch solche Transformationen versanden oft im Treibsand gut gemeinter Absichten und versickern langsam, bis ihnen die Luft ausgeht. Was läuft also schief?
Tanzen erfordert Führen und Folgen
Ich schaue auf die bisher gesammelten Themen auf dem Sessionboard. Mir fällt ein Begriff ins Auge: Das agile Mindset. Ich atme schwer aus. Dieser Begriff ist so hilfreich wie zerstörerisch, so viel- wie nichtssagend. Wie oft habe ich schon gehört, dass agile Transformationen nicht den erwünschten Erfolg eingebracht hätten, weil "das agile Mindset der Mitarbeitenden fehle" oder schlimmer noch "das falsche Mindset" sei.
Und plötzlich bin ich gedanklich mittendrin in einem weiteren großen Spannungsfeld. Agile Transformationen sind ja eben nicht nur die Einführung von agilen Arbeitsweisen, wie es der Kurzfrist-Kapitalist angehen würde. Und es sind auch nicht Hapiness-Kulturen, frisches Obst und Kickertische, wie es vielleicht der Agilitäts-Hippster verfolgen würde. Wenn man sich an die VUCA-Welt anpassen möchte und dahingehend die agile Transformation anstößt, dann wird das in der Regel nicht ohne einen tiefgreifenden Kulturwandel vonstattengehen. Kultur – ein weiteres Wort, das häufig in dem Zusammenhang fällt. Aber was bedeutet es eigentlich im Kern? Mein Smartphone zeigt mir sogleich eine mögliche Definition aus einem Online-BWL-Lexikon an: "Die Kultur eines Unternehmens beschreibt die gemeinsam gelebten und akzeptierten Werte innerhalb des Unternehmens, an denen sich das Handeln aller Beteiligten orientiert." [3] Kultur ist also anhand von Verhalten erkennbar. Eine agile Kultur müsste demnach gewisse Verhaltensweisen auszeichnen. Hohe Flexibilität in Bezug auf sich verändernde Rahmenbedingungen zum Beispiel. Oder eine enge Zusammenarbeit mit Kunden oder anderen Interessenvertretern, etwa in gemeinsamen Reviews.
Ich überlege, was helfen könnte, diese leeren Agilitäts-Blasen zu vermeiden…
Meine Aufmerksamkeit wandert kurz zum aktuellen Session-Pitch mit dem Thema: Zombie-Scrum und Cargo-Cult erkennen. Versucht das Universum mir hier eine Botschaft zu senden? Wie viele Unternehmen hatte ich schon gesehen, die regelmäßige Reviews mit Kunden durchführten, die aber alle Beteiligten als reine Zeitverschwendung ansahen? Wie viele Unternehmen hatten agile Rollen implementiert, um schnelle Entscheidungen treffen zu können, aber am Ende mussten sie doch auf die Leitkreisentscheidungen warten und waren zu spät. Zombie-Agilität in ihrer besten Form. Die Hülle ist vorhanden, aber sie ist nicht mit Sinn gefüllt. Gedanklich gehe ich noch einen Schritt weiter und überlege wieder, was helfen könnte, diese leeren Agilitäts-Blasen zu vermeiden…
Führen…
Ein zentrales Element, das in jeder Gruppe auftritt, die gemeinsam ein größeres Ziel verfolgt, ist das Thema der Führung. Führung gibt es immer, wenn Menschen zusammenkommen – sie entsteht auf ganz natürliche Weise. Wer glaubt, agile Organisationen benötigten keine Führung, hat etwas Grundsätzliches nicht verstanden. Auch oder gerade in Bezug auf selbstorganisierte Teams, wie man sie im Scrum-Umfeld einsetzt, spielt Führung eine wichtige Rolle. Die entscheidende Frage ist, nach welchen Prinzipien Führung gestaltet werden sollte.
Ein ganz großer Vorteil agiler Teams ist, dass sie eng mit den Interessensgruppen zusammenarbeiten, für die es ein Problem zu lösen gilt. Dementsprechend sollte ein agiles Team cross-funktional aufgestellt sein. Das bedeutet, alle Experten der Fachbereiche, die man für die Problemlösung brauchen könnte, in einem Team zusammenzubringen. Dieses Team kann nun das Problem angehen und eine schnelle und hochwertige Lösung bereitstellen. Soweit die Theorie. Denn natürlich kann das nur funktionieren, wenn das Team nicht für alles um Erlaubnis fragen muss, sondern entsprechend empowered ist. Ich nehme meinen virtuellen Buzzword-Bingo-Block zur Hand und kreuze das Wort Empowerment an.
Aber mal im Ernst: Um mit einer agilen Transformation erfolgreich zu sein, muss die Unternehmensführung Strukturen schaffen, die gewisse Dinge erleichtern. Und natürlich fällt dies naturgemäß einigen Führungskräften alles andere als leicht. Ich erinnere mich an einen guten Bekannten, der ein begnadeter Techniker und Problemlöser war. Er wurde genau aufgrund dieser Eigenschaften befördert. Als dann eine agile Transformation stattfand, tat er sich unglaublich schwer. Er traute dem Team nicht zu, das Problem so gut zu lösen, wie er es könnte. Der Psychologe in mir diagnostizierte eine große Angst vor Kontrollverlust. Das führte zu Micromanagement und sehr viel Unmut in den Teams und auch darüber hinaus.
Glücklicherweise erkannte der Geschäftsführer dieser Organisation, den ich der Gruppe der Agile-Game-Changer zuordnen würde, dass er mit seiner Führungsmannschaft auf ein Problem zusteuerte. Denn mein Bekannter war nicht die einzige Führungskraft, die Schwierigkeiten hatte, loszulassen. Die Lösung war eine recht elegante. Der Geschäftsführer sprach mit den Führungskräften und suchte mit ihnen gemeinsam nach geeigneteren Rollen im Unternehmen, die in vielen Fällen keine Führungsaufgabe mehr beinhalteten, sondern mehr Nutzen aus ihrer Expertise zogen. Natürlich gab es auch einige Führungskräfte, die das als Gesichtsverlust empfanden und nicht nachvollziehen konnten. Sie verließen das Unternehmen. Das ist nichts Ungewöhnliches bei solchen tiefgreifenden Veränderungsunterfangen – damit muss man rechnen.
Dem Geschäftsführer gelang es, mit seiner kommunikativen und doch sehr klaren Art, Strukturen zu gestalten, in denen sein verbliebenes Führungsteam zusammenwachsen und zur Keimzelle einer neuen Form der Zusammenarbeit im Unternehmen heranwachsen konnte. Ihm gelang es, partizipative Elemente zu etablieren, die andere Führungskräfte wiederum auch in ihren Abteilungen nutzten. So fiel es den Mitarbeitenden leichter, sich zu orientieren und in neuen Rollen und Verantwortlichkeiten wiederzufinden. Dabei verstand es der Geschäftsführer, situativ angepasst Führung vorzuleben. Zumeist involvierte er möglichst viele Mitarbeitende und ließ sie mitgestalten. Zuweilen nutzte er aber auch seine Entscheidungsbefugnis und traf auch schon mal harte Entscheidungen, die dann alle zu akzeptieren hatten.
Jetzt, wo ich an diese agile Transformation denke, muss ich feststellen, dass vielleicht doch nicht alles so düster aussieht. In dem Beispiel war der agile Kulturwandel recht eindrucksvoll gelungen, wenn auch nicht alles reibungslos verlaufen war. Und ich war mir sicher, dass es viel mit der Führung zu tun hatte.
Da, wo Menschen Strukturen gestalten, da gibt es auch Menschen, die in den Strukturen arbeiten müssen.
Da fällt mir ein Zitat ein, das ich bei Frederic Laloux gelesen hatte: "Es scheint eine allgemeine Regel zu geben: Die Bewusstseinsebene der Organisation kann nicht über die Bewusstseinsebene des Leiters der Organisation hinausgehen." [3] Das Beispiel schien das zu bestätigen. Wäre der Geschäftsführer nicht so klar in seiner Führung und in der Lage gewesen, entsprechende Strukturen zu gestalten und die Räume zu halten, dann hätte sich der Erfolg sicher nicht so leicht eingestellt.
…und Folgen
Ich denke weiter nach. Es war mir klar, dass der Grund für eine agile Transformation und die Etablierung einer entsprechenden Führungskultur ein wichtiger Faktor für erfolgreiche Kulturwandel darstellte. Aber da, wo Menschen Strukturen gestalten und in Führung gehen, da gibt es auch Menschen, die in den Strukturen arbeiten und folgen müssen.
Auch hier verändern sich viele – vielleicht liebgewonnene – Gewohnheiten. Ich habe häufig gesehen, dass den agilen Teams nicht klar war, warum sich die Dinge ändern. Warum sollten sie plötzlich mit Leuten zusammenarbeiten, die sie vorher kaum kannten? Warum musste alles im Team diskutiert werden? Wieso sollten jetzt Kunden alle zwei Wochen die Zwischenstände kommentieren? Das Schaffen von guten Strukturen allein reicht auch nicht aus, dachte ich. Es müssen auch alle Beteiligten die Notwendigkeit und Dringlichkeit verstehen. Ansonsten braucht man sich nicht wundern, wenn sie erst mal zurückhaltend oder sogar blockierend reagieren.
Aber halt! Ich habe keine Lust, mich mit den Negativbeispielen zu belasten. Also krame ich in den Tiefen meines Gedächtnisses und versuche mich zu erinnern, wie denn in dem Beispiel von meinem Bekannten die Dinge gelaufen waren... Dort hatte man Strukturen etabliert, an denen sich alle orientieren konnten. Ein wichtiger Schritt war eine gute Rollenklärung. Am Ende einiger langer Workshop-Tage stand dann eine klare Definition wichtiger neuer Rollen schwarz auf weiß zur Verfügung. Product Owner, Scrum Master, Developer, Manager und noch einige mehr. Wichtig war, dass in den Rollen Verantwortlichkeiten festgehalten wurden. Das ließ allen Beteiligten immer noch genug Spielraum, sich die Art der Zusammenarbeit selbst zu gestalten. Rollen und Verantwortlichkeiten steckten diesen Rahmen ab.
Nach einer Zeit der Umgewöhnung wurde auch die Zusammenarbeit im Team angenommen und geschätzt. Von Seiten der Organisation wurde das Team als kleinste zu adressierende Einheit wahrgenommen. Niemand trat also mehr an einzelne Spezialisten heran, stattdessen wurden Aufgaben über Backlogs an das gesamte Team herangetragen. Die Teammitglieder übten, ihre T-Shape-Kompetenzen zu erweitern. Das T steht für das Bild, dass nach wie vor jeder Experte in seinem Fachbereich ist (der vertikale Balken des T). Es versucht aber auch jeder, in angrenzenden Bereichen Wissen aufzubauen, so dass sich das Team gegenseitig unterstützen und Lastspitzen in einzelnen Bereichen abfangen kann (horizontaler Balken des T).
Zunehmend lernte das Team, sich auch selbst herauszufordern und seine Probleme selbst zu lösen. Wenn die Teammitglieder Konflikte untereinander hatten und damit zu ihren Managern gingen, dann boten diese nur ihre Unterstützung an, lösten die Probleme aber nicht. Nach einer Zeit hatten die Teams gelernt, diese Konflikte selbst anzugehen oder mit Hilfe von Scrum Mastern zu lösen. Auch das Feedbackverhalten im Team und darüber hinaus wurde direkter und zielführender, was sich auch in der Qualität der Arbeit widerspiegelte.
Die Führungskräfte waren da, um den Raum zu halten, den die Teams füllten. Natürlich fiel diese neue Kultur auch einigen Mitarbeitenden schwer. Sie waren es lange Zeit gewohnt, dass man ihnen genau sagte, was sie zu tun hatten. Und sie taten sich auch schwer damit, Verantwortung zu übernehmen. Hier waren die Teams gefragt, sich selbst zu organisieren und auf die Bedürfnisse aller Teammitglieder einzugehen.
Soft-Value-Kulturen und agiles Mindset
Mein Sitznachbar schreibt gerade einen Sessiontitel auf ein Post-it, den er sicher gleich pitchen möchte. Ich schaue neugierig darauf und lese "Vertrauen und Wertschätzung in der Kultur verankern". Dann steht er auf und stellt sich in die Schlange der Wartenden.
Vertrauen und Wertschätzung in der Kultur. Das klingt für viele wünschenswert, aber ist das der Nordstern, an dem Organisationen sich orientieren sollten? Ich höre das sehr häufig in der agilen Community. Ich versuche mich zu erinnern, wie das noch gleich in der agilen Transformation meines Bekannten war. Dort gab es neben der grundlegenden Veränderung im Führungsverhalten und der Kollaboration im Team auch weitere Kulturänderungen.
Der Geschäftsführer stellte Werte wie Transparenz, Offenheit und klare Prioritäten in den Vordergrund. Diese unterstützte er mit klaren Strukturen, die das gesamte Unternehmen auf Geschäftsprioritäten ausrichtete. Es wurde Transparenz darüber geschaffen, welche Initiativen man durchführen wollte und – mindestens genauso wichtig – zu welchen man Nein sagte. Das wurde dann auch offen kommuniziert, auch wenn es nicht allen Interessensgruppen gefiel. Dann führte man Strukturen ein, die die strategischen Ziele nachvollziehbar herunterbrachen. Dies geschah nicht einfach so, sondern wurde in einem partizipativen Prozess auf verschiedenen Abstraktionsebenen erarbeitet. So wusste jeder, was gerade am wichtigsten war und wie der eigene Beitrag dazu aussah.
Mein Bekannter hatte mir erzählt, dass diese klare Ausrichtung auch häufig zu schwierigen Diskussionen geführt hatte. Da wurden auch mal harte Worte angebracht. Der Geschäftsführer ermutigte alle Kritik zu äußern und forderte auch Kritik in seine Richtung ein. Mit der Zeit entstand so auch Vertrauen und Wertschätzung, weil man sich kannte und wusste, dass man gemeinsame Ziele verfolgte. Allerdings standen diese Soft-Values nicht im Mittelpunkt der Kulturveränderung, sondern entwickelten sich mit der Zeit.
Das ist gar nicht so selbstverständlich. Ich erinnere mich an ein Unternehmen, das sich als Ziel gesetzt hatte, eine wertschätzende und konsensorientierte Kultur zu etablieren. Das war dem Unternehmen gar nicht gut bekommen. Wenn jemand Kritik äußerte, wurde nicht inhaltlich darauf eingegangen, sondern fehlende Wertschätzung unterstellt. Wenn Entscheidungen getroffen wurden, trauten sich Führungskräfte nicht, dem endlosen Suchen nach einstimmigem Konsens ein Ende durch eine klare Entscheidung zu machen. Ich frage mich, was aus dem Unternehmen geworden war. Ich habe lange nichts mehr davon gehört.
Ich hoffe, die Führungsebene hat früh genug gemerkt, wie sehr die Kultur in eine Ideologie abgedriftet war. Ich habe das häufig im Rahmen von agilen Transformationen erlebt, vielleicht auch, weil die agilen Werte sich so gut auf Visions- und Kulturpostern machen, die man sich in Besprechungsräume hängen kann.
Da fällt mir wieder das agile Mindset ein. Ich habe mir angewöhnt, wann immer dieser Begriff fällt, nach einer Definition zu fragen, um zu verstehen, was andere darunter verstehen. Für mich war diese Definition am hilfreichsten: "Ein agiles Mindset ist ein dynamisches Mindset. Das beinhaltet die Überzeugung, dass jeder Mensch sich zu jeder Zeit entwickeln kann, wenn er sich dazu entscheidet. Es bedeutet auch, dass nichts in Stein gemeißelt ist, sondern alles ein Work-in-Progress. Nicht nur das Projekt, auch das eigene Mindset." [5]
Was mir hier so gut gefällt, ist, dass es nicht um Methoden geht. Es geht auch nicht um Soft Values. Agilität wird hier auch nicht als Zielbild gesehen, sondern als Eigenschaft des Mindsets selbst. Was es allerdings beschreibt, ist das wachstumsorientierte Mindset. Also die Grundannahme, dass Dinge veränderbar sind und man sich auch selbst weiterentwickeln kann. Ein solches Mindset ist sehr hilfreich im Zusammenhang mit einer agilen Transformation.
Agile Transformation als nie endender Tanz
Dann wird mir etwas klar: Wenn man dieses Mindset zu Grunde legt, dann wirft das auch ein ganz anderes Licht auf den Begriff der agilen Transformation. Was, wenn agil dabei gar nicht der Zielzustand wäre, sondern eine Beschreibung des Weges? Wenn also die Transformation selbst eine agile wäre, also anpassungsfähig, selbstreflexiv, partizipativ und gleichzeitig auf die wichtigsten Ziele der Organisation ausgerichtet. Agilität nicht als Zustand, sondern als Prozess.
Die Transformation als dauerhafter Zustand, in stetigem Tanz mit der Umwelt der Organisation.
Damit beschreibt es auch gleich die notwendige Kultur. Eine Kultur des Fehlermachens und des Lernens, des aufeinander Zugehens und des konstruktiven Destruktivismus, der Ära der Teams und der Einzelkönner, der Leader und der Follower. Die Transformation als dauerhafter Zustand, ganz agil, in stetigem Tanz mit der Umwelt der Organisation.
Und plötzlich ist sie wieder da, die Energie. Es ist nicht der naive Glaube, dass agile Methoden schon irgendwie erfolgreich sein würden. Es ist eine feste Überzeugung, die sich aus dem Zusammenspiel der Systeme und der Dynamik der Umwelt für mich ergibt. Natürlich scheiterten viele Organisationen bei dem Versuch, sich entsprechend zu transformieren. Oftmals bedingt durch Kurzfrist-Kapitalisten und Agile-Hippster. Aber da, wo es funktionierte, war es ein echter Game-Changer und mir fielen eine Reihe mutmachender Beispiele ein.
Ich greife nach einem Stift und einem großen, pinkfarbenen Post-it, das in meiner Nähe liegt. Dann notiere ich ein paar meiner Gedanken:
- Es sollte einen guten geschäftlichen Grund geben, eine agile Transformation und den Kulturwandel zu starten.
- Die Einführung agiler Methoden ist etwas, das die ganze Organisation betrifft, bis hin zum Führungsteam.
- Hilfreiche Strukturen zu schaffen, die an geschäftlichen Zielen orientiert sind, ist eine zentrale Aufgabe der Führung im Kulturwandel.
- Die Vermittlung der Notwendigkeit und die Involvierung der Beteiligten ist notwendig, damit die Mitarbeitenden den Wandel verstehen und akzeptieren können.
- Kultur sollte sich immer an der Wertschöpfung orientieren und diese unterstützen, Fokussierung auf softe Werte kann dysfunktional werden.
- Die agile Transformation macht dann am meisten Sinn, wenn man "agil" nicht als Zielzustand, sondern als Prozessbeschreibung versteht.
Ich nehme mir ein zweites Post-it, schreibe einen Titel für einen Sessionvorschlag darauf und stelle mich am Ende der Warteschlange an, um meine Session zu pitchen. Als ich an der Reihe bin, nenne ich den Titel: "Agil sein in einer komplexen Welt: Der Tanz der Organisation mit ihrer Umwelt".
- T. Zack: Agile Transformation: The Guide to Getting Started
- J. Sutherland, 2015: Die Scrum-Revolution – Management mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten Unternehmen
- BWL-Lexikon: Unternehmenskultur
- F. Laloux, 2015: Reinventing Organizations
- S. Hofert, 2018: Das agile Mindset – Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten
- C. Dweck, 2017: Selbstbild – Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt