Paola Villarreal – gegen Vorurteile und Ausgrenzung
Träume sind ein Privileg
Geboren 1968 in Mexiko brachte sich Paola Villarreal bereits mit 12 Jahren autodidaktisch das Programmieren bei und nur drei Jahre später gestaltete sie eigene Webseiten. Bemerkenswert – 2018 wird ihr Engagement ausgezeichnet – sie zählte nun zu den "Innovators under 35 Latin America" des MIT Technology Review in spanischer Sprache.
Auf ihrer Website ist zu lesen, wie sie zu ihrem Engagement für Minderheiten und Schwache der Gesellschaft kam. Träumen und sich Ziele im Leben setzen zu können sieht sie als Privileg an. Für Villarreal ist klar, dass Menschen in Armut und Ausgrenzung nicht darüber nachdenken können, wie sie ihr Leben sinnvoll gestalten können, für sie geht es tagtäglich ums Überleben, um die Suche nach einer Bleibe und nach etwas zu Essen. Deshalb entschloss sich Villarreal, einen Teil ihrer Karriere als hochintelligente, gut ausgebildete Datenwissenschaftlerin und Systemprogrammiererin in den Dienst des öffentlichen Interesses zu stellen.
Data for Justice
Nachdem sie 2015, unterstützt durch Stipendien, ihren Wohnsitz in die USA verlegen konnte, wurde sie Mitglied der American Civil Liberties Union of Massachusetts. Bereits seit 1998 war Villarreal in Mexiko aktiv, um der Problematik nachzugehen, welche Folgen gesammelte Daten auf die Regierungen und auf die Privatsphäre in den USA und Mexiko haben.
Die American Civil Liberties Union of Massachusetts hat es sich zum Ziel gesetzt, Bürgerrechte zu schützen. Für diese Organisation schuf sie das Projekt "Data of Justice". Sie untersuchte mit Hilfe einer von ihr entwickelten interaktiven Karte die Aktivitäten der Polizei in Wohngebieten von Weißen und denen, in welchen eine große Zahl an Minderheiten (beispielsweise Latinos und Afroamerikaner) leben. Ihre Ergebnisse visualisierte sie auf dem Stadtplan von Boston. Und damit bewies sie gut nachvollziehbar einen engen Zusammenhang zwischen einer hohen Anzahl an Verhaftungen und betrügerischen Anschuldigungen wegen angeblichen Drogenbesitzes bzw. -verkaufs und Wohngebieten von Minderheiten. Aufgrund der Datenanalyse konnte die Identität der Justizopfer festgestellt werden und gelang die Aufhebung von über 20.000 ungerechtfertigten Schuldsprüchen.
Nationale Suchkommission
Villarreal ging noch weiter und engagierte sich bei der Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel der neueren mexikanischen Geschichte. Seit den 1960ern bis 1982 tobte in Mexiko der sogenannte "Schmutzige Krieg", ein Kampf zwischen den staatlichen Sicherheitskräften der diktatorisch herrschenden PRI (Partido Revolucionario Institucional) und linken Oppositionellen sowie Studentengruppen. Militär, Geheimpolizei und paramilitärische Banden verfolgten die Staatsgegner mit aller Gewalt – Internierungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Massaker, Folter sowie das spurlose Verschwinden von Verhafteten gehörten zu den von der Regierung geduldeten und auch gebilligten Maßnahmen. Tausende Menschen wurden Opfer dieser Willkür, das Schicksal vieler blieb unklar. Hinzu kamen repressive und oft nicht legale Maßnahmen der USA – unter dem Vorwand, Drogenkartelle zu zerschlagen – um durch Kontrolle über die mexikanische Regierung das Land als Bollwerk im Kalten Krieg zu nutzen. Der Drogenkrieg stellt bis heute eine ungelöste Problematik in Mexiko dar und Mitglieder der Drogenkartelle scheuen nicht vor Gewalt und Mord zurück.
Erst 2018 gelang es, mit der Suche nach den Verschwundenen (2022 offiziell über 100.000) zu beginnen. Eigens dafür wurde die Nationale Suchkommission geschaffen, für die Paola Villarreal ein Tool entwickelte, mit dem Informationen zu den Vermissten gesammelt und entsprechend analysiert werden können. So erhalten die Familien der Opfer Hilfe bei der Suche und der Identifizierung der Angehörigen, denn dies haben sie von der oft korrupten mexikanischen Polizei meist nicht zu erwarten. Nach dem Auffinden von über 1.000 geheimen Massengräbern wurden auch Forensiker zur Unterstützung der Aufarbeitung hinzugezogen.
Die Nationale Suchkommission ist eingebettet in die Ecosistema Nacional Informático (ENI), eine für jeden frei zugängliche Plattform, auf der man von Wissenschaftlern gesammelte, gespeicherte und analysierte Informationen lokaler und regionaler Art findet, um "Probleme von nationaler Relevanz an(zu)gehen." [1]
Seit 2019 ist Villarreal als Koordinatorin für Datenwissenschaften bei Conahcyt (Consejo Nacional de Humanidades Ciencias Y Tecnologías) tätig. Die Arbeit des Nationalen Rates für Wissenschaft und Technologie ist eng mit ENI verknüpft.
Paola Villarreals Engagement für soziale Gerechtigkeit mit Hilfe der Datenwissenschaft verdient hohen Respekt und ist in einem Land wie Mexiko nicht ohne Risiko. Und so wundert es nicht, dass sie 2019 in die Liste der BBC 100 Woman aufgenommen wurde. Diese Auflistung ist eng mit einer dreiwöchigen Reihe rund um die Problematik der gesellschaftlichen Rolle der Frau im 21. Jahrhundert verknüpft.
Weitere Informationen:
- Wikipedia: Paola Villarreal
- MIT Technology Review: Innovators under 35: Paola Villarreal
- Wikipedia: 100 Women (BBC)