Agile Denkfehler Nr. 2: Netflixisierung
Manager rätseln weiterhin, wie das Design eines veränderungsfähigen Unternehmens aussehen muss, das der digitalen Revolution gewachsen ist. Aus Unkenntnis wird versucht, erfolgreiche, veränderungsfähige Unternehmen zu imitieren, aber nicht verstanden, worum es wirklich geht: Wahlmöglichkeiten schaffen.
Der Traum
Es ist erstaunlich, über welch langen Zeitraum und mit welcher Intensität die Idee eines veränderungsfähigen Unternehmens diskutiert und mit ihr experimentiert wird. Ich selbst verfolge diese Entwicklung seit ca. 2005 und werde meinen Eindruck nicht los: Wir versuchen nach wie vor – ganz im Sinne des Zitats von Albert Einstein –, Probleme mit genau der Denkweise zu lösen, aus der sie entstanden sind.
Klassisch organisierte Firmen, die an ihre Leistungsgrenzen gekommen zu sein scheinen, suchen nach Mitteln, Wegen und Rezepten, um diese Grenze zu verschieben. So glaubt man, der Dynamik der digitalen Revolution gerecht werden zu können. Ein sehr weit verbreiteter Ansatz von Manager:innen und Unternehmer:innen ist folgender: Sie besuchen – oder besser: besichtigen – Unternehmen, denen Etiketten wie disruptiv, innovativ, Game Changer, Digital Native oder Start-up angeheftet wurden.
Bekannte Verdächtige wie Amazon, Google, Zalando, Facebook oder Apple tragen das ausgeprägte Image der Vorreiter zukunftsweisender Geschäfts- und Organisationsmodelle. Sie besitzen in der allgemeinen Wahrnehmung das Prädikat einer agilen Firma. Durch Besichtigungstermine bei diesen "Klassenprimi" oder Treffen zum Erfahrungsaustausch mit ihnen wird versucht, die erkennbaren Merkmale, Vorgehensweisen, Tricks und Kniffe abzuschreiben. Sie sollen der eigenen Organisation hinzugefügt werden. Diese Form des "Unternehmenserfahrungsaustausch-Tourismus" hat im Silicon Valley schon eine gewisse Tradition entwickelt, die international gepflegt wird. Und zusätzlich werden die Heldentaten und Paradigmenwechsel dieser Wunderkinder in unzähligen Büchern behandelt, erklärt und vermarktet.
Macht des Selbstbetrugs
Auffällig finde ich den Filter, den die gesammelten Beobachtungen und Wahrnehmungen durchlaufen. Dieser Interpretationsfilter ist vom zweckrationalen Imperativ des postmodernen Wirtschaftsdogmas geprägt: "Mehre den Profit und die Marktanteile Deines Unternehmens so effizient und effektiv wie irgend möglich!" Die mit Hilfe dieses Filters verstanden geglaubten Mechanismen werden engagiert übernommen und ohne kritische Reflektion im eigenen Unternehmen angewendet.
Das populärste Beispiel ist hier das Phänomen der Spotifizierung: Unternehmen sind davon überzeugt, dass der organisatorische Wechsel zu Tribes, Squads oder Gilden und die Umbenennung von Führungsrollen u. a. in Tribe Lead, Scrum Master und Product Owner dem Unternehmen die ersehnte Anpassungsfähigkeit verleiht. So wollen sie die angestrebten Profitabilitätssteigerungen und Effizienzgewinne sicherstellen. Faszinierend an dieser Vorgehensweise: Die Verantwortlichen der Firma Spotify sind davon überzeugt, dass das von ihnen entwickelte Organisationsmodell für andere Unternehmen wahrscheinlich überhaupt nicht geeignet ist.
Vom Klassenprimus abschreiben
Gehen wir auf einen weiteren Klassenprimus ein, der durch seine weltweite Expansion und sein schwindelerregendes Wachstum dem Streben nach Orientierung und der Suche nach Patentrezepten weiter Schwung verliehen hat: Netflix.
Alle Faktoren, die ablenken könnten, sollen aufgelöst werden.
Dieses Unternehmen zeichnet sich nicht dadurch aus, dass es seine Organisationsstruktur über Bord geworfen, Führungsrollen umbenannt oder Führungsebenen ausgedünnt hat. Es begründet seinen Erfolg auch nicht damit, eine hippe Methode zur Koordination von Teamarbeit eingeführt zu haben oder alle Mitarbeiter in SAFe oder Scrum zertifiziert zu haben. Das Unternehmen stellt sich aus meiner Sicht vielmehr eine einfache und zentrale Frage: "Was lenkt uns ab?" Die Autorin Erin Meyer und der Unternehmensgründer Reed Hastings haben das Buch "Keine Regeln – Warum Netflix so erfolgreich ist" veröffentlicht [1]. Darin beschreiben sie eindrücklich, mit welcher Konsequenz Management und Mitarbeitende an einer einzigen Aufgabe gearbeitet haben und arbeiten: Alle Faktoren, die jeden Einzelnen und jede Einzelne vom Fokus ihrer eigentlichen Zielsetzung und Aufgabenstellung ablenken könnten, sollen aufgelöst werden.
Unterschiede unterscheiden
So wurde als wesentlicher Faktor festgestellt, dass ein konstruktives und vertrauenswürdiges Miteinander aller Mitarbeiter:innen entscheidend dafür ist, dass kreative und wirtschaftliche Höchstleistungen möglich sind. Neid, Angst und Misstrauen sind Elemente, die ablenken und dazu führen, dass sich Mitarbeiter:innen nicht uneingeschränkt mit ihren fachlichen Problemstellungen und Projekten beschäftigen können. Denn so müssen Energie und Zeit darauf verschwendet werden, interne Reibereien und politische Spielchen abzuwehren. Diesen Faktor hat Amy C. Edmonson, die Management-Vordenkerin und Professorin an der Harvard Business School, in ihren Forschungsarbeiten unter dem Begriff "Psychological Safety" beschrieben. Darin belegt sie auch die Relevanz der Angstfreiheit als Amplifyer organisationsweiter Produktivität, Gesundheit, Resilienz und individueller wie organisationsweiter Anpassungsfähigkeit.
Bei Netflix wurden aber auch vermeintliche Kleinigkeiten überdacht, die für Ablenkung sorgten. Hausinterne Regelwerke und Richtlinien, wie die der Reisekosten, wurden vollständig neu definiert und in die Entscheidungskompetenz der Mitarbeiter übergeben. Anstatt eine Reisekostenrichtlinie zu erstellen, die keinerlei Lücken für Missbrauch ermöglicht und damit zwangsläufig ein bürokratisches und arbeitsintensives Kontrollmonster darstellt, wurde entschieden, dass jeder und jede Einzelne seine Spesen steuert. Und zwar nach der Maxime, das Geld des Unternehmens so auszugeben, als wäre es das eigene. Selbstorganisation und soziale Verantwortung für Unternehmen und Kolleg:innen schlagen Regelwerke, Richtlinien, Kontrollen und Sanktionen.
Die Reihe der Themengebiete, die im Laufe vieler Jahre der Unternehmensentwicklung sukzessive neu gedacht und praktiziert wurden, ist lang. So ist die Art und Weise, wie Gehälter berechnet werden, nicht daran gebunden, was üblich ist. Was zählt, ist, wie hoch das Gehalt dieser Mitarbeiter:innen bei der Konkurrenz wäre. Netflix zahlt dann entsprechend ein höheres Gehalt. So kann es seine Talentdichte, wie der damit adressierte Leistungsfaktor des Unternehmens genannt wird, steigern. Umgekehrt stellen sich Mitarbeiter:innen und Führungskräfte regelmäßig die sogenannte "Keeper-Frage". Über diese wird geprüft, ob das Unternehmen noch der richtige Einsatzort aus der jeweiligen Perspektive ist.
Und es geht noch weiter: Auch praktizierte Formen eines individuellen und kollektiven Feedback-Kreislaufs und das Lernen aus Fehlern sind Elemente, die kritische Adaptionen erfahren haben und auf das Gesamtkonto von Produktivität und Veränderungsfähigkeit einzahlen.
Individualität würdigen und nutzen
Was die internationale Expansion des Unternehmens angeht, hat Netflix vor allem zwei Elemente besonders konsequent umgesetzt und verfolgt: die Diversität der Belegschaft und die Würdigung kultureller Besonderheiten und Eigenschaften der Länder, in die expandiert werden soll. Der American Way of Life wird nicht als das Zentrum aller Überlegungen und Ideale angesehen, mit dem die Welt beglückt werden soll. Stattdessen werden nationale und sogar darin enthaltene regionalkulturelle Charakteristika aufgenommen und genutzt.
Das Headquarter weiß, dass es nicht alles weiß.
Die lokalen Teams in den Niederlassungen genießen das nötige Vertrauen und besitzen die Kompetenz, notwendige Angebote und Leistungen festzulegen. Netflix' Überzeugung ist, dass sie das entscheidende Wissen besitzen, um aus der Sicht ihrer eigenen Diversität eine fundierte und qualifizierte Entscheidung treffen zu können. Das Headquarter unterstützt alles und alle. Es weiß, dass es nicht alles weiß und schon gar nicht besser als die national tätigen Teams. Gerade das letzte Element ist aus meiner Sicht ein Paradigma, das Netflix von anderen international operierenden Konzernen grundlegend differenziert.
Wahlmöglichkeit statt Optimierung
Aber was machen wir jetzt mit diesen Beobachtungen oder Rezepten der Firma Netflix, die wir sogar aus einem Buch abschreiben können? Sollen wir als Manager:innen und Unternehmer:innen unsere eigene Organisation umstrukturieren und spotifizieren, wie eingangs beschrieben, oder doch lieber netflixieren? Oder sollen wir, ganz nach dem Motto "viel hilft viel", sowohl das eine als auch das andere praktizieren?
Mit diesem Dilemma kommen wir auf des Pudels Kern. Was ist nötig, um ein Unternehmen in den zukunftssicheren Zustand zu transformieren? Zuerst einmal muss man verstehen, worum es eigentlich geht.
Hier kann uns einer der klügsten und vielseitigsten Köpfe des 20. Jahrhunderts auf die Sprünge helfen. Er ermöglicht den Perspektivwechsel von der zweckrationalen zur, wie ich sie nenne, konsequenzrationalen Denkweise. Anstatt den Zweck die Mittel heiligen zu lassen, beschreibt Heinz von Förster in seinem ethischen Imperativ den zentralen Ansatz, der den Knoten platzen lassen kann [2]:
Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!
Als einfaches Beispiel genügt, dass lebenslanges Lernen in neuen Wissensbereichen und die Reflexion gewonnener Erfahrungen es uns ermöglichen, das Portfolio der individuellen Wahlmöglichkeiten ständig zu erweitern.
Was immer wir also, aus der hier verfolgten Sicht eines Wirtschaftsunternehmens, denken und welche Überlegungen wir in Handlungen umsetzen, soll sich nach der Frage richten: Steigert oder reduziert es unsere Wahlmöglichkeiten? Welche Konsequenzen hat eine Entscheidung auf uns als Unternehmen, unsere Mitarbeiter und auf unsere Umwelt? Eine auf Effizienz und Effektivität getrimmte Organisation hat im Vergleich dazu einen anderen Fokus: Sie soll eine definierte Anzahl an Wahlmöglichkeiten praktizieren und immer weiter optimieren. Schneller, billiger, weiter, höher, profitabler! Die Konsequenzen für die Wahlmöglichkeiten unseres Unternehmens und unserer Umwelt sind hier nachgelagert.
Wahlmöglichkeiten sind es aber, die unsere Handlungsfähigkeit, unser Repertoire an Möglichkeiten und Lösungswegen erhöht. Überspitzt beschrieben, kann ein Unternehmen bestehend aus Ingenieur:innen besonders gut Probleme lösen, die Ingenieur:innen mit ihren Fähigkeiten lösen können. Ziehe ich aber Physiker:innen, Mathematiker:innen, Biolog:innen, Soziolog:innen, Künstler:innen, Kaufmänner und -frauen und weitere Expert:innen hinzu, steigere ich die Varietät meine Fähigkeiten und damit auch meine Wahlmöglichkeiten.
Richte ich meinen Fokus darauf aus, die Wahlmöglichkeiten meines Unternehmens über seine Struktur, seine Arbeitsweise, die Art der Entscheidungsfindung, die Autoritätszuteilung und die Diversität der Belegschaft zu erhöhen, versetzte ich es zwangsläufig in eine andere Lage. So kann es die eigene Veränderungsfähigkeit steigern, die Zukunft sichern, die Gesundheit aller und vor allem der Umwelt berücksichtigen, da es sich immer auch über die Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst sein kann. Es nutzt nicht nur den fragilen Profit als Ausrichtung und Messwert.
Letztlich erreichen wir es über von Försters Imperativ auch, eine neue Denkweise zu verstehen, anzunehmen und zu praktizieren und durch sie neue Probleme zu lösen. Herzlichen Dank, Albert Einstein!
- Erin Meyer, Reed Hastings; 2020: Keine Regeln – Warum Netflix so erfolgreich ist
- Wikipedia: Heinz von Foerster