Graphic Recording – Denken mit dem Stift
Software-Architekturen, agile Meetings, IT-Projektplanung – oft sind diese Themen komplex und schwer zu kommunizieren. Missverständnisse führen zu ineffizienten Meetings, langwierigen Entscheidungsprozessen und unnötigem Mehraufwand. Doch was wäre, wenn man Ideen und Prozesse direkt in Bildern festhalten könnte?
Graphic Recording ist eine Methode, um Diskussionen, Strategien und Abläufe visuell zu dokumentieren – live, während sie entstehen. Das Ziel dabei ist es, das sichtbar zu machen, was sonst nicht sichtbar wäre. Und die wichtigsten Botschaften als attraktives Bild für alle Anwesenden festzuhalten. Dieser Artikel erklärt, wie Graphic Recording funktioniert, welche Varianten es gibt und welchen konkreten Mehrwert es für IT-Teams bietet.
Graphic Recording: Was ist das?
Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Veranstaltung in Stuttgart. Sie hören den ganzen Tag zu, ohne etwas mitzuschreiben. Eine Woche später fragen Sie sich: Was waren die Kernaussagen? Welche Lösungsansätze wurden formuliert? An wie viel können Sie sich noch erinnern? Wahrscheinlich nicht an viel Konkretes – eher, ob es guten Kaffee gab oder ob Sie eine lustige Zeit mit Ihren Kolleg:innen hatten. Jetzt stellen Sie sich vor, es gibt eine Person auf der Veranstaltung, die live die Kernbotschaften mitschreibt. Sie schreibt wichtige Zitate mit, zeichnet dazu passende Bildmetaphern, gliedert und strukturiert alles optisch ansprechend mit Farben, Schriftarten, Symbolen. Am Ende ist das Wissen unterhaltsam, kreativ und nachhaltig in einer Art Poster zusammengefasst und wird den Teilnehmer:innen zur Verfügung gestellt. Das ist Graphic Recording.
Graphic Recorder:innen verfolgen unterschiedliche Ansätze, wie sie sich inhaltlich auf die Veranstaltung vorbereiten [1]. Generell findet jedoch im Vorhinein ein Briefing zwischen Veranstalter:in und Zeichner:in statt, in dem die wichtigen Rahmenbedingungen besprochen werden. So kann der/ die Graphic Recorder:in im Vorfeld mehr über das Ziel und die Zielgruppen der Veranstaltung, Kontexte, den zeitlichen Rahmen oder auch die geplante Integration des Graphic Recordings erfahren.
Wie funktioniert die Methode Graphic Recording?
Die Kernkompetenzen von Graphic Recorder:innen sind:
- Aktives Zuhören
- Visuelles Denken
- Schnelles und präzises Zeichnen
Der Dual-Coding-Theorie nach lernen wir Menschen besser, wenn verbale Informationen zusätzlich mit passenden Bildern kombiniert werden. Grund dafür ist, dass wir für diese unterschiedlich codierten Informationen verschiedene Verarbeitungskapazitäten haben [2]. Allerdings funktioniert das nur unter bestimmten Bedingungen. Denn das Lernen wird nur dann verbessert, wenn es nicht zu einer kognitiven Überlastung kommt. Hier kommt die Expertise der Graphic Recorder:innen ins Spiel. Visuelle Elemente sollten …
- … leicht verständlich und einprägsam sein.
- … für das Thema relevant sein und nicht ausschließlich der Dekoration dienen.
- … das Gesagte nicht einfach nur wiederholen, sondern zusätzliche Informationen ergänzen [3].
Der/die Graphic Recorder:in ist also vorbereitet durch die Rahmenbedingungen aus dem Briefing, hört aktiv zu und übersetzt die wesentlichen Aussagen des Gesagten in eine Kombination aus Wort und Bild. So entsteht während der Veranstaltung nach und nach das gesamte visuelle Protokoll. Wie das Bild am Ende aussieht, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab. Einerseits vom persönlichen Zeichenstil. Andererseits auch von der Vorbereitung, der verfügbaren Zeit auf dem Event, der Art des Recordings (digital oder analog), Corporate-Design-Vorgaben und so weiter.
Graphic Recording: Unterschiede und Varianten
Das klassische, analoge Graphic Recording findet auf großen Papierflächen statt, sogenannten Graphic Walls. Andere wiederum fertigen die Zeichnungen digital an. Dafür nutzen viele Graphic Recorder:innen ein Tablet mit Zeichenprogramm. Währenddessen sehen die Teilnehmer:innen die Zeichnung live auf einem Monitor oder projiziert per Beamer auf einer Leinwand. Fertigen Teilnehmer:innen während einer Veranstaltung im eigenen Notizbuch visuelle Notizen an, dann nennt man das Sketchnotes. Sketchnotes sind ebenfalls ein tolles Tool, um Informationen zu verarbeiten und sich selbst Inhalte zu merken. Davon profitieren besonders Studierende oder Schüler:innen [4].
Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Stift zu denken.
Ein bekanntes Beispiel für den erfolgreichen Einsatz von Sketchnotes ist Karina Viola Stoll. Die Graphic Recorderin ist durch ihre Sketchnotes bekannt geworden. Sie bringt einen wirtschaftlich-technischen Background mit und hat in einem Konzern Meetings in Sketchnotes festgehalten. Das sprach sich herum – denn wer möchte nicht, dass Ergebnisse anstatt in langen Texten in anschaulichen Bildern dokumentiert werden?
Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Stift zu denken. Beim Graphic Recording halten sich die Zeichner:innen eher im Hintergrund. Sie übernehmen die Funktion eines visuellen Protokollanten. Greift der/die Zeichner:in aktiv in den Prozess ein, dann nennt sich das stattdessen Visual Facilitation. Dabei moderiert der Visual Facilitator mit dem Stift, begleitet den Prozess und die Lösungsfindung einer Gruppe und macht Zusammenhänge sichtbar. Das kann besonders in Workshops oder Change-Prozessen helfen, indem komplexe Ideen direkt sichtbar und diskutierbar gemacht werden. Tatsächlich wurde das Graphic Recording selbst Ende der 1970er Jahre von Facilitators, also Prozessbegleiter:innen und Organisationsentwickler:innen, als Tool entwickelt [5].
Gerade bei langfristigen Planungen oder Veränderungsprozessen kann Visual Facilitation eine noch tiefere Wirkung entfalten. In solchen Fällen entstehen oft Strategiebilder. Mittels dieser Visualisierungen können zum Beispiel die Geschäftsführung und Mitarbeiter:innen sich vergewissern: "Haben wir von unserer Unternehmensvision das gleiche Bild vor Augen?" Je nachdem, welches Ziel mit der Grafik verfolgt wird, kann es eine Strategie-, Visions- oder Prozessvisualisierung sein.
Laut Graphic Recorder Benjamin Felis geht der Trend vermehrt zu partizipativen Formaten [6]. Das bedeutet, dass Teilnehmende zunehmend selbst in den Visualisierungsprozess eingebunden werden, anstatt nur zuzuschauen. In seinem Buch "Business as Visual" bietet Christian Ridder einen wunderbaren Überblick über die Arten der Visualisierung [7]. Angelehnt an seinen "Stammbaum der Visualisierungsarbeit" ist die folgende "Landkarte der Visualisierungen" entstanden.
Ziel des Graphic Recordings: Warum nutzen Unternehmen diese Methode?
Nachdem wir nun die verschiedenen Formen des Graphic Recordings betrachtet haben, stellt sich die Frage: Warum nutzen Unternehmen Graphic Recording?
Visuelle Protokolle erhöhen die Aufmerksamkeit und erleichtern das Verständnis.
Einerseits ist das Live-Zeichnen auf Events immer ein visuelles Highlight. Wer seinen Teilnehmer:innen also etwas Besonderes bieten möchte, setzt auf Graphic Recording, um Inhalte auf ansprechende Weise zu vermitteln. Gerade in Zeiten steigender Informationsflut suchen Unternehmen nach neuen Wegen, um Wissen effektiv zu vermitteln. Oftmals stellen sich Unternehmen die Frage: Welche Möglichkeiten gibt es, komplexe Inhalte greifbar zu machen? Durch treffende Visualisierungen können Projektstrukturen sichtbar und diskutierbar gemacht werden. Visuelle Protokolle erhöhen die Aufmerksamkeit und erleichtern das Verständnis im Vergleich zu reinen Textdokumenten. Das Gesprochene wird in verständlichen Bildern dargestellt. So werden während Meetings und Veranstaltungen Kreativität und Zusammenarbeit gefördert.
Durch den optischen Reiz wecken die Bilder bei den Teilnehmer:innen eine emotionale Bindung zu den Themen. Das menschliche Gehirn verarbeitet Bilder schneller als Text, wodurch eine stärkere emotionale Verbindung entsteht. Im Nachgang können Zuschauer:innen sich deshalb auch besser an die Inhalte erinnern – sie bleiben langfristig im Gedächtnis verankert. Deshalb profitieren auch diejenigen am meisten von den Recordings, die live im Entstehungsprozess dabei waren. Sie haben eine emotionale Bindung zu der Grafik [8].
Graphic Recording und Fachbezug: Muss ein:e Graphic Recorder:in tiefes Fachwissen mitbringen?
Oft gibt es Situationen, in denen unterschiedliche Zielgruppen zusammen an einen Tisch – oder zu einer Veranstaltung – kommen. Teilnehmer:innen bringen verschiedene Hintergründe und damit diverse Wissensstände mit. Ein Beispiel aus dem IT-Bereich ist die Zusammenarbeit zwischen Software-Entwicklern:innen und Fachabteilungen in einem Unternehmen, etwa bei der Einführung eines neuen ERP-Systems oder der Optimierung einer IT-Sicherheitsstrategie.
Während die IT-Expert:innen tief in der technischen Materie stecken, fokussieren sich die Fachabteilungen auf ihre spezifischen Geschäftsprozesse. Das kann zu Missverständnissen führen, wenn z. B. Entwickler:innen mit komplexen Fachbegriffen arbeiten, die für Nicht-Techniker:innen schwer verständlich sind. Hier hilft Graphic Recording, um Brücken zwischen den Beteiligten zu bauen: Durch gezielte Nachfragen können klare Visualisierungen für Anforderungen, Zusammenhänge und Ziele für alle greifbar gemacht werden. So entsteht ein gemeinsames Verständnis – eine wertvolle Grundlage für erfolgreiche IT-Projekte.
Graphic Recording trägt dazu bei, gemeinsames Verständnis zu schaffen.
Graphic Recorder:innen müssen also die Fähigkeit mitbringen, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten. Im Briefing klären die Auftraggeber:innen und der/die Zeichner:in, inwiefern Fachwissen nötig ist. Natürlich kann es vorkommen, dass die Materie so fachlich tiefgreifend ist, dass die Zusammenarbeit mit einem/einer visuellen Expert:in nicht möglich erscheint. Vielleicht ist Graphic Recording dann nicht das passende Tool, um das vorliegende Problem zu lösen. Eine Alternative kann darin bestehen, die Fachexpert:innen mit dem Stift so "fit" zu machen, dass sie selbst über Zeichnungen die Thematik darstellen und anhand dessen diskutieren können.
Expert:innen eines Fachgebietes tun sich oft schwer, ihr tiefgreifendes Wissen auf ein verständliches Niveau herunterzubrechen. Dabei zeigen Graphic Recorder:innen auf, wie verständlich die Inhalte für ein breiteres Publikum sind. Was versteht der/die durchschnittliche Teilnehmer:in? Werden Fachbegriffe zu kompliziert dargestellt oder fehlen zentrale Zusammenhänge? Und andererseits werden die wichtigsten Inhalte und Zusammenhänge so dargestellt, dass es leicht ist, einer Veranstaltung, einem Meeting oder einer Projektplanung zu folgen. So unterstützt Graphic Recording aktiv den Wissenstransfer in und zwischen Unternehmen und trägt dazu bei, Silodenken aufzubrechen und gemeinsames Verständnis zu schaffen.
Was passiert mit den Recordings danach?
Unternehmen können Graphic Recordings zur internen Dokumentation oder als Nachschlagewerk nutzen. Gerade in langfristigen Projekten sorgen die visuellen Protokolle dafür, dass wichtige Erkenntnisse nicht verloren gehen. Auch können Unternehmen die visuellen Protokolle in Präsentationen oder Whitepapers verwenden. Dort lockern sie textlastige Inhalte auf und sorgen für eine anschauliche Vermittlung der Kernbotschaften.
Besonders gerne nutzen Event-Veranstalter:innen Graphic Recordings für Social Media. Ein gut gestaltetes Recording ist nicht nur ein informativer Rückblick, sondern auch ein echter Blickfang für Posts, Stories oder LinkedIn-Artikel. Gerade in der heutigen digitalen Kommunikation steigern visuelle Inhalte die Reichweite und Interaktion. Wie die Recordings genutzt werden, hängt auch von der Zusammenarbeit mit dem/der Graphic Recorder:in zusammen. Je früher Organisator:innen ihre Wünsche und Anforderungen kommunizieren, desto gezielter kann das Recording auf die spätere Nutzung abgestimmt werden.
Graphic Recording und Künstliche Intelligenz & digitale Trends
Die Welle der generativen KI schwappt über die Welt. Auch Graphic Recorder:innen stehen vor der Frage, wie sich ihre Arbeit durch KI verändern wird. Fragen wie "Nutzt Du für das Recording KI?" oder "Wird KI Graphic Recorder:innen in Zukunft ersetzen?" tauchen immer häufiger auf. Doch wie weit ist KI in diesem Bereich wirklich?
Wolfgang Irber hat das direkt getestet. Graphic Recorder gegen KI – Mensch gegen Maschine. Wobei das nicht ganz stimmt. Es war wohl eher ein Aufeinandertreffen von Mensch allein und Mensch mit Maschine. Letzterer transkribierte die Vorträge live mittels KI, ließ die Transkripte von ihr zusammenfassen und auf dieser Basis schlussendlich ein Bild erzeugen.
Fazit
Die KI kann die Arbeit von Graphic Recorder:innen "noch" nicht ersetzen (Stand Juli 2024). Vor allem hinsichtlich dieser drei Bereiche stößt sie an ihre Grenzen:
- Bedeutung und Logik der erstellten Bilder
- Einbindung von Text im Bild
- Abbildung komplexer Themen hat KI
Was dagegen hervorragend funktioniert, ist die schriftliche Zusammenfassung langer Vorträge – auch in kurzen Absätzen – sowie die Erstellung bildgewaltiger Illustrationen in kürzester Zeit [9]. Durch die rasante Weiterentwicklung von Künstlicher Intelligenz ist aktuell nicht einschätzbar, ob und wann Graphic Recording vollautomatisiert durch KI ablaufen kann. Doch selbst wenn KI irgendwann inhaltlich stimmige Zeichnungen schneller und günstiger erzeugt – was passiert dann mit dem menschlichen Aspekt?
Gleichzeitig steht mit dem wachsenden Trend zu partizipativen Formaten die Frage im Raum, ob es zukünftig eine Nachfrage an KI-generierten visuellen Protokollen geben wird. Kann KI diesen Anforderungen gerecht werden? Vielleicht wird das reine "Protokollieren" durch KI ersetzt und Graphic Recorder:innen werden sich vermehrt Richtung Visual Facilitation bewegen. Denn in die Live-Zeichnungen der Graphic Recorder:innen fließen nicht nur Fakten, sondern auch zwischenmenschliche Emotionen ein. Letztlich stehen sich hier zwei Aspekte gegenüber: Kosteneffizienz durch KI versus emotionale, menschliche Komponente. Welche Priorität haben Emotionen und Interaktion in der Live-Dokumentation von Veranstaltungen? Denn echte Erlebnisse bleiben vor allem dann in Erinnerung, wenn sie uns emotional berühren.
- Persönliche Gespräche auf dem Ludwigsburg Graphic-Recorder-Gipfel, 09/2024
- Universität Osnabrück: Dual Coding Theory
- Lexikon der Psychologie: Theorie der kognitiven Belastung
- Dr. Wolfgang Irber: Kurse zu Sketchnoting & Visualisierung: Lernen Sie, mit dem Stift zu sprechen
- Der Unterschied zwischen Graphic Recording und Visual Facilitation
- Benjamin Felis: The Future of Graphic Recording to come!
- Christian Ridder, 2021: Business as Visual
- Dr. Wolfgang Irber: Was ist Graphic Recording, wie funktioniert es und warum?
- Dr. Wolfgang Irber: Mensch gegen Maschine: Kann die KI einen Menschen als Graphic Recorder ersetzen?